Shiva setzt den Hundeblick auf. Da das graue Fell um die Augen der Australian-Shepherd-Hündin mit einem braunen Streifen gekrönt ist, sieht man ganz deutlich, wie sich die inneren Augenbrauen dabei heben und zu einem Dach formen. Diesem herzerwärmenden Blick können wir Menschen einfach nicht widerstehen.
Das zeigt auch eine Studie von Juliane Kaminski, Kognitionsforscherin an der psychologischen Fakultät der University of Portsmouth in Großbritannien. Zusammen mit ihren Kolleginnen untersuchte sie das…
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Kolleginnen untersuchte sie das Verhalten von Hunden im Tierheim. Dabei beschränkte sie sich auf Hunderassen, die häufig dort landen: massige Hunde wie Pitbulls, Boxer oder Doggen.
Die Forscherinnen fragten sich, ob Hunde schneller ein neues Zuhause finden, wenn sie sich Fremden gegenüber auf eine bestimmte Weise verhalten, etwa mit dem Schwanz wedeln oder die Zunge hängen lassen. Doch nichts hatte einen Effekt – außer dem Hundeblick. Je häufiger ein Hund ihn aufsetzte, umso schneller wurde er adoptiert. Mit fünf Hundeblicken innerhalb von zwei Minuten blieb ein Hund im Schnitt 50 Tage im Tierheim. Hingegen zog er mit 15 Hundeblicken in derselben Zeit rund drei Wochen früher in sein neues Zuhause.
Uralte Vorliebe
„Wir Menschen bevorzugen Hunde, die den Hundeblick aufsetzen“, erläutert Kaminski. Unsere Vorliebe für diesen Blick sei uns vermutlich gar nicht bewusst und uralt. Wenn diese menschliche Schwäche für den Hundeblick tatsächlich schon immer da war, hatten Hunde, die ihre Augenbrauen häufiger auf diese Weise bewegten, einen Selektionsvorteil. Kaminski vermutet, dass sie von unseren Vorfahren seltener verscheucht oder öfter gefüttert wurden.
Doch warum spricht uns dieser Hundeblick so an? Warum weckt er in uns das Bedürfnis, uns dem Hund zuzuwenden? Irgendwie hat der Blick etwas Menschliches. Tatsächlich ziehen wir Menschen auf ganz ähnliche Weise die Brauen hoch, wenn wir traurig sind. Der Blick lässt die Augen des Hundes aber auch größer erscheinen und damit kindlicher – das sogenannte Kindchenschema löst bei uns eine Art Bemutterungsreflex aus.
Eine Studie mit hauptsächlich weiblichen Probanden bestätigte, dass wir bei Hunden große Augen bevorzugen, aber auch für andere menschlich wirkende Attribute empfänglich sind. Egal ob der Hundeblick das Tier nun trauriger, kindlicher oder menschlicher wirken lässt, eins ist klar: Wir springen darauf an.
Hinter dem Rücken des Menschen
Der uns beim Essen beobachtende Hund wartet möglicherweise nicht nur auf herunterfallendes Futter. Er wartet vielleicht auch darauf, seinen Hundeblick aufzusetzen, sobald Mann oder Frau zu ihm schauen. Wer weiß, ob dann nicht zufälligerweise noch ein Stück Wurst seinen Weg zum Boden findet.
Um das wissenschaftlich zu untersuchen, konfrontierte Kaminski 24 Familienhunde mit genau so einer Situation. Der Mensch hat etwas, das der Hund gerne möchte: Futter. Daraufhin lässt der Hund so ziemlich alle Gesichtsmuskeln spielen, die er besitzt: Er blinzelt, öffnet den Mund, spitzt die Lippen. Vor allem streckt er die Zunge heraus und setzt seinen Hundeblick auf. Doch: Das tut er auch, wenn ihm der Mensch ohne Futter in der Hand gegenübersteht. „Würde der Hund diesen Hundeblick manipulativ einsetzen, würde ich erwarten, dass er ihn verstärkt oder sogar nur dann einsetzt, wenn der Mensch auch Futter hat“, erläutert Juliane Kaminski. „Doch genau das haben wir nicht gesehen.“
Hunde setzen ihr bestes Druckmittel somit nicht gezielt ein. Allerdings nutzen sie diesen Blick nur dann, wenn sie die Aufmerksamkeit des Menschen haben. Ist dem Hund der Rücken des Zweibeiners zugewandt, zeigt er lediglich halb so viel Mimik – sogar wenn der Mensch ihm hinter dem Rücken Futter hinhält. So demonstriert die Studie auch, wie sehr Hunde auf Menschen fixiert sind.
