„Ohne Musik würde der Mensch einen Teil seiner selbst verlieren“

Gäbe es die klassische Musik nicht mehr, die Gesellschaft wäre um eine Kraftquelle ärmer. Gerade diese Musik gibt Trost und Hoffnung in schwierigen Zeiten. Davon ist der Dirigent Kent Nagano überzeugt. Berührungsängste hält er für unnötig: Klassische Musik muss man nicht verstehen, um sie zu genießen

Herr Nagano, Musik kann uns ergreifen, anrühren, bewegen – woher hat sie diese Kraft?

Das ist das Geheimnis, das die Menschen seit der Antike bis heute in den Bann der Musik zieht. Es gibt viele wunderbare Erklärungen dafür: philosophische, psychologische, neurowissenschaftliche. Sie alle tragen dazu bei, dass wir dem Phänomen auf der Spur sind und der Sache hier näherkommen. Aber ob wir dieses Geheimnis irgendwann ganz lüften, die Musik dahingehend entzaubern können, wage ich zu bezweifeln. Musik kann…

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irgendwann ganz lüften, die Musik dahingehend entzaubern können, wage ich zu bezweifeln. Musik kann unsere Stimmung beeinflussen, sie ermöglicht uns Erfahrungen wie Trauer oder Freude, ohne dass diesen Emotionen tatsächliche Ereignisse vorangegangen sind – darin liegt ihre Macht. Darüber nachzudenken ist fast so faszinierend wie das Musizieren oder Musikhören selbst.

Können Sie erklären, warum das so ist?

Wenn wir über Musik nachdenken, dann stellen wir uns dabei immer auch Musik vor. Eine Sinfonie von Mozart, eine Oper von Verdi, vielleicht auch einen Popsong. Die Vorstellung von Musik ist angenehm, manchmal sogar noch schöner, als wenn wir sie tatsächlich hören. Das Gehirn kommt allein dadurch in Hochform. Würde man seine Aktivität scannen, könnte ein Neurowissenschaftler gar nicht genau sagen, ob tatsächlich Musik gespielt wurde oder sie nur im Kopf stattfand.

Warum versetzen uns gerade ästhetische Erfahrungen in die Lage, die Wechselfälle des Lebens und die immerfort damit verbundene Frage nach dem Warum leichter zu ertragen?

Künstler treffen in ihrer Kunst Aussagen über das Leben. Sie verhandeln die großen Themen, die uns alle umtreiben: Geburt und Tod, Freude und Leid, Konflikte und Versöhnung, Intrige, Eifersucht, die Hoffnung, grenzenlose Leidenschaft, die Liebe, immer wieder auch das verzweifelte Hadern des Menschen mit seinem Schicksal oder – wenn Sie so wollen – mit Gott. Das geschieht in der Malerei oder Bildhauerei genauso wie in der Literatur oder der Musik. Wenn man ein Bild anschaut oder malt, ein Gedicht liest, Musik hört oder sie selbst spielt, dann kann das ungemein tröstlich sein, weil wir spüren, dass wir mit unseren Sorgen und Nöten und dieser ewig währenden Frage nach dem Sinn unserer Existenz nicht allein sind.

Warum ist immer dann ernste Musik im Spiel, wenn wir mit unerträglichen Lebenslagen, Schicksalsschlägen und existenziellen Erlebnissen konfrontiert sind?

Genau aus diesem Grund. Die Musik von Bach zum Beispiel, diese perfekten Kompositionen, in denen nichts ungeordnet erscheint, weil der Komponist nichts dem Zufall überlässt, kann ein Gefühl der Geborgenheit in unser Leben bringen, eine Art mentalen Schutz, das Gefühl von Sinn und Ordnung in einer Zeit, in der wir etwas nicht verstehen. Oder die Klänge Olivier Messiaens, die so sphärisch sein können, so losgelöst von irdischen Dimensionen, dass man für einen Augenblick meint, einen Blick hinter die Sterne zu erhaschen. Offenbar brauchen wir solche Erfahrungen – gerade in schwierigen Lebenslagen. Sie geben uns Hoffnung, Kraft und die Möglichkeit, selbst in schier unerträglichen Situationen zu träumen. Wie arm wären wir Menschen ohne Träume!

In Ihrem Buch Erwarten Sie Wunder! finden Sie starke Worte für Ihren Traum. Es ist ein Plädoyer für die unbedingte Präsenz der Künste im Leben eines jeden Einzelnen, unabhängig von Bildungsstand und Herkunft. Was ist das Versprechen der Musik?

Musik hat viele Versprechen. Zwei will ich Ihnen nennen. Es ist das Versprechen der Teilhabe – in Zeiten einer individualisierten Gesellschaft, die vielerorts ihren Zusammenhalt verliert, ist das schon fast ein Modewort. Für eine musikalische Erfahrung braucht es im besten Fall drei Parteien: den Komponisten, der die Musik schreibt, die Musiker, die sie aufführen, und die Hörer, die sie vernehmen. Die gespielte Musik ist für die Hörer zunächst nichts anderes als ein akustischer Reiz. Der aber wird in den Gehirnen ihrer Rezipienten zu Musik verarbeitet. Die Hörer sind also ganz wichtig für die Entstehung von Musik. Als Dirigent ist das deutlich spürbar, wenn die Musik, die das Orchester gerade spielt, durch mich, den Dirigenten, regelrecht hindurch zum Publikum fließt und wir alle gemeinsam die gleiche Erfahrung machen. Sicher kennen Sie diese Momente äußerster Intensität im Konzertsaal, diese absolute Spannung und Wachsamkeit.

