Die 39-Jährige schien geistesabwesend, als sie zu Bett ging. Am nächsten Morgen versuchte die Familie vergeblich, sie zu wecken. Neurologen probierten es mit kräftigen Schmerzreizen – Druck aufs Brustbein und auf das Nagelbett eines Fingers. Doch die Patientin blieb in ihrem komaähnlichen Zustand. Ihre Augen ließen sich nicht öffnen. Die Ärzte machten ein EEG, scannten sie in einem Magnetresonanztomografen und zapften Rückenmarksflüssigkeit ab. Sämtliche Tests auf alle möglichen Erkrankungen verliefen…
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möglichen Erkrankungen verliefen negativ. Organisch fehlte der Frau nichts. Nach fünf Tagen ging es ihr wieder besser. Doch dabei blieb es nicht: In den nächsten Jahren ereigneten sich immer wieder ähnliche Episoden. Dazwischen klagte sie über Müdigkeit, Migräne und Ängste.
Die im Handbook of Clinical Neurology erschienene aktuelle Krankengeschichte wirkt wie aus der Zeit gefallen. Vor hundert Jahren hätte sich die Patientin in bester Gesellschaft von reichlichen Schicksalsgenossen mit ähnlich bizarren Symptomen befunden. Ihr wäre eine Diagnose sicher gewesen, die heute nur noch als Schimpfwort existiert: Hysterie. Das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts gelten als ihre Epoche (siehe Kasten).
1980 verschwunden aus dem Diagnosesystem
Die Hysterie wartete damals mit einer verwirrenden Fülle von Symptomen auf. Unerklärliche Schmerzen, Krämpfe, Lähmungen, Gangstörungen, Blindheit. Viele Ärzte verzweifelten an der Hysterie, etwa im 17. Jahrhundert der Engländer Thomas Sydenham. „Die Krankheit nimmt eine Vielfalt unterschiedlicher Formen an, sie ist ein Chamäleon, das unablässig seine Farben ändert.“ Ihre Symptome waren für Sydenham darum nur Illusionen. Sie verbargen, was die Patienten nicht wussten oder nicht wissen wollten – über ihr Leiden, ihre Sexualität, ihre Geheimnisse.
Späteren Experten galt die Hysterie als „seltsames kulturelles Phänomen, zur Reife gebracht oder sogar geboren von den medizinischen und sexuellen Sitten des Viktorianischen Zeitalters“, wie Richard Kanaan von der University of Melbourne zusammenfasst. Damals war die Hysterie so verbreitet (oder die Diagnose so beliebt), dass angeblich jede zweite Frau zumindest manchmal von ihren Symptomen heimgesucht wurde – und daher viele für alle Fälle ein Fläschchen Riechsalz in der Handtasche mit sich führten.
Doch dann, Mitte des 20. Jahrhunderts, verschwand die Hysterie mit einem Mal. Scheinbar spurlos. 1980 strichen die Psychiater die Störung sogar aus ihrem offiziellen Diagnosesystem, dem DSM. Was war geschehen?
Wie sieht diese Störung heute aus?
Irgendwie schienen die Symptome in ihrer Theatralik aus der Mode gekommen und „unglaubwürdig“ geworden zu sein. Doch womöglich sieht die Krankheit heute nur anders aus.
Menschen, die früher vielleicht eine Hysterie entwickelt hätten, präsentieren ihr Leiden nun etwas anders und erhalten andere Diagnosen. Als eine Nachfolgerin gilt die histrionische Persönlichkeitsstörung – die Betroffenen liefern ähnlich dramatische Auftritte wie früher die als hysterisch Diagnostizierten.
Eine fünfzigjährige Architektin wird in eine Klinik eingeliefert, weil sie versucht hat, sich mit Tabletten umzubringen. Anlass war ein Streit mit ihrem Ehemann, einem Chefarzt. Er hat sich von ihr getrennt und lebt nun mit einer jüngeren Frau zusammen. Schon vorher hat sie mehrmals lautstark und mit Suiziddrohungen versucht, ihn zurückzugewinnen. Immer wieder ist sie in Ohnmacht gefallen. In der Klinik hält sie nachts die Ärzte mit Schwindelanfällen und dramatischem Weinen auf Trab.
Sabine Herpertz, ärztliche Direktorin der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, beschreibt diesen Fall in einem Lehrbuch. Die Patientin erhielt die Diagnose „histrionische Persönlichkeitsstörung“. Der Begriff ersetzt seit 1980 im Diagnosehandbuch DSM den der Hysterie. Er leitet sich ab von histriones, den schlecht beleumundeten Straßenschauspielern im alten Rom. Denn bei dieser Persönlichkeitsstörung steht von den vielen Seiten der alten Hysterie die dramatische Selbstdarstellung im Vordergrund, der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen. Bei Frauen kann das zu großem Aufwand für das eigene Aussehen und verführerischem Verhalten führen, bei Männern zu Machogehabe. Nicht selten haben die Betroffenen die Erfahrung gemacht, dass sie für solche Äußerlichkeiten Zuwendung bekommen. Ihr Selbstwertgefühl ist oft schwach entwickelt. Bei ihm setzt auch die Therapie an. Die Patienten sollen lernen, mit ihren Ängsten konstruktiver umzugehen.
Die histrionische Persönlichkeitsstörung ist wenig erforscht. Es ist nicht einmal klar, welchen Prozentsatz der Bevölkerung sie betrifft. Die Schätzungen reichen von 0,4 bis zu beachtlichen drei Prozent. Wegen dieser und anderer Unklarheiten droht der Störung daher das Schicksal ihrer Mutter, der Hysterie: die Abschaffung. Die Probleme der Betroffenen würden damit allerdings, wie schon damals, nicht verschwinden.
Beschwerden ohne Ursache
Wenn es nach der Zahl der Betroffenen geht, ist jedoch eine andere von der Hysterie abstammende Diagnose wichtiger. In der aktuellen Ausgabe des DSM heißt sie „somatische Belastungsstörung“. Die Patienten leiden an allen möglichen körperlichen Beschwerden, für die sich keine organische Ursache finden lässt. Zahllose Deutsche werden von solchen unerklärlichen Leiden geplagt, wie eine repräsentative Umfrage zeigt, die 2001 von den Professoren Winfried Rief und Elmar Brähler veröffentlicht wurde: 30 Prozent der Deutschen fühlten sich in den vergangenen zwei Jahren ernsthaft belastet durch Rückenschmerzen, 25 Prozent durch Gelenkschmerzen, 19 Prozent durch Kopfschmerzen, 11 Prozent durch Bauchweh, 12 Prozent durch Nahrungsmittel-unverträglichkeiten. Alles „hysterisch“?
Als seltener, aber keineswegs extrem selten erwiesen sich unerklärliche neurologische Symptome, die besonders deutlich an die alten hysterischen Beschwerden erinnern: Über Lähmungen oder seltsame Schwächungen von Teilen des Körpers berichteten zwei Prozent, bei ebenfalls zwei Prozent trat Stimmverlust auf, bei einem Prozent Blindheit, bei drei Prozent Taubheit, bei drei Prozent Gedächtnisverlust und bei zwei Prozent Krampfanfälle.
Die Diagnose für solche vermeintlich neurologischen Symptome heißt „Konversionsstörung“, so wie sie Sigmund Freud einst nannte. Freud glaubte, dass unterdrückte traumatische Erinnerungen und unterdrückte – oft sexuelle – Wünsche körperliche Symptome erzeugten. „Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, dass deren Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den Namen der Konversion vorschlagen möchte“, schrieb er.
Doch nicht nur Symptome, auch Diagnosen und psychiatrische Krankheitstheorien unterliegen der Mode. Weil viele der heutigen Diagnoseexperten an Freuds Herleitung zweifeln, trägt die Konversionsstörung seit kurzem in Klammern den Zusatz „Störung mit funktionellen neurologischen Symptomen“.
Zu dem Traumaspezialisten Richard Bryant von der University of New South Wales in Sydney kam vor einigen Jahren eine 51-Jährige, überwiesen mit der nicht ganz zeitgemäßen Diagnose „hysterischer Mutismus“. Die Frau sprach seit vier Jahren kein Wort, sondern schrieb auf, was sie sagen wollte. Doch ihr Sprechapparat war nicht geschädigt, sie konnte sogar singen. Auch sonst ergaben die zahlreichen medizinischen Untersuchungen: nichts. Bryant diagnostizierte eine Konversionsstörung.
Reden war eigentlich der Beruf der Patientin, sie hatte viele Jahre erfolgreich als Therapeutin gearbeitet. Doch vor ein paar Jahren hatte sie die Belastungen nicht mehr ausgehalten – den ständigen Ärger mit der Klinikbürokratie und die grauenhaften Erlebnisse, die ihr Soldaten von Kriegseinsätzen erzählten. Sie nahm sich sechs Wochen frei. Als sie wieder mit der Arbeit anfing, wurde ihre Stimme erst heiser, bis sie überhaupt nicht mehr sprechen konnte.
Bryant vermutete: Die Therapeutin hatte die Sprachlosigkeit unbewusst entwickelt, um dem Stress ihrer Arbeit zu entgehen, ohne das Gefühl haben zu müssen, ihre Patienten im Stich zu lassen. Bryant übte mit ihr, in der Therapie zu singen. Als das klappte, begann sie plötzlich mit ihm zu reden und konnte bald auch außerhalb der Therapie flüssig sprechen. Sie blieb allerdings depressiv, denn ihre Arbeit konnte sie nicht wieder aufnehmen.
In den Praxen von Neurologen haben viele Patienten solche funktionellen Beschwerden. Die Neurologische Klinik der Universität München fand 1990 bei neun Prozent ihrer Patienten keine organischen Ursachen. „Wir verzeichneten ein breites Spektrum psychogener Symptome, die sich nicht wesentlich von den verschiedenen Manifestationen der Hysterie unterschieden, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschrieben wurden“, hielten die Autoren um Thomas Lempert fest.
Theatralisches Leiden, Klagen über Beschwerden, für die sich keine medizinische Ursache findet – an Hysterie oder ihren modernen Nachfolgern Erkrankte sahen und sehen sich dem Verdacht ausgesetzt, sie täuschten Krankheiten nur vor. Doch das tun sie nicht, denn dann litten sie eben nicht beispielsweise an einer somatischen Belastungsstörung oder Konversionsstörung, sondern wären schlicht Simulanten.
Vor denen mussten sich die Ärzte allerdings wirklich in Acht nehmen. Gerade der Pariser Psychiater Jean-Martin Charcot, der im 19. Jahrhundert hysterische Fälle vor Fachpublikum gekonnt in Szene setzte, achtete stets darauf, dass die eigenwilligen Verhaltensweisen und Symptome seiner Patientinnen tatsächlich unwillkürlich waren und nicht etwa bewusst gesteuert wurden.
Er ging allerdings nicht so weit wie sein zur gleichen Zeit in den USA wirkender Kollege Weir Mitchell. Der besuchte mit seinen Assistenzärzten einmal eine bettlägerige Patientin in ihrem Klinikzimmer, wo sie wegen einer mysteriösen Lähmung lag. „Wird sie je wieder laufen können?“, fragte ein Adlatus bei der anschließenden Fallbesprechung im Flur. „Ja, in einem Moment“, erwiderte Mitchell. Schon flog die Tür des Krankenzimmers auf und die angeblich gelähmte Patientin rannte im Nachthemd den Gang hinunter, während Rauch aus ihrem Zimmer drang. „Himmel, was ist da los?“, rief jemand. „Ich habe das Bettzeug angezündet“, sagte Mitchell.
Ansteckende Symptome
„Hysterische“ Symptome sind ansteckend, auch heute noch. Selbst das, was früher als Massenhysterie bezeichnet wurde, gibt es immer wieder. Im Jahr 2011 entwickelten in der kleinen Stadt Le Roy im US-Bundesstaat New York 17 Mädchen und ein Junge der Highschool eigenartige Verhaltensweisen: Zuckungen, unkontrollierte Bewegungen, Stottern. Einige gaben seltsame Laute von sich. Die Experten sprachen wahlweise von Konversionsstörung oder psychogener Massenerkrankung – „eine andere Art, Massenhysterie zu sagen“, wie die New York Times erläuterte. Ein Jahr später gab es einen ähnlichen Ausbruch mit 24 betroffenen Schülerinnen und Schülern – ausgerechnet in der kleinen Stadt Salem in Massachusetts. 1691 waren in dem damals puritanischen Örtchen junge Mädchen in Krämpfe oder tranceartige Zustände verfallen. Der örtliche Doktor diagnostizierte Hexerei, 19 angebliche Hexen (vier davon Männer) wurden öffentlich aufgehängt.
Multiple Persönlichkeit: die neue Hysterie?
Zum Erbe der Hysterie gehört auch die schillernde dissoziative Identitätsstörung alias multiple Persönlichkeit. Zu dem Münchner Psychotherapeuten Bruno Waldvogel kam eine so diagnostizierte 33-jährige Patientin. Nach und nach wartete sie mit über zehn Persönlichkeiten auf – mit unterschiedlichem Geschlecht, individuellem Alter sowie verschiedenen Einstellungen und Charaktermerkmalen. Eines hatten alle gemeinsam: Sie waren blind, die Patientin erschien stets geführt von ihrem Blindenhund. Doch im vierten Jahr der Therapie konnte die Patientin in einer männlichen Identität plötzlich wieder einzelne Wörter erkennen und alsbald alles sehen.
Wie real solche verschiedenen Persönlichkeiten in einer Person wirklich sind, ist umstritten. Diese Patientin jedenfalls entpuppte sich als interessanter Fall. In Zusammenarbeit mit Universitätsmedizinern testete Waldvogel, wie ihr Gehirn reagierte, wenn ihre Augen auf ein Schachbrettmuster blickten. War gerade die sehende Person aktiv, zeigten sich in den per EEG abgeleiteten Gehirnströmen ganz normale Reaktionen. Doch wenn der Therapeut eine blinde Persönlichkeit in den Vordergrund rief, deutete nichts auf normales Sehen. Das zeige, dass schon die frühe Sehwahrnehmung gestört sei. Dies sei ein „überzeugender Beleg für die Existenz der dissoziierten Identitäten in einem eher biologischen Sinn“.
Wie psychologische Ursachen solche und andere Symptome der Nachfolger der Hysterie hervorbringen, das haben die Forscher auch über hundert Jahre nach Charcot noch nicht geklärt. Es gibt nur Spekulationen. Aber die alten Phänomene existieren auch heute noch, und zwar gar nicht so selten, egal wie die Krankheit gerade heißt. Oder wie es Richard Kanaan ausdrückt: „Die Hysterie ist tot, lang leben die funktionellen neurologischen Symptome.“
„Die Gebärmutter ist ein Tier“
Der Name der Krankheit leitet sich vom altgriechischen Wort für die Gebärmutter ab: hystera. Hinter der Namensgebung steckt eine absurde Theorie. Der Philosoph Platon hielt fest: „Die Gebärmutter ist ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange Zeit unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten.“ Die Vorstellung von der Gebärmutter als Ursache der Symptome hielt sich lange. Laut William Harvey, dem im 17. Jahrhundert lebenden Entdecker des Blutkreislaufs, überhitzt sie bei der „übertriebenen Abstinenz vom sexuellen Verkehr“, wenn „die Leidenschaft stark ist“. Später massierten englische Ärzte die Genitalien vor allem von Frauen der Upperclass, um „hysterische Paroxysmen“ hervorzurufen, die allerdings verdächtig nach Orgasmen aussahen.
Auftritt à la Charcot
Die große Zeit der Hysterie begann mit Jean-Martin Charcot, dem führenden klinischen Neurologen des 19. Jahrhunderts. Er machte die Pariser Klinik de la Salpêtrière zu einem Mekka der Nervenheilkunde – und die Hysterie zur Modekrankheit. Charcot führte die dramatischen Fälle der Kollegenschaft vor. Seine Patientinnen hatten beispielsweise eine stark geschwächte oder für Schmerzen unempfindliche Körperhälfte. Arme oder Beine verkrampften sich oder zappelten auf eigenartige Weise. Am berühmtesten war der arc de cercle. Dabei fielen die Patientinnen in eine solche Starre, dass ihr Körper einen Halbkreis bildete, während sie sich – Vorderseite nach oben – mit Armen, Beinen und dem Kopf auf dem Boden abstützten. Andere zuckten wie bei einem epileptischen Anfall.
Nicht wenige von Charcots Kollegen fanden allerdings, dass solche dramatischen Symptome in seiner Klinik merkwürdig häufig auftraten und wohl irgendetwas mit seinem Charisma zu tun hatten. Charcot behandelte mit Hypnose und stellte fest, dass seine hysterischen Patientinnen hervorragend darauf ansprachen. Der Arzt konnte die Symptome oft nach Belieben verschwinden lassen – oder erzeugen. Charcot und seinen Ärzten war nicht bewusst, „dass vor allem sie selbst durch ihre Erwartungen und Suggestionen“ die Ursache des „Tobens und Rasens ihrer Patienten“ waren, so der Neuropsychiater Jean-Pierre Luauté. Die Patientinnen richteten sich auch nach dem, was sie bei ihren Schicksalsgenossinnen sahen, berichtete Charcots Kollege Paul Briquet: „Die Hysterikerin ist eine Schauspielerin auf der Bühne, eine Künstlerin, aber sie trifft keine Schuld, denn sie weiß nicht, was sie spielt, sie glaubt aufrichtig an die Wirklichkeit der Situation.“ Das heißt nicht, dass die Patientinnen keine Probleme gehabt hätten. Doch wie sie ihre Probleme präsentierten, hing von den Reaktionen anderer ab. Und so verschwanden die ganz großen Auftritte, die Hysterie „à la Charcot“, wie Luauté sie nennt, mit Charcot, der 1893 starb.
„Peinliche Affecte“
Zu neuer Prominenz gelangte sie in Wien dank eines jungen Neurologen, der ein halbes Jahr bei Charcot studiert hatte und nach ihm seinen ersten Sohn Jean-Martin nannte: Sigmund Freud. 1895 veröffentlichte er mit Josef Breuer das Buch Studien über Hysterie. Darin findet sich etwa der Fall der Emmy v. N, „eine noch jugendlich aussehende Frau mit feinen, charakteristisch geschnittenen Gesichtszügen“. Sie litt unter „Zuckungen im Gesicht und an den Halsmuskeln“, verzog ihre Miene beim Sprechen „zum Ausdruck des Grausens und Ekels“, hatte Schmerzen im Gesicht, in den Händen und Füßen, und ihre Hände waren verkrampft. Sie konnte kein Wasser trinken, da sie sich sonst den Magen verdorben hätte, so ihre Angst.
Freud führte ihre Erkrankung darauf zurück, dass „bei ihr die peinlichen Affecte von traumatischen Erlebnissen unerledigt verblieben“: Schmerz über den Tod ihres Mannes. Groll auf ihre Verwandten. Ekel vor dem, was sie als Kind gegen ihren Willen essen musste. Angst „von so vielen schreckhaften Erlebnissen“. Auch unterdrückte sexuelle Wünsche spielen in Freuds Überlegungen zur Hysterie eine große Rolle. Schließlich schienen die seltsamen Verhaltensweisen der Patientinnen oft erotisch geprägt.