Die Crux mit den Diagnosen

Die Luftigkeit und scheinbare Willkür psychiatrischer Diagnosen ist oft bemängelt worden. Eine exakte Nomenklatur wird aber eine Illusion bleiben.

Die Illustration zeigt  eine bunte Vielfalt an Menschen, wie zum Beispiel eine Mutter mit ihrem Baby, ein spielendes Kind und ein Paar.
Diagnosen in der Psychiatrie: Eher vage als biologisch punktgenau – und trotzdem alternativlos. © Mario Wagner

Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d. h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns ist derzeit nicht möglich.“ Dieser Satz fasst den Stand der psychiatrischen Forschung zur Klassifikation psychischer Störungen treffend zusammen. Er stammt aber von keinem Zeitgenossen, sondern von Wilhelm Griesinger (1817–1868). Der spätere Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité schrieb ihn 1845 in sein Standardwerk über Die Pathologie und…

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über Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende.

Mehr als anderthalb Jahrhunderte später, zu Beginn der 2000er Jahre, trafen sich die Psychiater der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA). Ihr Ziel: Das Aufstellen einer Forschungsagenda für die nächsten Jahre und vor allem für die fünfte Auflage des weltweit einflussreichen Diagnosehandbuchs DSM, an dem die Vereinigung auch Millionen an Lizenzgebühren verdient.

Sammlung von Symptomen im Verhalten und Erleben

Ganz oben auf der Liste landete der Versuch, was noch in Griesingers Epoche „derzeit nicht möglich“ war, nunmehr möglich zu machen: die psychischen Störungen endlich aufgrund eindeutiger neuronaler Merkmale zu unterscheiden und zu diagnostizieren. Im Wesentlichen ging es dabei um Gehirnzustände oder Gene, die das Nervensystem beeinflussen. Körperliche Merkmale zur Diagnose, allgemein auch Biomarker genannt, gibt es im Rest der Medizin: zum Beispiel Antikörper im Blut, die auf eine Virusinfektion hinweisen, oder charakteristische Entzündungsmerkmale im Gehirn, die mithilfe bildgebender Verfahren die Diagnose einer multiplen Sklerose absichern.

Bloß die Psychiatrie steht ohne da. Einmal mehr wurde dies deutlich, als 2013, mit Jahren Verspätung, nach langen fachinternen Kontroversen endlich die fünfte Auflage des DSM erschien. Das Ergebnis: Für keine einzige der mehreren hundert darin unterschiedenen Störungen war das erklärte Ziel der biologisch fundierten diagnostischen Eindeutigkeit erreicht worden. Nach wie vor ist das Handbuch – ebenso wie das Kapitel über psychische Störungen im Diagnose­system ICD der Weltgesundheitsorganisation – eine Sammlung von Symptomen auf Ebene des Verhaltens und Erlebens der Menschen.

So sind beispielsweise für Depressionen – eine der häufigsten Störungen und mit schwerem Leiden für die Betroffenen und ihr Umfeld verbunden – negative Gefühle oder der Verlust von Interesse und Freude an den Aktivitäten des Lebens entscheidende Diagnosekriterien. Für die vor allem bei Kindern diagnostizierte Aufmerksamkeitsstörung ADHS sind Verhaltensweisen kennzeichnend: nicht aufpassen, viele Flüchtigkeitsfehler, Vergesslichkeit, zappeln, nicht leise spielen können, anderen ins Wort fallen.

Durch einen Orgasmus behandelbar?

Dass sich die Psychiatrie noch immer mit solchen eher vagen Aufzählungen behelfen muss, statt biologisch punktgenaue Diagnosen parat zu haben, macht sie immer wieder für gesellschaftliche Kritik anfällig: Ist ADHS eine Pseudodiagnose für schwer erziehbare Kinder oder eine echte Störung? Ist Burnout ein Phänomen unserer Zeit oder gab es das schon immer? Wo verläuft die Grenze zwischen Burnout und Depressionen? Wo die zwischen Depressionen und Angststörungen oder Schizophrenie? Ist Asperger eine eigene Störung oder nur eine Variante von Autismus?

Diese diagnostische Unsicherheit, bisweilen auch Willkür durchzieht die Geschichte der Psychiatrie wie ein roter Faden. Ein Extremfall: Der rassistische Arzt Samuel A. Cartwright (1793–1863) schlug allen Ernstes vor, bei entlaufenen Sklaven eine „Drapetomanie“ zu diagnostizieren, also eine pathologische Fluchttendenz. Dass ein Sklave nach Freiheit strebt, betrachtete man vor allem in den amerikanischen Südstaaten als eine offenkundig unnatürliche, krankhafte Regung.

Eine weitaus weiter verbreitete fragwürdige Diagnose war die Ende des 19. Jahrhunderts populäre Hysterie (siehe Heft 3/2018: Die Hysterie und ihre Erben). So dachte man, dass die vor allem bei Frauen auftretenden Bewegungsstörungen, Lähmungen oder Ausfälle von Sinnesorganen durch eine Heirat oder, wenn das nicht möglich war, durch das Auslösen eines Orgasmus behandelbar seien. Aus heutiger Sicht ist frappierend, dass „hysterische“ Symptome zeitweise sehr verbreitet waren.