Hier kommt das zweite Versprechen ins Spiel: Im Moment dieser Erfahrung sind alle Menschen gleich, sie befinden sich auf Augenhöhe, soziale Unterschiede verschwinden, der millionenschwere Investmentbanker erlebt die Musik genauso wie jemand, der vielleicht gerade seine Arbeit verloren hat. Es gibt nicht so viele Momente, in denen soziale Grenzen, ethnische Herkunft oder Hautfarbe keine Rolle spielen.

Orchestersterben, alterndes Publikum, von Streichungen und Kürzungen ist schnell die Rede, wenn es um die klassische Musik geht, weil sie angeblich zu teuer oder nicht mehr zeitgemäß ist. Wie hat sich die Welt der Klassik verändert?

Die Welt der Klassik hat sich zu wenig verändert. Sie ist geschrumpft: weniger Orchester, weniger Publikum, weniger Menschen, die singen oder musizieren. Aber der Betrieb, also das, was man gemeinhin als das Klassik-Business bezeichnen könnte, ist noch immer der alte, als hätte sich die Welt in den vergangenen drei oder vier Jahrzehnten nicht radikal gewandelt. Das ist eigentlich das Problem. Die Musik wirkt mitunter wie aus der Zeit gefallen, manchmal fast museal – jedenfalls so, wie sie vielfach aufgeführt wird. Wir müssen sie wieder näher an die Lebenswirklichkeit der Menschen bringen und uns genau überlegen, wie wir um neue Hörer werben und sie davon überzeugen, dass diese großartigen Werke, die vor zwei- oder dreihundert Jahren geschrieben wurden, mit ihrem Leben etwas zu tun haben. Sonst wird die klassische Musik zu einer Liebhaberei bestimmter Gesellschaftsschichten verkommen. Und das darf nicht sein. Sie hat allen Menschen so viel zu sagen.

Der unausgesprochene gesellschaftliche Konsens über die Bedeutung der klassischen Musik für die Bildung bröckelt und scheint über Lippenbekenntnisse kaum mehr hinauszukommen. Musikunterricht spielt in der Grundschule kaum eine Rolle, in den PISA-Leistungsvergleichen kommen die Künste und besonders Musik gar nicht vor. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Sie bereitet mir große Sorgen. Wir leben in einer Welt, in der das Ökonomische alles überlagert, dieses permanente Kalkül von Einsatz und Erfolg, Anstrengung und Nutzen, Investment und Return, Risiko und Chance. Es ist so mächtig, dass sich Werte fundamental verschoben haben. An der PISA-Studie lässt sich gut erkennen, wie sich diese Werte weltweit ändern und unseren Kindern vorgelebt werden. Schneidet ein Land in Mathematik, Naturwissenschaften und Leseverständnis gut ab, dann gilt das Bildungssystem als ausgezeichnet. Allerdings liegt diesem Urteil ein bornierter Bildungsbegriff als Messlatte zugrunde. Da fehlen die Fremdsprachen, die wir in einer globalisierten und doch so zerstrittenen Welt dringend brauchen, damit wir andere nicht nur oberflächlich verstehen. Und es fehlen die Künste, die unseren Geist öffnen, uns inspirieren und in die Lage versetzen, kreativ zu werden, Fragen zu stellen, die in Zukunft relevant werden können, anstatt dauernd nur Antworten zu geben. Der Nutzen der Beschäftigung mit Musik ist allerdings nicht in Heller und Cent berechenbar. Deswegen hat die Musik es so schwer. Aber es gibt ihn – ganz unbestritten. Nur wissen wir nicht genau, in welcher Form und wann diese Musik ihre Kraft entfaltet. Wir sollten den Mut haben, uns der Obsession dieses ökonomischen Kalküls ein Stück weit zu entledigen. Denn ohne Künste und ohne Musik würde der Mensch einen Teil seiner selbst verlieren.

Droht uns musikalischer Analphabetismus? Wie könnte man gegensteuern?

Davon sind wir nicht mehr allzu weit entfernt. Das Gros der Kinder und vor allem der Jugendlichen heute wächst ohne klassische Musik auf. Sie wird noch nicht einmal gehört. Das ganze musikalische Erziehungssystem liegt darnieder. Es müsste wieder lebendig gemacht werden. Wenn diese jungen Menschen keine Berührung mit der großartigen Musik haben, wenn sie gar nicht wissen, dass es sie gibt, dann werden sie sich danach auch nicht sehnen. Und ihre Kinder werden in 20 Jahren wiederum ohne klassische Musik aufwachsen. Ist es fair, ihnen die tiefgreifenden Erfahrungen vorzuenthalten, die das Musizieren bereiten kann: den Spaß, die Entdeckung, den Stolz, auch die Kreativität und Erkenntnis, die daraus erwachsen?

Um gegenzusteuern brauchen wir eine gesellschaftliche Rückbesinnung auf die Künste, gute Lehrer und Menschen, die vor allem den jungen Leuten ihre Passion für die Musik vorleben. Es ist doch immer so: Der Glaube an eine Sache kommt auf zwei Beinen daher. Menschen können klug daherreden, viel eindrucksvoller ist, wenn sie tatsächlich leben, was sie predigen.

Spricht Musik auch zu dem, der sie nicht versteht? Anders gefragt: Gibt es eigentlich unmusikalische Menschen?

Das mag der eine oder andere von sich behaupten, aber es ist nicht wahr. Wir Menschen sind eine zutiefst musikalische Spezies. Mit Musik und Bewegung fing alles an, nicht mit der Sprache. Musik spricht zu allen. Manche ist leichter zugänglich als andere, der großartige Song Imagine von John Lennon vielleicht eher als eine Klaviersonate von Beethoven. Klassische Musik ist komplex, aber das muss man alles nicht unbedingt sofort verstehen. Eine Bruckner-Sinfonie kann Sie in eine andere Welt katapultieren, ohne dass Sie begreifen, was dort geschieht. Mit zunehmender Beschäftigung mit dieser Musik aber wachsen das Verständnis und der Genuss, Sie werden ein Musikstück immer wieder anders und neu erleben. Das ist die Klassik. Wenn Sie sich für sie ein bisschen anstrengen, werden Sie nie enttäuscht.

Was passiert im Gehirn, wenn Musik uns ergreift, bewegt und erfüllt?

Oh, eine ganze Menge. Das Faszinierendste ist, dass die Musik einer der wenigen Stimuli ist, die so gut wie unser gesamtes Gehirn aktivieren. Wenn man sich die Bilder der Gehirnaktivität anschaut, die nach einem Scan entstanden sind, während der Proband Musik gehört hat, dann leuchtet fast jede Region. Musik wirkt darüber hinaus wie eine Droge, sie initiiert Vorstellungen und Erlebnisse, die all die chemischen Reaktionen nach sich ziehen, welche uns Wohlbefinden oder Stress verursachen. Konkret gesprochen: Wir hören eine Melodie, die plötzlich eine ganz unerwartete Wendung hin ins Disharmonische nimmt. Das erstaunt uns oder ärgert uns vielleicht. Emotionen entstehen. Wir hören weiterhin gespannt zu und erwarten nun, dass uns der Komponist bald von unserem Unwohlsein erlöst. Und tatsächlich – da kommt der ersehnte Akkord, hell und strahlend, C-Dur, endlich, herrlich! Ah! Eine warme Dusche Dopamin ergießt sich in diesem Moment über das Gehirn.

Die Literatur, die Malerei und die Musik sind im Reich der Vorstellungen zu Hause, nicht in der Realität. Woher haben die Künste die Macht, unsere Imaginationskraft zu bilden, zu trainieren und Vorstellungen davon zu entwickeln, wie wir eigentlich leben wollen?

Wenn man einen Roman liest, taucht man in eine andere Welt, eine, die der Autor geschaffen hat. Dann vergleicht man sie mit der eigenen Realität, so wie das Gehirn es immer macht. Und schon passiert das, was für unser Überleben so unerlässlich ist: Wir entwickeln Ideen, Wünsche. Wenn am Ende der 9. Sinfonie von Beethoven Schillers Ode an die Freude erklingt, die eindrucksvollen Worte, so großartig vertont von Beethoven, dann wirkt das unmittelbar auf unsere Vorstellung. Es ist die Vorstellung der großen Utopie, dass Friede einziehen möge, der alle Menschen zu Brüdern macht. Eine Welt, die schon vor 3000 Jahren König David besungen hat in seiner Sehnsucht nach Eintracht. Aber es geht auch abstrakter, wenn Musik in ihrer semantischen Unbestimmtheit in uns Vorstellungen wachruft.

Was würde uns verlorengehen, wenn die klassische Musik verschwände?

Die Gesellschaft würde um eine Kraftquelle ärmer, sie würde an Inspiration einbüßen, an Geist, an Witz. Wir, diese musikalische Spezies, die wir nun einmal sind, verlören ein bedeutendes Mittel der Kommunikation, denn Musik ist Kommunikation. Es gäbe eine Möglichkeit weniger, etwas zu erfahren, das größer ist als man selbst. In unseren modernen Zeiten, in denen der Mensch voll der Hybris des Machbarkeitswahns verfallen ist, ist eine solche Erfahrung unendlich wichtig. Und wenn Sie mich ganz persönlich fragen: Ich würde etwas verlieren, das Sie in Deutsch mit dem wunderbaren Begriff Heimat umschreiben.

Im Berlin-Verlag erschien im Herbst 2014 das Buch: Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected, das Nagano zusammen mit der Journalistin und Autorin Inge Kloepfer verfasst hat.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2015: Muss ich perfekt sein?