Sammellust und Sammelwut

Viele von uns sammeln etwas? Warum tun wir das? Und wann wird sammeln krankhaft?

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Titusz Tarnai hat lange gebraucht, um den perfekten Ort für seine Sammlung zu finden. Vor sieben Jahren hat der 42-Jährige ihn endlich entdeckt: einen Getreidespeicher in Schwechat bei Wien. Begonnen hat Tarnais Sammelleidenschaft schon als Kind. Als er neun Jahre alt war, siedelte seine Familie von Budapest nach Wien über, damals legte der kleine Titusz seine erste Sammlung an – Lego. Richtig los ging es aber erst in seiner Zeit als Architekturstudent. „New York, Rotterdam, Barcelona“, zählt er die…

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„New York, Rotterdam, Barcelona“, zählt er die Stationen seiner Studienlaufbahn auf, jede für sich Anlass, „Treibgut“ zu sammeln, wie er es nennt. Waren es in Rotterdam und New York Straßenschilder und andere urbane Objekte, füllten sich in Barcelona die Kisten mit Muscheln und Steinen. Jetzt lagert alles in dem hohen Backsteinbau in Schwechat, ganz hinten gelegen auf dem Areal eines Gutshofes. Auf vier Ebenen bietet das Gebäude je 200 Quadratmeter Platz, um alles Mögliche aufzubewahren. Die fabrikhallenartigen Räume sind gefüllt mit Holzbrettern in jeder Form und Größe, Drähten, Farben – für Tarnai hat sich hier der „Bubentraum“ von einer überdimensionalen eigenen Werkstatt erfüllt. Liebevoll spricht er von seinen „Schätzen“, selbst wenn es sich nur um Glasscherben handelt.

Jeder Sammler kennt das prickelnde Gefühl, der eigenen Sammlung ein neues heißbegehrtes Objekt hinzuzufügen. Manchmal lange gesucht, manchmal durch einen glücklichen Zufall entdeckt. Solange es den Menschen gibt, gibt es auch das Sammeln. Und lange fragt sich der Mensch auch schon, warum er tut, was er da tut. Die Fülle an geistes- und sozialwissenschaftlicher Literatur, die das 20. Jahrhundert zu diesem Thema hervorgebracht hat, ist schier unüberschaubar. Dazu zählen zum Beispiel Tilmann Habermas’ Geliebte Objekte und Walter Benjamins Ich packe meine Bibliothek aus, um nur zwei Werke zu nennen. Auch der Gründervater der Psychoanalyse war ein leidenschaftlicher Sammler. Die Wohnung Sigmund Freuds in der Wiener Berggasse beinhaltete zu dessen Tod nicht weniger als 3000 Objekte, viele davon Götterstatuen aus der Antike oder dem alten Ägypten. Seinem Biografen Stefan Zweig schrieb er einmal, dass er „bei aller gerühmten Anspruchslosigkeit viel Opfer“ für seine Sammlung gebracht und „eigentlich mehr Archäologie als Psychologie“ gelesen habe. Schon Freud spürte, was alle Sammler eint – die Ergriffenheit vom gesammelten Objekt, unabhängig von seiner unmittelbaren Funktionalität, und der Drang, sich näher mit der eigenen Sammlung zu beschäftigen.

Speziell die psychoanalytische Literatur in der Nachfolge Freuds entwickelte eine Vielzahl an Theorien zur Ursache des Sammeltriebes. So werden etwa traumatische Verletzungen und Regression auf frühkindliche Entwicklungsstufen als Wurzeln ausgemacht, gegen die – und gegen die Tatsache der Vergänglichkeit menschlichen Daseins – ein Bollwerk aus Gegenständen errichtet wird. Der deutsche Ethnologe, Kunstsammler und Psychoanalytiker Werner Muensterberger verglich in seinem Buch Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft die gesammelten Gegenstände mit „Übergangsobjekten“ – in Anlehnung an Donald Winnicotts Theorie zur Autonomieentwicklung bei Säuglingen. Späte Tröster als Nachfolger von Schmusedecke und Kuscheltier, als Ersatz für fehlende mütterliche Zuwendung und mangelnde soziale oder sexuelle Beziehungen. Die Leere wird kompensiert durch die Idealisierung von Objekten. Es ist das Loch, das nie geschlossen werden kann und durch die Sammlung doch ständig gestopft werden soll. Oder wie Muensterberger es bezeichnet: „Selbsthilfe mit Dingen“.

Drei Regalmeter Archivboxen

Der Wiener Kunsthistoriker und Kulturvermittler Rolf Wienkötter würde wohl gut zu den psychoanalytischen Sammeltheorien des 20. Jahrhunderts passen. Während seiner Studienzeit in Innsbruck begann der heute 45-Jährige, die „Zeugnisse seines Lebens“ aufzuheben – Flyer von Ausstellungen, die er besucht hatte, Kinokarten, Einladungen zu Hochzeiten und so weiter. „Meine Mutter ist verstorben, als ich fünf Jahre alt war. Zu den restlichen Familienangehörigen habe ich keinen Kontakt. Ich bin also ‚allein‘ auf der Welt. Die Sammlung ist meine Art der Selbstvergewisserung“, sagt Wienkötter. Im Vorzimmer seiner Altbauwohnung gibt es deshalb seit rund 15 Jahren ein kleines Archiv – circa drei Regalmeter lang. In eigens angefertigten Archivboxen befinden sich die großteils gedruckten Sammelobjekte, geordnet nach Schlagworten und Künstlern. Hochzeitseinladungen stehen unter H, die Kinokarten unter K. Ein individuelles System, dessen Legitimierung einzig in Wienkötters Biografie liegt.

Heute ist es vor allem die sozialpsychologische Forschung, die sich dem Thema Sammeln intensiv widmet. Fokus der Überlegungen sind hier weniger die Wurzeln des Sammeltriebs als vielmehr die konkreten Auswirkungen, die das Sammeln auf Menschen hat. So schreiben etwa die amerikanischen Psychologen William D. McIntosh und Brandon Schmeichel in einem Artikel im Magazin Lei­sure Sciences: „Wir gehen davon aus, dass Sammler sich von ihrer Sammlung angezogen fühlen, da sie ein Mittel darstellt, den eigenen Selbstwert zu steigern. Die Sammlung gibt konkrete und erreichbare Ziele vor, die es dem Sammler ermöglichen, konkretes Feedback durch den Fortschritt zu erleben.“ Beide sehen das Sammelverhalten auch als direkte Reaktion auf die Lebensumstände vieler Menschen. In der modernen Arbeitswelt gebe es häufig wenig Rückmeldung zum eigenen Tun – das würde langfristig frustrieren, wenn nicht sogar krank machen. Die beiden Experten berufen sich dabei auch auf die 1999 formulierte I-D Compensation Theory von Leonard L. Martin. Der US-Psychologe unterscheidet darin zwei Formen von Gesellschaften: Solche mit einer „unmittelbaren Ertragsrückgabe“ (immediate return nature), die den Arbeitenden sofort Auskunft beziehungsweise Feedback über das von ihnen Geleistete geben, und solche, die das verzögert tun (delayed return nature). Die Praxis der Verzögerung sei das in der westlichen, globalisierten Welt verbreitete Modell, so Martin. Ist Sammeln also als Kompensation für eine als immer frustrierender erlebte Arbeitswelt zu verstehen?

Ja, würde hier wohl Bernd Hufnagl sagen. Er hat zehn Jahre lange als Neurobiologe am Allgemeinen Krankenhaus Wien geforscht und arbeitet mittlerweile als selbständiger Berater für große Firmen. Die Fragen, die ihn bewegen, sind: Wann und unter welchen Umständen sind Menschen produktiv und motiviert? Eine Erkenntnis, die er dabei immer weitergibt, ist die, dass der Botenstoff Dopamin nur dann ausgeschüttet wird, wenn Menschen zeitnah sehen, wofür sie sich angestrengt haben. „Ist das nicht der Fall, produzieren wir weniger Dopamin und verlieren unsere Motivation“, sagt Hufnagl. Die zeitnahe Belohnung stellt jedoch nur einen Aspekt dar. Ebenso wichtig ist es laut Hufnagl, dass Menschen sich anstrengen, um ihr Ziel zu erreichen. „In der Wohlstandsgesellschaft neigen Menschen dazu, die fehlende Belohnung ihrer Anstrengung durch passiven Konsum zu kompensieren. So lässt sich die eigene Stimmung ohne großen Aufwand rasch regulieren.“ Das Problem bei allzu häufiger passiver Belohnung: Die Anstrengung an sich wird als immer anstrengender, „echte“ Arbeit als immer mühsamer erlebt. Wo Sammeln also zum passiven Konsum wird, ist das Abrutschen in die Sucht nur einen Steinwurf entfernt.

Bücher, Gewürze, Gitarren, Lego

Davon, wie schwierig es ist, nicht in den Sammelzwang zu kippen, kann die Wienerin Andrea Maria Dusl ein Lied singen. Die Künstlerin, Autorin und Kuratorin lebt in einer 80-Quadratmeter-Wohnung im 2. Wiener Gemeindebezirk. Dort finden sich nicht weniger als 80 Kisten mit allerlei Dingen. Dusl sammelt vieles: Bücher, Gewürze, Gitarren, wissenschaftliche Artikel, Bilder, Schallplatten, CDs, Lego, technische Geräte. Am liebsten hätte sie eine Fabrikhalle, um all das aufzubewahren und um mehr Raum zwischen sich und ihre Sammlung zu bringen, wie die 56-Jährige sagt. Besonders für die Bücher bräuchte sie dringend mehr Platz. In zwei bis drei Reihen füllen Bände bis zur Decke sämtliche Wände ihres Ateliers. „Das Messietum ist keine reale Gefahr für mich“, sagt sie einerseits und zweifelt gleichzeitig an diesem Befund, weil ihre technische Sammlung schon die Grenze zum gear acquisition syndrome berühre. Gemeint ist damit das Phänomen des überbordenden Ansammelns von technischen Gerätschaften – vom neuesten Milchaufschäumer bis zur kleinsten Digitalkamera am Markt. Es handelt sich dabei um keine offizielle Diagnose, sondern vielmehr um einen Laienausdruck, der von den betroffenen Personen selbst scherzhaft verwendet wird. Dusl weiß das und sagt selbstkritisch: „In manchen Aspekten meiner Leidenschaft werde ich zur Süchtigen.“ Sie spricht damit eine Frage an, die viele Sammler bewegt: Ist das, was ich tue, noch gesund?

Wer sich selbst „Messie“ nennt, ist an der Spitze des Sammelexzesses angelangt. Die vom englischen Wort mess, Unordnung, abgeleitete Bezeichnung steht im Volksmund für Menschen, deren Leben massiv von den Materialbergen, die sie anhäufen, beeinträchtigt ist. 2013 einigte sich die Amerikanische Psychologische Gesellschaft (APA) darauf, in ihrer fünften Revision des Diagnosemanuals DSM den Sammelzwang (hoarding disorder) als eigene Diagnose zu erfassen. Einer, der diese Entscheidung massiv unterstützte, war David Mataix-Cols vom schwedischen Karolinska-Institut (siehe Interview). Seit mehr als 15 Jahren befasst sich der Psychologieprofessor mit der Thematik. Für ihn war die Herauslösung des Sammelzwangs aus dem Spektrum der Zwangsstörungen (obsessive-compulsive disorders) ein längt überfälliger Schritt. „Durch die Einführung der neuen Diagnose wird die Sichtbarkeit der Problematik erhöht, und mehr Menschen bekommen Zugang zu einer Behandlung“, sagt Mataix-Cols.

Doch nicht alle Experten sind einverstanden mit der Einführung der Diagnose. „Die Unterschiede zwischen Sammlern sind immer graduell zu sehen“, sagt die Psychoanalytikerin Elisabeth Vykoukal von der Wiener Sigmund-Freud-Privat­universität. Als eine der Ersten im deutschsprachigen Raum begann sie das Thema zu beforschen und spezielle Therapiemaßnahmen anzubieten. Trotz ihrer kritischen Haltung erkennt auch Vykoukal einen Punkt, an dem das Sammeln außer Kontrolle gerät. „Eine Sammlung kann es nur so lange sein, wie man sich die Dinge noch aneignen kann“, sagt die Expertin. Menschen mit Sammelzwang seien nicht in der Lage, etwas auszusortieren oder wegzuwerfen. „Sie benutzen Dinge vor allem, um ihr Leben zu füllen – räumlich, zeitlich und emotional“, sagt Vykoukal. Auch Mataix-Cols hält die Unfähigkeit, Ordnung und Struktur in die eigenen Besitztümer zu bringen, für das Hauptkriterium zur Diagnosestellung.

Auch Ausmisten ist eine Wissenschaft

Der Architekt Titusz Tarnai erinnert sich gut an den Moment in seinem Leben, als die Sammelleidenschaft kippte und die Arbeit an seiner Sammlung kein Ende mehr nahm. Als ihn seine Mutter in seinem Speicher besuchen wollte und ihn hinter der Fülle der vielen Dinge nicht mehr fand, brachte dies ein Umdenken. Zur Wende beigetragen haben dürften auch zwei einschneidende Lebensereignisse: die Geburt der Tochter vor vier Jahren sowie Tarnais Entscheidung, die Architektur an den Nagel zu hängen und eine Ausbildung zum Psychoanalytiker zu machen. „Es ist unglaublich befreiend, wenn ich mir vorstelle, einen Beruf zu haben, für den ich nichts brauche“, sagt Tarnai. „Ich würde mir heute sehr gut überlegen, ob ich wieder so viel sammle. Es kostet so viel Lebenszeit!“ Als er vor einem Jahr erfuhr, dass der Speicher bald geräumt werden müsse, trat er den Weg in die andere Richtung an: ausmisten – ein zeitaufwendiges Programm, wenn man verfährt wie er. Tarnai legte sich eine Liste mit all seinen Besitztümern an, eine Excel-Tabelle mit unendlich vielen Zeilen und Spalten. Zu lesen ist da senkrecht untereinander „Holz“, „Scherben“ und so weiter und waagerecht „Auffindezeitraum“, „daran gebundene Fantasien“ et cetera. Das Dokument ist eine Auflistung seiner Schätze, psychologische Analyse inklusive.

Wem der Abschied von der eigenen, zu groß gewordenen Sammlung schwerfällt, kann heute auch den Weg der Digitalisierung beschreiten. Ein Weg, den Rolf Wien­kötter und Andrea Maria Dusl schon lange gehen. Für beide ist das digitale Archivieren Teil ihrer beruflichen Existenz geworden. Dusl führt seit fast 20 Jahren ein umfassendes digitales Privatarchiv – pro Tag kommen 100 bis 200 Bilder dazu und fünf bis sechs wissenschaftliche Artikel. Es ist ihr Fundus für eigene Texte, künstlerische Arbeiten oder das Unterrichten. Wienkötter, der bereits seit mehr als zehn Jahren als Kulturvermittler im Kunsthistorischen Museum arbeitet, speist seine Funde in ein digitales Archiv ein, das der dortigen Kunstvermittlung zur Verfügung steht. Gleich einem Wissensmanager verwaltet er mehr als 100 Gigabyte an kunstbezogenen Daten. „Mein Fantasieziel wäre, zu allen 14 000 ausgestellten Exponaten des KHM vermittlungsrelevante Informationen zu haben“, sagt Wienkötter.

Nicht jeder, der sich einmal ans „Abspeichern“ gewöhnt hat, erlebt diese Form des Sammelns aber noch als lustvoll und produktiv. Die Verschiebung in den digitalen Raum ist Chance und Risiko zugleich: Einerseits tut sich so die Möglichkeit auf, durch Digitalisierung von Gedrucktem realen Platz zu schaffen, andererseits kann auch das digitale Sammeln zur Falle werden. Forscher sprechen bereits vom Entstehen eines neuen Typus, des „digitalen Horters“. Das Internet mit seiner Fülle an Informationen macht die Frage der Entscheidungsfindung, was man aufhebt oder eben nicht, noch um vieles brisanter. 2015 beschrieb der niederländische Psychiater Martine J. van Bennekom im British Medical Journal den ersten „Fall“: Einen 47-jährigen Mann, der täglich mehr als 1000 digitale Fotos schießt und dessen Leben massiv durch die nicht mehr zu bewältigende Menge an digitalem Material beeinträchtigt wird. Auch David Mataix-Cols beobachtet, wie viele seiner Klienten im Netz ähnlich agieren wie in ihren eigenen vier Wänden: Anstatt eine Auswahl zu treffen, werden wahllos Links, Fotos oder Texte angehäuft, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass eine Sache doch noch nützlich sein könnte. Sammeln heißt letztlich Entscheidungen treffen – und loslassen können. PH

Dr. Dagmar Weidinger ist als freie Journalistin und Lektorin in Wien tätig. An der dortigen Sigmund-Freud-Privatuniversität hält sie unter anderem eine Lehrveranstaltung zur kulturwissenschaftlichen Bedeutung des Sammelns ab.

„Horten findet im Stillen statt“

Herr Professor Mataix-Cols, es scheint sich beim Sammeln um ein tief verankertes menschliches Bedürfnis zu handeln. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Menschen es so gerne tun?

Das ist eine oft gestellte Frage, aber um ehrlich zu sein, wissen wir nicht genau, warum es Spaß macht, eine Sammlung zu besitzen. Studien zufolge sammeln rund 30 Prozent aller Erwachsenen etwas, es gibt jedoch keine Daten zu den Hintergründen. Natürlich kann man spekulieren, dass Sammeln in Zusammenhang mit der menschlichen Entwicklungsgeschichte steht, mit Zeiten, in denen es das Überleben sicherte. Wie und wann sich daraus das Sammeln aus purer Freude entwickelte, lässt sich jedoch nicht erklären.

In der aktuell gültigen, fünften Auflage des Diagnosemanuals DSM wurde der „Sammelzwang“ (hoarding disorder) als separate Diagnose eingeführt. Sie waren einer der Berater in diesem Prozess. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen gesundem Sammeln und pathologischem Horten?

Die Frage „Wie viel ist zu viel?“ spielt keine Rolle. Die Unterscheidung liegt im Qualitativen, nicht im Quantitativen. Sammler konzentrieren sich zumeist auf ein Thema; im Gegensatz dazu erstreckt sich das Horten auf alle Lebensbereiche. Sammler bringen ihre Dinge außerdem in eine Ordnung und stellen sie gerne zur Schau. Diese Sammlungen konkurrieren nicht mit dem Lebensraum ihrer Besitzer. Und Sammeln ist zumeist eine soziale Aktivität – Sammler lieben den Vergleich, den Ankauf oder Verkauf und den Austausch mit anderen. Horten findet im Stillen, in der Isolation statt.

Wie kann man sich die Einführung der neuen Diagnose vorstellen?

Es handelte sich um einen langen und schwierigen Prozess, denn das DSM funktioniert sehr konservativ. Man braucht also wirklich fundierte „Beweise“, um eine neue Diagnose auf den Weg zu bringen. Teilweise handelt es sich auch um eine politische Frage; man muss die richtigen Leute überzeugen. Der Sammelzwang war zuvor lange Zeit Teil der Zwangsstörungen. Studien zeigen jedoch, dass die Mehrheit der Horter nicht dieselben Symptome wie Menschen mit Zwangserkrankungen aufweist. Und sie sprechen auch nicht auf dieselben Behandlungsmethoden an.

Was ist der Vorteil der neuen Diagnose?

Die Diagnose ist nur das Werkzeug, das uns hilft, uns auszutauschen. Ich gehöre der Fraktion an, die Diagnosen für sehr wichtig hält – und zwar aus politischen Gründen. Erst mithilfe der Diagnose gelang es uns, hier in Stockholm Menschen mit Sammelzwang auch in die Klinik aufnehmen zu können. Es geht dabei immer darum, potenzielle Geldgeber im Gesundheitssystem von der Notwendigkeit eines Behandlungsangebots zu überzeugen.

Was halten Sie von dem Begriff „Messie“, der von einigen Klienten und Therapeuten verwendet wird?

Nicht sehr viel. Einerseits gefällt mir die negative Konnotation, die dabei mitschwingt, nicht. Andererseits halte ich den Terminus für viel zu unspezifisch. Wer oder was soll ein Messie sein? Für mich bedeutet das nur, dass jemand viele Dinge hat. Es wird aber nichts über die dahinterstehende Problematik ausgesagt. Die Person könnte genauso gut schizophren oder dement sein.

Wie sieht die Behandlung von Menschen mit Sammelzwang aus?

Sie ist sehr komplex. Wir arbeiten mit einer eigens für den Sammelzwang entwickelten Form der kognitiven Verhaltenstherapie. Diese beinhaltet viele motivationale Elemente, denn die meis­ten Horter sind ambivalent, was die Behandlung ihrer Schwierigkeiten betrifft. Vielen fehlt die Krankheitseinsicht. Sie sind also nicht einmal sicher, ob sie Hilfe möchten und ob ihr Verhalten überhaupt problematisch ist.

Interview: Dagmar Weidinger

David Mataix-Cols ist als Professor im Fachbereich Clinical Neuroscience am Karolinska-Institut in Stockholm tätig. Der klinische Psychologe hat sich auf die Erforschung von Zwangs- und verwandten Störungen sowie deren Behandlung spezialisiert

Wenn Kinder sammeln

Matheo haben es tote Tiere und ihre Behausungen angetan: Stolz hält der Achtjährige das Bild einer Schlangenhaut in die Kamera, die von einer grünen Baumnatter stammt. Neben ihm liegen ein Schneckenhaus, Bienenwaben und Fischschuppen – Unikate, deren Geschichte und Herkunft der Junge genau kennt. Matheo ist eines von mehr als 550 Kindern, die im Rahmen einer Studie der Universität Gießen unter Leitung von Ludwig Duncker zu ihrem Sammelverhalten befragt wurden. Duncker beschäftigt sich bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit kindlichem Sammeln, damals wie heute eher eine Forschungslücke, betont der Erziehungswissenschaftler. „Die Bedeutung des Sammelns bei Kindern wurde lange Zeit nicht gesehen“, sagt er. Dabei sei es durch die „recherchierende Suche, die Gliederung und Ordnung der Objekte“ eine „ganz eigenständige Form der Weltaneignung, die auch zur Entfaltung der Identität beiträgt“. Wenn Kinder sammeln, lernen sie, so Dunckers Conclusio – und zwar komplett intrinsisch motiviert und viel selbständiger, als es sonst oft der Fall ist.

Ludwig Duncker, Katharina Hahn, Corinna Heyd: Wenn Kinder sammeln. Begegnungen in der Welt der Dinge. Klett/Kallmeyer 2014

Eine Frau steht vor einem Bücherbord und hält verzweifelt die Hand vors Gesicht
Manchem wächst die Sammelleidenschaft über den Kopf.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2018: Die Stärke der Stillen