Wechselwirkung zwischen Denkweisen einer Zeit und Diagnostik

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die multiple Persönlichkeitsstörung. In den 1970er Jahren kamen einige sensationelle Fälle dieser Störung in die Medien. Es erschienen Bücher, Filme, sogar ein Brettspiel über multiple Persönlichkeiten. In der klinischen Praxis stieß man fortan immer häufiger auf Patienten mit den Symptomen. Auch stieg die Anzahl der Persönlichkeiten, von denen sie berichteten, von anfangs zwei oder drei auf ein Dutzend und mehr. Um 1990 eröffneten in den USA „Split Bars“, in denen sich betroffene Menschen miteinander austauschen konnten.

Hysterie und multiple Persönlichkeitsstörung gingen zum Teil in der Diagnosekategorie der „dissoziativen Störung“ auf, wie sie in den heutigen Handbüchern zu finden ist. Sie werden auch nicht mehr in epidemischem Maße diagnostiziert. Diese Beispiele machen aber deutlich, dass es eine Wechselwirkung zwischen charakteristischen Erlebnissen oder Denkweisen einer Zeit und der psychiatrischen Diagnostik gibt.

In der internationalen psychiatrischen und psychologischen Fachwelt wurde noch bis in die 1970er Jahre Homosexualität als psychische Störung angesehen. Wissenschaftler und Kliniker versuchten gemeinsam, die Betroffenen durch Psychotherapie, Konditionierung mit abstoßenden Reizen, Elektroschocks oder in Einzelfällen gar Gehirnoperationen zu „therapieren“, das heißt in heterosexuelle Beziehungen zu bringen.

Homosexualität und Genderdysphorie

In den USA war es letztlich ein Votum der Führungsetage der APA, das feststellte, dass es sich bei Homosexualität um keine psychische Störung handelt. Ein ausschlaggebendes Kriterium war hier neben Druck durch öffentliche Proteste auch ein neues Verständnis psychischer Störungen: Diese müssten notwendigerweise mit subjektivem Leiden oder einer Funktionsstörung im Alltag einhergehen. „Sozial abweichendes Verhalten (zum Beispiel politisch, religiös oder sexuell) und Konflikte, die primär zwischen Individuum und Gesellschaft stattfinden, sind keine psychische Störung“, heißt es heute im DSM.

Dennoch geht die Diskussion darüber weiter, was als Störung anerkannt und in die Klassifikationssysteme aufgenommen werden soll. Die „Genderdysphorie“, früher Geschlechtsidentitätsstörung, die mitunter bei trans- und intersexuellen Menschen diagnostiziert wird, könnte bald verschwinden. Umgekehrt wird neuerdings im ICD-11 die Computerspielsucht (gaming disorder) als psychische Störung anerkannt. Ein anderer Versuch ist, als Konzentrationsdefizitstörung eine neue Variante von ADHS aufzunehmen. Eines der Symptome ist etwa, in langweiligen Situationen nicht aufmerksam und wach zu bleiben. Manche halten das vielleicht für einen Scherz. Doch immerhin widmete das Journal for Abnormal Child Psychology der angeblichen Störung im Jahr 2014 eine Sonderausgabe.

Sind psychische Symptome weniger real als Biomarker?

Solche Kapriolen laden geradezu ein, die Diagnostik psychischer Leiden ins Lächerliche zu ziehen. Doch bei allen Schwächen des bestehenden Systems, das Störungen anhand von Symptomen klassifiziert: Gibt es eine ernsthafte Alternative?

Bei der Suche nach einem exakten, objektiven Diagnoseschlüssel schwingt oft der Gedanke mit, psychische Symptome, Gefühle, Erfahrungen oder Verhaltensweisen seien weniger real als Biomarker. Das ist aber ein Trugschluss. Man müsste umgekehrt fragen: Wann haben Sie das letzte Mal, als Ihnen jemand „Ich liebe dich“ sagte, zum Beweis eine Aufnahme des Gehirns gefordert? Was sollte man auf so einem Bild überhaupt sehen? Sicher nicht die Liebe selbst.

Es ist eine allgemeine Eigenschaft des Psychisch-Mentalen, dass wir es uns in zwischenmenschlichen Interaktionen, im Verhalten, im Gespräch miteinander und vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund erschließen – und nicht auf Gehirnbildern oder im Genlabor. Natürlich kann es dabei zu Missverständnissen und Fehlern kommen. Messfehler und Mehrdeutigkeiten gibt es aber auch in den Naturwissenschaften.

