Vermintes Gelände

Die erste Liebe, die schmerzliche Trennung: Manche Orte sind durch wichtige Erlebnisse emotional aufgeladen. Soll man sie meiden? Oder sie bewusst aufsuchen?

Die Bank im Park, auf der sich zwei das erste Mal geküsst haben, oder jene, auf der das letzte Gespräch vor der endgültigen Trennung stattgefunden hat. Orte der Liebe, Orte der Freude, Orte der Trauer, Orte der Verzweiflung, Orte der Geburt, Orte des Todes, Orte des Werdens und Orte des Sterbens: Für jeden Menschen gibt es Orte auf dieser Welt, die nur für ihn eine ganz besondere Bedeutung haben. Sie sind gleichsam Schauplätze der emotionalen Höhepunkte einer Biografie. Im Guten wie im Schlechten. An diesen…

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einer Biografie. Im Guten wie im Schlechten. An diesen Orten haben wir intensive emotionale Erfahrungen gemacht – und diese Erfahrungen kehren zurück, wenn wir an diese Orte zurückkehren.

Hermann Hesse hat in seinem berühmten Gedicht Stufen getextet: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen.“ Leicht gesagt, aber schwer getan. Denn oft fällt es uns sehr schwer, heiter Raum um Raum zu durchschreiten. Gerade Orte, die uns „nachhängen“, sind besonders schwer in aller Heiterkeit zu durchschreiten. Sie werden zu problematischen Orten und bleiben es oft. Manchmal ein Leben lang.

Der erste emotional aufgeladene Ort unseres Lebens ist wohl der Ort unserer Kindheit. Vielleicht eine x-beliebige herausgeputzte Kleinstadt in der Provinz. Für den einen ist sie die innig geliebte Heimatstadt, für den anderen, der genauso von hier stammt, nur ein herzlich gehasstes Kaff. Dann der erste Umzug an den Ort der Ausbildung oder des Studiums. Vielleicht ist Köln, München oder Hamburg für den einen die Stadt, in der sich seine Träume erfüllten, geliebte Kulisse eines gelungenen Lebens, für den anderen nur eine Ansammlung kalter Hauswände, Stätten einer unerfüllten Liebe oder des beruflichen Scheiterns. Kein Ort, an den es sie oder ihn später noch einmal hinziehen würde. Oder auch Orte mit kürzerer Verweildauer – aber intensiven Gefühlen: vielleicht ein Urlaubsort, wo zwei die erste wilde Romanze erlebten, oder aber das Gegenteil: das Beziehungs-Aus unter Palmen nach dem letzten großen Krach.

Wenn wir an solche Orte zum ersten Mal zurückkehren, egal ob nach einem Jahr, nach zehn oder fünfzig, dann lösen sie in uns immer noch starke Gefühle aus: Von Sentimentalität werden wir übermannt, von Trauer, aber auch von Beklemmung und altem Groll. Es gibt ganz leise Emotionserinnerungen, und es gibt den harten Aufprall, einen Flashback oder ein Wiederaufblitzen eines schweren Traumas – Erlebnisse, von denen Traumatherapeuten immer wieder berichten, wenn sie sich mit ihren Patienten, den Opfern und Hinterbliebenen von Katastrophen wie Flugzeugabstürzen oder terroristischen Anschlägen, wieder an die Orte des Schreckens begeben.

Erinnerungen können ein Fluch sein

Wir alle wissen im Grund genau, wo unsere verminten Gelände liegen – und wir ahnen zumindest, wie sie sich anfühlten, wenn wir dorthin zurückkehren würden. In uns allen entsteht so im Lauf eines Lebens eine ganz individuell gezeichnete Karte von Landschaften, in die wir immer wieder gerne reisen – und solchen Gebieten, die wir scheuen und die wir „weiträumig umfahren“. Jeder trägt eine solch individuelle Landkarte in sich, die nicht nach Höhenmetern, Vegetation oder Ballungsdichte kartografiert ist, sondern nach der emotionalen Erfahrung.

The house is haunted by the echo of your last goodbye, singt die kanadische Jazzsängerin Holly Cole in einem ihrer Songs, in dem es um den Verlust der Liebe geht. The rooms are cluttered up with memories that refuse to die. Das englische to haunt könnte man mit „heimsuchen“ übersetzen. Das Echo, von dem Holly Cole singt: Es ist wie ein Fluch, der in diesem Haus widerhallt. Erinnerungen können tatsächlich wie ein Fluch sein, der uns den Aufenthalt an bestimmten Orten fast unmöglich macht.

Früher glaubten Menschen noch an einen bösen Zauber, der über Orten liege, die ihnen nicht ganz geheuer waren. In der vormodernen Zeit hatte man schnell ein metaphysisches Begründungschema zur Hand, wenn es darum ging, solche von bösen Geistern heimgesuchten Orte zu kennzeichnen. In der Aufklärung beginnt die sich langsam formierende Wissenschaft der Psychologie solch metaphysische Phänomene vom „Über-Bewusstsein“ ins „Unterbewusste“ zu verorten: von einem „objektiven“ Tatbestand zu einem subjektiv gefühlten. Seither erkennen wir besser, welcher Art diese bösen Geister sind, die uns da zusetzen.

Aber was sind das genau für Orte? „Belastete Orte“ sind Orte, an denen wir Leid erfahren haben: die Stelle auf dem alten Schulweg, wo einer von seinen Mitschülern verprügelt wurde; die Kreuzung, an der sich ein schrecklicher Verkehrsunfall ereignet hat; der Ort eines Unglücks, einer Vergewaltigung oder eines anderen Verbrechens.

Aber genau besehen sind es nicht nur jene Orte, an denen wir negative Emotionserfahrungen gemacht haben, an denen wir zurückgewiesen, nicht geliebt, verletzt oder vollends gedemütigt wurden. Nein, auch die Schauplätze durch und durch schöner Erlebnisse, die wir einst genau deswegen immer wieder aufgesucht haben, können für uns genauso irgendwann zu solchen werden, an denen sich in das schöne Erinnerungsgefühl ein schwerer Kummer mischt oder gar eine stumme Verzweiflung. Denn alles schöne Erleben wird in der Erinnerung irgendwann trauervoll gefühlt, wenn es endet: wenn etwa ein Mensch, mit dem wir solche Erlebnisse an einem wundervollen Ort teilten, nicht mehr ist, wenn sie oder er gestorben ist. Dann beschwört die Rückkehr an einen solchen Ort nicht mehr die glücklichen Tage herauf, sondern macht uns wehmütig oder erfüllt uns gar mit tiefer Trauer.

Was passiert da? Der Mechanismus

Streng genommen sind es gar nicht die Orte allein, die in uns Erinnerungen wecken und dann alte Gefühle zurückbringen. Belastete Orte sind genau besehen Ereignisräume, in denen wir intensive Emotionserfahrungen vor dem Hintergrund ganz einzigartiger Sinneswahrnehmungen gemacht haben: ein ganz besonderer Mix an Bildern, Geräuschen, Gerüchen, den es nur an diesem Ort gibt. Kehren wir an einen Ort zurück, erst recht, wenn dieselben Wahrnehmungsbedingungen herrschen wie beim ersten Mal, kommt auch alles damals Gefühlte in aller Stärke wieder zurück.

Was passiert da? Warum lassen uns auch völlig „unbelebte“ Orte, an denen wir intensive emotionale Erfahrungen gemacht haben, nach vielen Jahren noch ängstlich, zornig, wütend, traurig, melancholisch oder nostalgisch werden, wenn wir sie wieder aufsuchen? Der Gedächtnisforscher Hans J. Markowitsch sagt: „Erinnern erfolgt in der Regel über Assoziationen, die von unserer Wahrnehmung ‚getriggert‘ werden.Erinnern erfolgt am genauesten und intensivsten, wenn Einspeicher- und Abrufreize möglichst identisch sind. Kommt man also an Orte zurück, an denen man bestimmte distinkte emotionale Erfahrungen gemacht hat, werden diese reaktiviert.“

Es sind dabei vor allem die Gerüche, die sehr weit zurückliegende Emotionserinnerungen reaktivieren können. Bekannt geworden ist dieser starke Zusammenhang von Kognition und Emotion unter dem Stichwort „Proustphänomen“. Der Hintergrund: In Marcel Prousts weltberühmtem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gibt es eine Szene, in der der Protagonist eine Madeleine in seinen Tee tunkt. Geschmack und Geruch bringen ihm unmittelbar starke Kindheitserinnerungen zurück. Der Journalist Daniel Rettig, der ein Buch über Nostalgie geschrieben hat, beschreibt den Vorgang so: „Auf der Oberfläche der Riechschleimhaut befinden sich Geruchsempfänger. Wenn sie mit den Duftmolekülen in Kontakt geraten, produzieren die Riechsinneszellen Strom in Form elektrischer Signale. Diese Signale wandern über Nervenfasern weiter zum Riechkolben im Gehirn … Gerüche geraten also gewissermaßen ungefiltert in das limbische System. Sie verbinden sich, bildlich gesprochen, unmittelbar mit Gefühlen – und haben deshalb eine bessere Chance, im Gedächtnis zu bleiben.“

Wie damit umgehen? Meiden oder integrieren?

Wie aber gehen wir gut um mit unseren belasteten Orten? Die naheliegendste und verständlichste Art und Weise ist, sie schlicht zu meiden. Das ist zumeist dann der Fall, wenn die Verletzung besonders groß ist, die wir an einem solchen Ort erlitten haben. Einen Ort etwa, an dem ein Mensch traumatisiert wurde, meidet er, weil er damit vielleicht Todesnähe assoziiert. Wir fürchten die Gefühle, die solche Orte in uns auslösen könnten, und machen um sie einen großen Bogen.

Viele haben jedoch irgendwann den Wunsch, diese Vermeidungshaltung zu überwinden. Trotz heftiger innerer Widerstände zieht es sie an diese Orte. Aus ganz unterschiedlichen Gründen: Einen Ort zu meiden bedeutet oft, die negativen Erfahrungen nicht zu verarbeiten, die mit ihm verknüpft sind. Unerledigt überdauern diese Erinnerungen dann, sie suchen den Menschen immer wieder in großer Heftigkeit heim. Und das ist auf Dauer kräftezehrender als die Arbeit, sich diese Orte wieder zu erschließen.

Viele wollen auch nicht, dass diese Orte Macht über sie gewinnen: Sie zu meiden hieße, sie als selbst verhängte Sperrzonen zu akzeptieren, deren Zugang wir uns selbst verbieten.

Man kann Orten vergeben

Sich belastete Orte jedoch wiederanzueignen verschafft am Ende Befreiung, Erleichterung, vielleicht sogar ein neues Lebensgefühl. Oder, zumal bei einem Ort mit ambivalenter Gefühlserinnerung wie beim Heimatort, die Möglichkeit, auch das Gute, was er einst an Erinnerungsgefühlen spenden konnte, wieder neu zu erfahren. Eine Erfahrung könnte uns dabei zugutekommen: Oft verselbständigen sich diese Orte in unserer Erinnerung. Und es lohnt sich tatsächlich oft, irgendwann einen reality check zu machen. Denn oft fühlt sich ein belasteter Ort ganz anders an, wenn man ihn dann wirklich wieder betritt, als wir uns das in der Vorahnung ausgemalt haben.

Einen solchen Ort bewusst wieder zu betreten heißt, ihn zu akzeptieren, ihn zu integrieren in die eigene Lebensgeschichte. Tun wir es, verlassen wir den Opferstatus, kommen in einen Handlungsmodus, lassen uns nicht mehr diktieren, wo wir uns aufhalten sollen und wo nicht. Wir räumen Schritt für Schritt die Minen weg, die uns an solchen Orten bislang bedrohten. Das heißt nicht, dass es irgendwann eine Freude wäre, einen Ort mit schmerzhafter oder wehmütiger Erinnerung aufzusuchen, aber es ist doch möglich, ihn uns zurückzuerobern. Wir können, wenn wir es denn wollen, auch die verbrannte Heimaterde wieder betreten und die alten Beklemmungen abstreifen. Wir können wieder in Paris flanieren, ohne immerzu daran denken zu müssen, dass dies die erste Stadt einer großen Liebe war und die letzte, die zwei durchwanderten, bevor sie zu Ende ging. Man kann lernen, mit belasteten Orten neu und gut umzugehen, auch wenn die gemeinsame Geschichte, die einen mit ihnen verbindet, eine leidvolle ist.

Sich dem belasteten Ort auszusetzen bedeutet erst einmal, bereit zu sein, Ängste und negative Gefühle, die er weckt, neu zu durchleben. Das Ziel ist dabei, zu den alten neue und ganz konträre Emotionen hinzutreten zu lassen, die fortan mit diesem Ort verbunden werden. Es geht nicht darum, alte negative Gefühle „auszulöschen“, sondern darum, positive Erfahrungen zu machen, die fortan zu den alten, schmerzhaften hinzutreten, sie ergänzen – und bald insgesamt in ein neues Grundgefühl einem solchen Ort gegenüber münden.

In archaischen Gesellschaften war es die Aufgabe von Medizinmännern und Priestern, die „verfluchten“ Orte zu erlösen und Rituale anzuwenden, mittels derer sie wieder frei werden. Buddhisten stellen sich auch heute noch eine solche Umwandlung ganz konkret vor. Beispielsweise sind Orte eines Verbrechens für sie quasi energetisch aufgeladen, es sei aber möglich, so Oliver Petersen, Hamburger Tibetologe und Lehrer am Tibetischen Zentrum Hamburg, diese Räume durch Rituale und gute Gedanken wieder zu „läutern“. So hat beispielsweise der Dalai-Lama seit Jahren den Wunsch, am Pekinger Tian’anmen-Platz mit seinen Mönchen zu meditieren, um den Ort von den Verbrechen zu reinigen, die dort geschehen sind – ein Wunsch freilich, dessen Erfüllung ihm die chinesische Regierung bis heute nicht gewährt hat.

Auch in der modernen Psychotherapie ist eine Umwandlung solcher Orte besonders schwer, an denen Menschen traumatisiert wurden. Die Traumapsychologin Sybille Jatzko schließt dennoch nicht aus, dass es selbst für traumatisierte Menschen möglich ist, sich mit einem Schreckensort zu versöhnen. Immer wieder an die Orte des traumatischen Erlebens zu gehen bedeutet, dass irgendwann die Heftigkeit der Emotionen abnimmt. Wichtig sei aber, betont Jatzko, dass die Orte nach dem Chaos der Zerstörung „aufgeräumt“ sein müssen. Wenn Angehörige etwa nach einem Zugunglück unmittelbar an den Ort des Unglücks kämen, sei diese Versöhnung unmöglich. „Um sich mit einem solchen Ort zu versöhnen und damit dieser die Kraft der Zerstörung verliert, geht man – meist begleitet – noch einmal dorthin und sieht ihn ‚aufgeräumt‘, was nun abgespeichert wird und wodurch der Betroffene eine innere Beruhigung erfährt.“

Emotionserfahrungen sind nicht ein für alle Mal in uns eingebrannt, wir können sie auch innerlich „aufräumen“ – oder zumindest umwandeln. „So gut wie alle Erinnerungen werden über die Zeit hin modifiziert“, sagt Hans Markowitsch. „Dafür sind mehrere Mechanismen zuständig. Vor allem sind es die Veränderungen der emotionalen Verarbeitung über die Zeit – im Alter sieht man vieles positiver oder weniger negativ. Jeder Abruf führt zur Neueinspeicherung im dann neuen aktuellen Kontext.“

Es gebe kein Trauma, das unveränderlich wäre, alles sei in ständiger Veränderung begriffen, sagt auch der Buddhist Oliver Petersen. Das, was ein Trauma hinterlasse, sei nach buddhistischer Lehre nicht „wie ein fester Klotz“ in uns, sondern in ständiger Bewegung.

Wir können also unsere belasteten Orte in solche verwandeln, an die wir wieder zurückkehren können, trotz alledem. Es geht darum, sie als Teil unseres Lebens zu akzeptieren, den Menschen zu vergeben, die uns verletzt haben. Und es geht darum, so eigenartig es sich auch anhören mag: den Orten zu vergeben. Etwa dem Felsen, von dem ein Freund beim Bergsteigen abgestürzt ist, oder dem Meer, in dem ein Kind ertrunken ist. Man kann Orten vergeben. Und sie dann neu eingemeinden. Wenn man es denn will.

Literatur

Sybille Jatzko u.a.: Katastrophen-Nachsorge am Beispiel der Aufarbeitung der Flugtagkatastrophe von Ramstein 1988. Stumpf und Kossendey,Edewecht 2001

Hans J. Markowitsch: Das Gedächtnis. Entwicklung, Funktionen, Störungen. C.H. Beck,München 2009

Hans J. Markowitsch, Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 2006

Daniel Rettig: Die guten alten Zeiten. Warum Nostalgie uns glücklich macht. Dtv premium, München 2013

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2017: Gelassen bleiben