Intensiver Blickkontakt für mehr Bindung
Shiva war noch blind, als sie zum ersten Mal auf dem Schoß ihres Frauchens saß. Sie war erst zwei Wochen alt. Seit die Hündin sehen kann, weicht ihr Blick nicht von Steffi Schmitt und ihrem Freund. Sie sucht regelrecht den Blickkontakt. „Heute starrt sie einen permanent an, wenn wir essen“, erzählt Steffi. „Manchmal auch nur aus Langeweile. Dann machen wir ein Blickduell.“
Intensiver Blickkontakt zwischen Hund und Frauchen ähnelt dem zwischen Mutter und Kind. In einer Studie aus Japan zeigte Miho Nagasawa mit ihrem Team, dass Hund und Frauchen vermehrt Oxytocin ausschütten, wenn sie sich lange in die Augen schauen – ein Hormon, das unter anderem für die Bindung zwischen Mutter und Kind entscheidend ist. Verabreichte man Hündinnen über ein speziell entwickeltes Nasenspray Oxytocin, suchten sie auch verstärkt den Blickkontakt zu ihrem Herrchen. Das wiederum ließ das Oxytocinlevel ihrer Besitzer in die Höhe steigen. Kein Wunder, dass Hunde nicht nur Haustiere, sondern Familienmitglieder sind.
Einige Forscher vermuten, dass Hunde im Laufe der Evolution den bereits bestehenden und gut funktionierenden Bindungsmechanismus zwischen Mutter und Kind für sich genutzt haben: Diejenigen Hunde, die den Kindchenblick beherrschten, hätten somit einen Überlebensvorteil gehabt. Demnach könnte der intensive Blickkontakt zwischen Hund und Mensch für die Entwicklung jener besonderen Beziehung zwischen beiden entscheidend gewesen sein, die sogar über die Artgrenze hinweg funktioniert.
Der Hund als soziales Werkzeug
„Dass sie den Menschen überhaupt so oft anschauen, ist etwas, das Hunde von Wölfen unterscheidet – selbst wenn diese mit der Flasche aufgezogen wurden“, sagt Juliane Bräuer, Kognitionsforscherin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Dieser Fokus der Hunde auf unsere Augen, eines unserer wichtigsten Kommunikationsmittel, brachte Hunden offensichtlich einen Vorteil. Aber nicht nur ihnen.
„Wir haben vor circa 33 000 Jahren einen Fleischfresser in unser Zelt gelassen“, erläutert Kaminski. „Einen, der das Potenzial hat, uns zu töten. Das ist ein enormer Preis, den wir zu zahlen bereit waren. Dahinter muss auch ein enormer Nutzen stecken.“ Obwohl die Anfänge des Domestikationsprozesses noch umstritten sind, glaubt Kaminski, dass Menschen Hunde schon sehr früh als eine Art soziales Werkzeug für verschiedene Tätigkeiten wie Jagen und Hüten benutzt haben. In diesen Kontexten war Kommunikation zwischen Mensch und Hund enorm wichtig – Augenkontakt mitunter entscheidend.
Wie wichtig der Augenkontakt für die Kommunikation mit dem Hund ist, demonstrieren mehrere Experimente. Wenn ein Hund die Wahl hat zwischen zwei Personen, von denen eine ein Buch vor der Nase hat oder mit dem Rücken zum Tier steht, wählt er in der Regel die andere Person. „Hunde hören auch auf bestimmte Befehle nicht so gut, wenn der Besitzer eine Sonnenbrille trägt“, sagt Kaminski.
Wie clever sind die Tiere wirklich?
Doch nicht nur das: Hunde können offenbar auch gut einschätzen, was ein Mensch sehen kann und was nicht. So stibitzen sie in der Regel etwas Essbares, wenn gerade niemand guckt. Erkennen Hunde somit, was ein Mensch gerade subjektiv wahrnimmt – klinken sie sich in dessen Perspektive ein? Das wäre eine reife kognitive Leistung. Oder haben sie einfach nur gelernt, brav zu sein, wenn die Augen des Menschen sichtbar sind? Kaminski hat untersucht, wie clever Hunde wirklich sind. Dazu verdunkelte sie den Testraum. Für Licht sorgten allenfalls zwei Lampen. Eine beleuchtete ein verbotenes Leckerli, eine den Menschen.
War es im Testraum komplett dunkel, schnappte sich so gut wie jeder der 28 Testhunde den Leckerbissen. Wenn nur eine Lampe brannte, wurden die Hunde zwar immer noch schwach. Sie zögerten aber länger, wenn das Futter beleuchtet war, der Mensch hingegen nicht. Bei ihrer Entscheidung, folgsam zu sein oder nicht, orientierten sie sich offenbar nicht an der Sichtbarkeit der menschlichen Augen, sondern daran, was für menschliche Augen sichtbar war.
