Eigentlich sollte es ein gemütlicher Nachmittag werden, ich hatte Kuchen mitgebracht, Camilles Lieblingskuchen. Es ist dann leider schnell sehr ungemütlich geworden. Ich saß auf der Küchenbank und sah Camille beim ausgiebigen Schimpfen und Umherstampfen zu. Weil Camille so außergewöhnlich groß und schwer ist, bebt, wenn sie schimpft und stampft, die ganze umstehende Welt – die Teller in Camilles Spüle, die Tassen in ihrem Schrank, sogar die Küchenbank.
Ich kenne Camille seit meiner Geburt, sie ist die beste…
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Schrank, sogar die Küchenbank.
Ich kenne Camille seit meiner Geburt, sie ist die beste und längste Freundin meiner Mutter. Sie stampfte und schimpfte, weil ab morgen eine Pflegerin zweimal täglich bei ihr vorbeischauen sollte. Camille empfand das als Affront, als dreiste Beleidigung, als Unverschämtheit. „Ihr habt ja nicht alle Tassen im Schrank“, sagte sie (Camille stammt aus Frankreich, und das mit den Tassen im Schrank ist ihre deutsche Lieblingsredewendung) und dass sie ihr Leben lang gut allein zurechtgekommen sei. Das stimmt. Camille hat nie mit jemandem zusammengelebt und fand das offenbar ein Leben lang schön.
Weil mir nichts Besseres einfiel, machte ich es schlimmer, indem ich ihr aufzählte, was in letzter Zeit alles passiert war: Wiederholt war Camille morgens nicht aus dem Bett gekommen und hatte dann stundenlang dagelegen, bis zufällig ihr Sohn vorbeikam („Das war nur wegen der Gemütlichkeit“, warf Camille ein, „ich hätte jederzeit aus dem Bett heraushüpfen können“), sie war mehrfach die Treppe heruntergefallen („Die halbe Treppe“, warf sie ein, „und auch nicht gefallen, sondern gepurzelt“, um dem Ganzen einen trügerischen Anstrich von Niedlichkeit zu geben), sie ist mit Kreislaufschwierigkeiten im Garten umgefallen („Sehr weich gefallen“, warf Camille ein, „auf die Hortensien“), sie hatte mehrfach den Herd angelassen und dadurch die umliegenden Topflappen in Brand gesetzt („Und wieder gelöscht“, warf Camille ein, „geistesgegenwärtig und sofort“).
Unsterblich?
Camille unterbrach das Umherstampfen, das Klirren und Beben hörte auf. „Dass ihr mir eine Pflegerin ins Haus holt“, sagte sie, „schmiert mir mein Altsein ins Gesicht.“ Sie baute sich vor mir auf. „Als würde mir das nicht sowieso schon täglich ins Gesicht geschmiert“, sagte sie, „jeden Tag werde ich mit meinem Altsein eingeseift, ungefähr so“, und dann packte sie einen angesengten Topflappen und drückte ihn mir ins Gesicht. Der Lappen roch faulig und brenzlig.
Als Kind habe ich Camille für unsterblich gehalten. Ich glaubte – vermutlich weil sie sie so riesig und schwer ist –, dass der Tod sich eines Tages ein Weilchen an ihr abarbeiten und dann achselzuckend aufgeben würde. Jetzt ist Camille eingeseift mit Altsein, und nicht nur die Pflegerin, sondern auch die ausbleibende Unsterblichkeit ist ein Affront, eine dreiste Beleidigung, eine Unverschämtheit.
Ich werfe Camille den Topflappen gegen ihre immense Brust. „Es ist doch nur, um dir zu helfen“, sage ich, und auch das ist falsch, denn Camille findet nicht, dass ich ihr helfen muss, sondern immer noch sie mir. Als ich ein Kind war, hat mich Camille wiederholt aus brenzligen Situationen befreit. Sie hat mich von einem Baum geholt – wegen ihrer Größe musste sie sich nicht mal auf die Zehenspitzen stellen, um mich vom Ast zu pflücken –, sie hat mich aus dem Wasser gezogen, als ich einjährig in einen Fluss gekrabbelt war, und sie hat, als mir als Dreijähriger ein Rottweiler laut bellend entgegenrannte, das Tier mit einem gezielten Faustschlag niedergestreckt. Ich könnte Camille jetzt vorhalten, dass das alles sehr lange her ist – aber das ist kein Argument, denn das Zeitgefühl möchte ich sehen, das alle Tassen im Schrank hat.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
Als anderntags die Pflegerin zum ersten Mal an Camilles Tür klingelte, waren meine Mutter und ich sicherheitshalber dabei; wir fürchteten um die Unversehrtheit der Pflegerin, wir hatten Angst, dass Camille sie mit einem gezielten Faustschlag niederstrecken könnte. Die Pflegerin war, im Gegensatz zu Camille, bester Dinge und winzig. „Sigrid mein Name“, sagte sie, „guten Tag, Madame Dubois.“ „Mademoiselle“, korrigierte Camille.
Camille stand in der Tür und bewegte sich keinen Zentimeter zur Seite. Sigrid senkte kurzerhand den Kopf wie ein Widder und quetschte sich an Camille vorbei. Es dauerte ein wenig, bis sie auf der anderen Seite wieder herauskam und lächelnd und leicht zerzaust im Flur stand. Camille musterte sie. Dann fragte sie Sigrid: „Wie kann ich Ihnen helfen?“, und Sigrid schien nicht zu finden, dass das eine seltsame Frage war. „Bei Französisch“, sagte Sigrid. „Das könnte ich Ihnen beibringen“, sagte Camille. „Oh ja!“, quietschte Sigrid und klatschte in die Hände und hüpfte auf und ab vor Begeisterung, als sei sie ein Kleinkind, das Camille von einem Baum oder aus einem Fluss gerettet hat, und kurz, aber nur sehr kurz machte ich mir Sorgen um die Vollständigkeit der Tassen in Sigrids Schrank.
Und so ist es jetzt: Sigrid konjugiert französische Verben, während sie die Füße in den Boden stemmt und Camille aus dem Bett wuchtet, sie hört sich Camilles Erläuterungen zum französischen Plusquamperfekt an, während sie Topflappen löscht, sie sagt Vokabeln her, während sie sich zwischen Camille und den Treppenabsatz wirft. Camille ist zufrieden, das sieht man ihr an. „Es ist ein Glück, dass Sigrid bei mir ist“, sagt sie, „sie braucht dringend Hilfe.“
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker