Die Supertasker

Manche Menschen können mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen. Ihr Geheimnis: Unwichtiges ignorieren. Doch das hat einen Preis.

Einige Menschen sind einfach besser im Multitasken, aber es gibt Kniffe, das zu üben. © Michelle Thomas/EyeEm/Getty Images

Als die Ausstrahlung beginnt, ist Joe Perota kein normaler Mensch mehr. Perota ist Regisseur einer Liveshow. Während sich die Zuschauer zu Hause von Sendungen wie Saturday Night Life oder Monday Night Football unterhalten lassen, steht er im Kontrollraum vor einer Wand von Monitoren und entscheidet darüber, was Amerika sieht. Die meisten Menschen würde in dieser Situation die schiere Panik packen, doch Perota ist ganz in seinem Element. Er grinst, bei jeder Pointe lacht er laut auf, und obwohl er Unmengen…

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Perota ist ganz in seinem Element. Er grinst, bei jeder Pointe lacht er laut auf, und obwohl er Unmengen von Informationen aufnehmen und in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen treffen muss, ist er kein bisschen gestresst.

Perota gehört höchstwahrscheinlich zu der kleinen Gruppe von Menschen, die der Kognitionspsychologe David Strayer von der Universität Utah Supertasker nennt: jemand, der zwei aufmerksamkeitsfordernde Aufgaben gleichzeitig erledigen kann, ohne Fehler zu machen oder zu pausieren. Die Existenz solcher Supertasker kam für Strayer überraschend. Seine Experimente hatten nämlich gezeigt, dass wir zwar von uns denken, mehrere Aufgaben auf einmal stemmen zu können – in Wirklichkeit davon aber weit entfernt sind. Wir werden langsamer oder straucheln.

Mythos Multitasking

Für die allermeisten von uns gilt: Unser Gehirn fährt nicht mehrgleisig. Stattdessen springen wir zwischen den Aufgaben hin und her und belasten damit unsere Aufmerksamkeit und das Gedächtnis. Wer während des Autofahrens mit dem Handy telefoniert, lenkt sich ähnlich stark ab, als hätte er zwei oder drei Gläser Alkohol intus.

Vor ungefähr fünf Jahren stieß Strayer jedoch auf eine Ausnahme. Er leitete ein Experiment, in dem die Versuchspersonen einen Autosimulator fuhren, während sie sich eine Wortreihenfolge merken sollten, die gleichzeitig an mathematische Aufgaben gekoppelt war. „Das war wirklich schwer“, sagt Strayer. Wenig überraschend: Die meisten Probanden fuhren ihrem Vordermann hinten auf und hatten Schwierigkeiten, das Zahlenspiel zu lösen. (Dank solcher Studien ist das Tippen von Nachrichten auf dem Handy während des Fahrens verboten.)

Als er die Daten auswertete, stieß Strayer auf einen Teilnehmer, der alle drei Aufgaben auf einmal bewältigen konnte – fehlerlos. Eine Panne im Programm? Betrug? „Nein“, sagt Strayer, „diese Person war einfach phänomenal.“ Bei weiteren schweißtreibenden Tests fand der Forscher heraus, dass gut 2,5 Prozent der Probanden über diese außergewöhnlichen Fähigkeiten verfügten. Sie waren schlicht und einfach nicht überfordert. Tatsächlich wurden einige sogar besser, wenn sie doppelt beansprucht waren. Ein paradoxes Phänomen, das Strayer auch bei Athleten oder Musikern zu beobachten glaubt, die gerade unter den schwierigsten Bedingungen zur Höchstform auflaufen.

Die menschlichen Fähigkeiten, aufmerksam zu sein, Entscheidungen zu treffen und Informationen zu verarbeiten, sind seit jeher individuell unterschiedlich ausgeprägt, doch die Supertasker unterscheidet etwas Grundlegendes. Sie sind Sonderfälle. Mithilfe von Scans konnte Strayer beweisen, dass ihre Gehirne besonders effektiv funktionieren. Trotz ihrer mentalen Höchstleistung zeigte eine der beanspruchten Gehirnregionen einen geringeren Stoffwechsel, als es bei einer normalen Person der Fall gewesen wäre. Strayer glaubt, dass Supertasker den Engpass an Kapazität umgehen können, der die Mehrheit der Menschen daran hindert, mehr als eine Sache gleichzeitig richtig zu machen.

Noch arbeitet Strayer daran, die besonderen Fertigkeiten von Supertaskern zu erforschen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine einzigartige Mischung aus fokussierter Aufmerksamkeit, Erinnerungsfähigkeit und Immunität gegen Ablenkung. Strayer definiert Supertasking als die Fähigkeit, zwei aufmerksamkeitsfordernde Aufgaben ohne Leistungseinbuße gleichzeitig zu lösen.

Ist kognitive Kontrolle der Schlüssel?

Dieses Talent mag von außen komplex erscheinen, Forschungen von Adam Gazzaley von der Universität San Francisco legen aber nahe, dass ihm vor allem eines zugrunde liegt: kognitive Kontrolle. Sie wird von Gazzaley als die Fähigkeit beschrieben, mit der Außenwelt sehr viel zielgerichteter zu interagieren als normal. Stimuli fließen nicht einfach in unser Gehirn, erklärt er. Wir selektieren, was hineingelassen wird, indem wir unsere Aufmerksamkeit regulieren. Und was Strayer einen Supertasker nennt, ist aus diesem Blickwinkel ein kognitiver Türsteher der Extraklasse: eine Person, die ganz genau aussucht, welche Informationen eingelassen werden und was ausgeblendet wird.

Denn mit mehreren Aufgaben zu jonglieren, ohne sich einen Fehler zu leisten, basiert nach Gazzaleys Ergebnissen auf dem Vermögen, Ablenkungen zu ignorieren – den abschweifenden Tagtraum etwa oder das Geplapper eines Arbeitskollegen. Je besser wir solche Ablenkungen ausblenden, so Gazzaley, desto besser können wir unterschiedliche Inputs fehlerfrei verarbeiten.

Bei einem seiner Experimente sollten sich jüngere und ältere Probanden zwei Gesichter einprägen und gleichzeitig Bilder ignorieren, die eine Landschaft zeigten. Danach wurde ihnen ein weiteres Gesicht präsentiert, das möglicherweise zu einem der ersten beiden passte. Jüngere schafften es eher, zu bestimmen, ob die Gesichter zusammenpassten. Gehirnscans legen nahe, dass dies der Fall war, weil ihnen das Ignorieren der Landschaftsbilder leichter fiel. Während die Landschaftsaufnahmen gezeigt wurden, war die Gehirnregion für visuelle Reize bei den Jüngeren quasi außer Betrieb, als hätten sie die Bilder gar nicht gesehen. Die Älteren hingegen nahmen die Bilder wahr – und Gazzaley nimmt an, dass dieser Dateneingang den Denkprozess beeinträchtigte.

Seine Forschungen lassen Erinnerungslücken in einem neuen Licht erscheinen: Vielleicht sind sie gar keine Folge einer nachlassenden Gedächtniskraft, sondern das Ergebnis von zu viel Ablenkung. In einem weiteren Experiment ließ Gazzaley seine Probanden Bilder anschauen, an deren Details sie sich erinnern sollten, während neue Aufnahmen gezeigt wurden. Auch hier beeinträchtigte der visuelle Stimulus die Leistung: Die Probanden erinnerten sich genauer, wenn sie die Augen schlossen oder stattdessen auf eine leere Fläche schauten. Und auch Hintergrundgeräusche wie in einem Restaurant haben einen Einfluss auf unsere Leistung.

Schon die kleinsten und alltäglichsten Ablenkungen hemmen also unser Erinnerungsvermögen. „Es zeigt, wie extrem sensibel unsere Gehirne auf die ganz normalen Eindrücke um uns herum reagieren“, sagt Gazzaley.

Wie umgehen Supertasker die Schwachstellen des Verstandes?

Der Versuch, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, erhöht den Informationsfluss und verursacht Interferenzen. Wenn wir von einer Aufgabe zur nächsten wechseln, dabei unsere Aufmerksamkeit an- und abstellen, blockieren sich die Informationsströme gegenseitig. Das Ergebnis ist ein Verlust an kognitiver Kontrolle – und in der Folge kommt es zu Fehlern, wie sie Strayer dokumentiert.

Dennoch zeigen uns Supertasker, dass man die Schwachstellen des Verstandes umgehen kann. Strayer nimmt zwar an, dass Supertasking einen genetischen Ursprung hat, doch jüngere Ergebnisse sprechen dafür, dass zumindest einige der Fähigkeiten erlernbar sind, etwa die Resistenz gegen Zerstreuung. Was den Ausnahmetalenten von Natur aus zukommt, kann geübt werden. Die meisten Menschen können lernen, sich besser zu konzentrieren und weniger auf Ablenkungen zu reagieren.

Einige der spannendsten Ergebnisse dazu kommen von Gazzaley. In einer jüngeren Studie sollten über 80-jährige Versuchspersonen in einem Videospiel Auto fahren und dabei bestimmte Verkehrszeichen identifizieren, andere jedoch ignorieren. Nach einigen Runden verbesserte sich die Aufmerksamkeit der betagten Teilnehmerinnen und Teilnehmer – und zwar so sehr, dass sie sogar besser waren als 20-Jährige, die nicht geübt hatten. Auch ihre Erinnerungswerte verbesserten sich; was die Vermutung nahelegt, dass Training durchaus ein Faktor ist, der sich auf die kognitive Kontrolle auswirkt.

(Video-)Spielen trainiert

Ein weiterer Beweis dafür, dass Fokussierung und Aufmerksamkeit gestärkt werden können, kommt aus Forschungen zu Action-Videospielen. Durch konstantes „Zocken“ trainieren die Spieler unabsichtlich ihre Fähigkeit, Ablenkungen auszublenden und verschiedene Informationszuflüsse effektiv zu nutzen. Zu dieser Erkenntnis kam etwa die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Daphne Bavelier, die an den Universitäten in Rochester und in Genf forscht, in einer Studie zu Call of Duty, einem Ego-Shooter. Darin werden die Spieler mit Geräuschen und Bildern wie lauernden Feinden, fliegenden Patronen und vorbeifahrenden Autos bombardiert, während sie gleichzeitig Karten lesen, Anweisungen befolgen und in Sekundenschnelle die Entscheidung treffen müssen: Wen erschieße ich und wen nicht?

Durch das Videospielen, so hat Bavelier herausgefunden, verbessert sich der Umgang mit mehreren Datenkanälen. Man wird Meister darin, seine Aufmerksamkeit in einer unruhigen Umgebung ganz auf ein Ziel zu konzentrieren. Menschen, die daddeln, zeigen auch ein gutes Raumgefühl und sind in der Lage, ihre Konzentration länger aufrechtzuerhalten. Sie scheinen eine breitere „Datenautobahn“ als der Rest zu entwickeln. Der normale Mensch kann nur vier Objekten folgen, zum Beispiel vier Kindern auf einem Spielplatz. Kognitionsforscher glaubten lange, dass dieses begrenzte Vermögen angeboren sei und an der Beschaffenheit unseres Gehirns liege. Regelmäßige Zocker, so demonstrierte Bavelier, können aber bis zu sechs Ziele gleichzeitig verfolgen.

Inwieweit sich die durch Computerspiele erlernten Fertigkeiten im Alltag anwenden lassen, wird kontrovers diskutiert und ist nach wie vor Gegenstand vieler Untersuchungen. Eines der überzeugendsten Beispiele war bei der Nissan GT Academy Challenge zu beobachten, einem Programm zur Entdeckung und Förderung von Rennfahrern. Dort bekamen die zehn besten Spieler des beliebten Rennsimulationsspiels Gran Turismo die Chance, ihre Fähigkeiten bei einem realen Autorennen anzuwenden. Sie waren gut – sehr gut sogar. Bei einem britischen Rennen im Jahr 2012 etwa konnte ein Student mühelos mit den Profis mithalten.

Dennoch ist obsessives Videospielen kein empfehlenswerter Weg, ein mentaler Tausendsassa zu werden. Suchthaftes Spielen ist sogar kontraproduktiv. Laut Bavelier stammen die besten Ergebnisse von Probanden, die täglich eine halbe bis eine Stunde spielen, an fünf Tagen in der Woche für zehn bis zwölf Wochen.

Wie reduziere ich Ablenkungen?

Gazzaley und Bavelier suchen aber auch abseits von virtuellen Welten nach neuen Wegen, Gedächtnis und Aufmerksamkeit zu stärken. Gazzaley arbeitet an einer der Meditation entlehnten Übung, welche innere Ablenkungen minimieren soll. Bavelier untersucht eine neue Form der kognitiven Kontrolle, die auch im Multitasking vorkommt: emotionale Regulierung, die Fähigkeit, die eigenen Beeinträchtigungen durch starke Emotionen wie Angst zu minimieren.

Wer zum Multitasker werden und seine kognitive Kontrolle stärken möchte, sollte auf chronisches Gleichzeitigmachen erst einmal verzichten. Denn ironischerweise hat sich gezeigt, dass die unverbesserlichsten Multitasker dafür eigentlich am wenigsten geeignet sind. Eine Studie der Stanford-Universität belegt, dass diese eine schlechtere Erinnerung haben, nur schwer zwischen zwei Aufgaben springen können und es ihnen Probleme macht, wichtige Informationen von unwichtigen zu trennen. Es ist die überraschende Seite der Hirnforschung: Manche verbessern ihre Aufmerksamkeit mit scheinbar ablenkenden Videospielen, andere trainieren unwissentlich die Zerstreuung, indem sie von einer Aufgabe zur nächsten springen.

Um in seinem eigenen Leben mentale Interferenzen zu umgehen, vermeidet Gazzaley jede Form von Ablenkung und Unterbrechung, sobald wichtige Arbeit erledigt oder eine Deadline eingehalten werden muss. Er rekonstruiert dann in gewisser Weise die Bedingungen, die er untersucht: Die Tür ist abgeschlossen, das Telefon abgestellt und der Computer heruntergefahren. Gazzaley sucht den Weg zu größerer kognitiver Kontrolle. Denn wer Multitasking will, sollte sich erst einmal auf eine einzige Aufgabe beschränken.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2014: Ärger!