Etwas Verbotenes essen: Danach sehen manche Hunde richtig schuldig aus. Als würden sie sich dafür schämen, dass sie ungehorsam waren, senken sie etwa den Kopf, legen die Ohren an oder klemmen den Schwanz ein. Shiva war das erste Mal für ein paar Stunden allein zu Hause, als sie ihr Plüschschwein zerlegte. Die Füllung lag in kleinen weißen Wolken im Wohnzimmer verstreut und das abgetrennte Bein direkt neben Shiva. Die Hündin blickte Steffi vollkommen unschuldig an. Und das, obwohl die Beweislage erdrückend war.
Reaktion auf wütendes Herrchen
Manche Hundebesitzer behaupten, sie könnten ihrem Hund auch ohne Besichtigung des Tatorts ansehen, dass er etwas angestellt hat. Ein britisch-kroatisches Team hat das mit 100 Hundehaltern überprüft. Anstatt zu warten, bis der Hund etwas anstellt, provozierten die Wissenschaftler den Gehorsam oder Ungehorsam. In Abwesenheit der Herrchen sorgten sie dafür, dass der Hund ein verbotenes Leckerli fraß – oder keine Chance dazu hatte. Im Anschluss sollten die Herrchen, basierend auf dem Verhalten der Hunde, ihr Urteil fällen: schuldig oder nicht schuldig? Wie sich herausstellte, konnten sie ihrem Hund die Schuld nicht ansehen. Denn in beiden Situationen gab circa die Hälfte an, ihr Hund habe ihren Befehl missachtet. Also: purer Zufall.
Alexandra Horowitz, Hundeforscherin am Barnard College in New York, wollte wissen, ob es diesen „schuldbewussten Hundeblick“ überhaupt gibt. Sie forderte 14 Hundehalter dazu auf, ihren Tieren zu verbieten, ein Leckerli zu fressen, und danach den Raum zu verlassen. Daraufhin nahm die Forscherin entweder das Leckerli weg oder ließ zu, dass der Hund es aß. Als die Hundehalter nach 20 Sekunden zurückkamen, erzählte Horowitz ihnen entweder, der Hund habe das Leckerli gegessen, oder sie sagte, er habe es nicht getan. Doch in der Hälfte der Fälle war das gelogen. Die angeblich oder tatsächlich unfolgsamen Hunde sollten nun von ihren Haltern zurechtgewiesen werden.
Es stellte sich heraus, dass die typischen „schuldbewussten Verhaltensweisen“ häufiger auftraten, wenn die Hunde eine Rüge bekamen. Dies geschah aber unabhängig davon, ob sie das Futter gefressen hatten oder nicht. „Oft zeigten sie das typische Verhalten sogar, bevor das Herrchen mit ihnen schimpfte“, erzählt Horowitz. Hunde reagieren somit auf den wütenden Blick des Menschen. Diesen Blick können sie gut von einem freudigen Gesicht unterscheiden, wie erst vor kurzem eine Studie erneut zeigte. Wenn ein Hund dann auch noch die Erfahrung gemacht hat, dass es Ärger gibt, wenn zerfetztes Klopapier im ganzen Haus herumfliegt, setzt er vorbeugend den bewährten Blick auf, sobald Herrchen heimkommt.
Hilf mir!
„Ich denke, wir überschätzen den Hund hier“, sagt Bräuer. „Ja, die Hunde merken: Der Mensch ist wütend. Und was machen sie dann? Sich unterwerfen. Nichts anderes tut jedes soziale Tier, wenn das Alphatier schlechte Laune hat.“ Horowitz weiß, warum sie das tun: „Es ist schlicht eine einfache Methode, eine geringere Bestrafung zu erzielen.“ Dass die Methode funktioniert, zeigte eine andere Studie: Fast 60 Prozent aller Teilnehmer gaben an, dass das „schuldbewusste“ Verhalten ihres Hundes dazu führe, dass sie ihn weniger streng bestrafen.
Hunde haben in den Jahrtausenden, die sie mit uns Menschen zusammenleben, ihre eigene Nische zwischen unseren Sofakissen gefunden. „Das war einfach Selektion“, sagt Kaminski. „Wir haben uns Hunde so lange zurechtgeschliffen, bis sie so wunderbar gepasst haben, dass sie für uns fast wie kleine Kinder sind, um die wir uns kümmern wollen.“
Dazu passt ein letztes Experiment aus Ungarn: Was machen handaufgezogene Wölfe und Hunde, wenn sie im Beisein ihrer Bezugsperson eine Box öffnen sollen, die dann plötzlich nicht mehr aufgeht? Die Wölfe geben alles, um an das Futter in der Box zu gelangen. Sie bleiben hartnäckig. Und was machen die meisten Hunde? Sie versuchen es eine Minute lang. Dann blicken sie ihren Menschen an. „Das klingt jetzt faul“, sagt Bräuer lachend, „aber das ist extrem adaptiv und hilfreich.“ Denn was der Blick bedeutet, ist klar: Hilf mir! Oder interpretieren wir da auch etwas hinein?
Literatur
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