Ich bin auf der Suche nach meiner Nachbarin Frau Wiese, weil ich mir Sorgen um sie mache. Frau Wiese steht vor einer schwierigen Entscheidung. Wobei: Eigentlich steht sie nicht, sondern liegt entkräftet davor. Frau Wiese hat mir so viel von dieser Entscheidung erzählt, so oft das Für und Wider aufgezählt, aus dem bald ein Wider und Wider wurde, dass ich kaum noch sagen kann, worum es eigentlich geht (irgendwas mit einem beruflich bedingten Umzug in eine andere Stadt). Die Entscheidung ist so groß geworden, dass ihr Anlass dahinter verschwunden ist.
Ich finde Frau Wiese im Heizungskeller. Eigentlich bin ich immer gern hier: das Gebrodel, das Blinken, die unzähligen Rohre und Lichter erinnern an die Versuchslabore durchgeknallter Professoren in 1980er-Jahre-Filmen. Jetzt aber ist der Heizungskeller ein Ort des Schreckens, denn Frau Wiese kauert unter einer verspinnwebten Rohrgemeinde und sieht schlecht aus. „Ich kann mich nicht entscheiden“, sagt sie, und ich setzte mich neben sie auf den staubigen Boden.
Wenn man etwas entscheiden muss, kann man Pro- und Kontralisten anfertigen, man kann Freunde und sein Bauchgefühl befragen, man kann reiflich überlegen. All das kann Frau Wiese nicht. Sie starrt bewegungslos auf die Entscheidung wie ein Reh ins Scheinwerferlicht. Es wirkt, als habe nicht Frau Wiese die Entscheidung in der Hand, sondern die Entscheidung Frau Wiese.
Eine fiese nach Essig stinkende Entscheidung
Während wir hier sitzen unter den Rohren, bekomme ich den Eindruck, dass es sich bei der Entscheidung um ein eigenständiges Wesen handelt, und als ich Frau Wiese das sage, fragt sie mich, ob ich den Gurkenkönig aus dem Kinderbuch von...
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