Wirklich ist, was wirkt

Nach einem Bonmot des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper (1902–1994) ist wirklich, was wirkt. Und wir wissen aus der tagtäglichen Erfahrung, nicht nur von uns selbst, dass das Psychisch-Mentale wirkt: Menschen können aus Eifersucht ihren Partner ausspionieren, wegen einer Verletzung der „Ehre“ gewalttätig werden oder sich sogar im Vertrauen darauf in die Luft sprengen, in einem Jenseits dafür belohnt zu werden. Wer da behauptet, psychische Vorgänge seien nicht real oder würden nicht die Welt beeinflussen, dem muss unsere Gesellschaft als unbegreifliches Rätsel erscheinen.

Damit wird keineswegs eine immaterielle Seele vorausgesetzt. Nach allem, was wir wissen, ist ein funktionierendes Nervensystem in einem lebenden Körper Voraussetzung für unsere psychischen Prozesse. Wir können ferner davon ausgehen, dass es auch beispielsweise im Zustand der Depression Gehirnzustände gibt, die die dafür charakteristischen Erlebnisse und Verhaltensweisen in die Welt bringen.

Es ist aber etwas völlig anderes, diese Erlebnisse und Verhaltensweisen auf neurobiologischer Ebene diagnostizieren, also beschreiben zu wollen. Unserem Seelenleben kommt eine Komplexität und Tiefe zu, die ganz real für jeden von uns fühl- und erlebbar ist. Für sie gibt es aber schlicht auf Ebene von Gehirnnetzwerken, Nervenzellen, Molekülen und Atomen keine begriffliche Entsprechung. Daher kann das Psychisch-Mentale nicht auf die Neurobiologie reduziert werden.

Die Psyche ist wie die Mona Lisa

Vielleicht hilft eine Analogie beim Verständnis dieses Gedankens: Auch dieser Text könnte ohne Farbpunkte vor einem Hintergrund – sei es auf Papier oder einem Bildschirm – nicht existieren. Dennoch ist der Text nicht mit diesen Farbpunkten identisch. Vor allem lässt sich seine Bedeutung nicht durch das Erforschen der Punkte erschließen. Oder denken wir an ein Gemälde wie die Mona Lisa: Auch wenn es aus Leinwand und Ölfarbe besteht, die wiederum bestimmte molekulare Strukturen haben, lässt sich die Bedeutung oder gar Schönheit der Abbildung nicht auf Ebene der Moleküle nachvollziehen.

Wenn Wilhelm Griesinger 1845 schrieb, dass „wir vor allem in den psychischen Krankheiten jedes Mal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen“ haben und die Störungen letztlich durch anatomische Studien unterscheiden können werden, dann ist das der Aufbruchstimmung seiner Zeit geschuldet. Doch mehr als 170 Jahre später dürfte klar sein: Beim Verständnis und der Klassifikation psychischer Störungen ist das neurobiologische Paradigma eine Sackgasse.

Auch eines seiner anderen großen Versprechen, nämlich die Stigmatisierung psychischer Störungen abzubauen, hat es nicht eingelöst. Dass Menschen gesellschaftlich ausgegrenzt werden, weil sie auf bestimmte Art und Weise anders sind, hat auch die Hirnforschung nicht stoppen können.

Körperwesen mit Seelenleben

Der Mensch ist ein Körperwesen mit einem reichhaltigen Seelenleben. Prinzipiell lässt er sich physikalisch, molekular, genetisch, pharmakologisch, psychologisch, ökonomisch oder sozial beeinflussen. Psychische Störungen im Besonderen – so wie die Gesamtheit der psychisch-mentalen Vorgänge im Allgemeinen – sind aber komplexe und tiefe Phänomene mit einer Bedeutung, die sich nicht auf neurobiologische Vorgänge reduzieren lässt. Das Leiden der Betroffenen und ihre Einschränkungen im Alltag sind real. Das wissen wir gerade nicht durch naturwissenschaftliche Messungen, sondern durch Verhaltensbeobachtungen, Gespräche und intuitives Verstehen.

Wir werden bei den Diagnosen psychischer Leiden also auch weiterhin mit einer gewissen Unschärfe leben müssen. Psychische Störungen sind eben das: oft mit Leiden und Funktionsstörungen einhergehende psychische Vorgänge, die von Fachleuten zu einer bestimmten Zeit als nicht normal angesehen werden. Diese Fachleute können in vielen Fällen einem Hilfsbedürfnis begegnen. Sie verrennen sich aber auch immer wieder auf Irrwegen. Ihre Kategorien müssen daher permanent kritisch überprüft werden, um das Missbrauchsrisiko zu minimieren.

Vor allem muss aber die Perspektive der Betroffenen im Zentrum stehen, sowohl für die Fachleute als auch für die Gesellschaft. Das heißt, dass auch vieles, was als nicht normal angesehen wird, trotzdem zum reichhaltigen Seelenleben der Menschen gehört.

Stephan Schleim ist promovierter Kognitionswissenschaftler und assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande). In seiner Forschung geht es um den wechselseitigen Einfluss von Hirnforschung und Gesellschaft

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille