Als Experte für Katastrophenhilfe beschäftigen Sie sich mit der Frage, wie Menschen existenzbedrohende Situationen überstehen können. Wie würden Sie eine derartige Erfahrung definieren?
Eine existenzbedrohende Situation beschreibt die Grenze, die das Leben vom Tod trennt. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Situationen, die aufgrund äußerer Umstände plötzlich entstehen. Die Angehörigen der Passagiere des Germanwings-Fluges kamen durch den Absturz in eine solche Grenzsituation. Ein anderes…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
der Passagiere des Germanwings-Fluges kamen durch den Absturz in eine solche Grenzsituation. Ein anderes typisches Beispiel wäre ein dramatischer Verkehrsunfall, bei dem Sie massiv verletzt worden sind. Sie liegen hilflos auf der Straße, und Gedanken wie „Wie schwer bin ich verletzt? Muss ich jetzt sterben?“ gehen Ihnen durch den Kopf. Sie verspüren Todesangst und haben das Gefühl, dass die eigenen Fähigkeiten nicht mehr ausreichen, um mit dieser Situation zurande zu kommen. So etwas denken Sie nicht, wenn Sie sich nur den Arm gebrochen haben. In Grenzsituationen arbeiten Körper und Psyche auf Hochtouren, um möglichst viele Kraftressourcen und die volle Aufmerksamkeit auf das aktuelle Geschehen zu lenken.
Als Notfallpsychologe treffen Sie häufig auf Menschen in diesen Grenzsituationen. Wie erleben Sie die Betroffenen? Gibt es Reaktionen, die verallgemeinerbar sind?
Bei vielen Menschen, die in extrem lebensbedrohende Situationen geraten, kann man eine akute Belastungsreaktion beobachten. Dabei handelt es sich um eine normale Reaktion der Psyche auf eine abnormale Situation. Die Menschen fühlen sich oft betäubt, haben den Eindruck, als ob sie alles durch eine Milchglasscheibe betrachten würden, alles kommt ihnen unwirklich vor. Sie sagen, dass es sich anfühlt, als sei alles in Watte gepackt. Auch Desorientierung ist typisch, also nicht mehr zu wissen, wo man ist, was man hier tut. Die akute Belastungsreaktion kann direkt nach einem als traumatisch empfundenen Ereignis eintreten und sich über einen Zeitraum von Tagen bis zu vier Wochen danach erstrecken.
Typisch für den Beginn dieser Phase ist auch das Nicht-wahrhaben-Wollen. Der Betroffene gerät durch die akut ausgelösten Gefühle in einen Schock. Das ist eine Schutzreaktion, um die schreckliche Nachricht von der Psyche fernzuhalten. Man verleugnet das Ereignis, indem man so tut, als ob die Information nicht stimme.
Eine absolut existenzbedrohende Situation haben die Angehörigen der Opfer des Flugzeugabsturzes am 24. März 2015 erlebt. Notfallpsychologen waren vor Ort. Angenommen, Sie wären dort gewesen, wie hätten Sie den Angehörigen helfen können?
Das allerwichtigste ist, Informationen über das Ereignis zu sammeln und zu sichern, um sie dann an die Betroffenen zu vermitteln. Leben meine Angehörigen oder nicht: Das müssen die Betroffenen zuallererst wissen. Bei dem Absturz der Germanwings-Maschine war leider fast sofort klar, dass niemand überlebt hat. Im Fall des verschwundenen Flugzeuges der Malaysia Airlines ist die Situation für die Angehörigen noch unerträglicher. Das Flugzeug ist einfach verschwunden, und man hat nichts, keine Spur, keine gesicherte Information.
Die zweite wichtige Aufgabe ist, genau zu schauen, wie der Betroffene die Nachricht verkraftet. Wie kann man ihm die Zeit und einen Raum für seine Emotionen geben? Will er allein sein oder hilft ihm die Anwesenheit von anderen Betroffenen? Es ist die Aufgabe des Nothelfers, Stütze und Halt zu bieten, Optionen aufzuzeigen: Was will der Angehörige tun, zum Unglücksort fahren oder zu Hause bleiben? Das ist individuell sehr unterschiedlich.
Was kann das psychologische Gespräch leisten?
Wenn der Angehörige zum Beispiel sagt, das kann nicht sein, ich habe doch eben noch per SMS mit meinem Kind oder meinem Freund Kontakt gehabt, ist es die Aufgabe des Nothelfers, ihm das Gefühl zu geben, ich verstehe dich und nehme Anteil. Und ich halte das aus. Gefühle der Ohnmacht auszuhalten, das ist wesentlich.
Warum ist die Suche nach dem Schuldigen oder Verantwortlichen so wichtig für die Betroffenen?
Es gibt nichts Schlimmeres als Unsicherheit. Insofern hilft es Betroffenen, wenn sie wissen, wer der Verursacher eines Unglücks war, und wenn dieser zur Verantwortung gezogen werden kann. Es scheint auch das Leid von Angehörigen zu mildern, wenn sie wissen, dass der Schuldige die verdiente Strafe bekommen hat. So beschrieben es Angehörige als belastend, wenn nach einem Unglück, bei dem ihre Kinder verstorben waren, kein Schuldiger festgestellt werden konnte. Einen Grund für das Unglück zu finden hilft enorm, weil es die Handlungsfähigkeit zurückgibt: Wenn ich einen Schuldigen habe, kann man etwas tun. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, ihn im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zu identifizieren und zur Verantwortung zu ziehen. Dies kann für Angehörige eine Form der Genugtuung sein und auch einen gefühlsmäßigen Abschluss eines schrecklichen Ereignisses unterstützen. Geschieht das nicht und die Ursache bleibt im Verborgenen, wird auch die emotionale Verarbeitung erschwert.
Wiedergutmachung, Schmerzensgeld, Entschädigung für Opfer und Angehörige – welche Rolle spielt das Finanzielle bei der Bewältigung von Katastrophen?
Die finanzielle Zuwendung ist ein Symbol dafür, ernst genommen zu werden. Der emotionale Schmerz wird dadurch wertgeschätzt. Darin zeigt sich für die Hinterbliebenen auch, ob die Verantwortlichen ihre Verantwortung übernehmen oder nicht. Geld tröstet natürlich nicht, aber es erleichtert die Umsetzung eigener Strategien. Wenn die Fluggesellschaft finanzielle Soforthilfe anbietet, wenn eine Familie plötzlich den Alleinverdiener verloren hat, kann sie wenigstens erst einmal die Rechnungen bezahlen. Das Geld sagt Entschuldigung und zeigt, dass hinter den Worten auch eine Tat steht.
Was aber, wenn es keinen Schuldigen gibt oder dieser nicht gefunden werden kann – wie zum Beispiel bei Naturkatastrophen?
Dann erfolgt in der Regel eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schicksal. Das kann zum Beispiel dazu führen, moralische Fragen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufzuwerfen: „Geschieht es mir recht? Habe ich Schuld auf mich geladen, und ist dies die gerechte Strafe dafür?“
Oft spielt auch die Religion eine Rolle, um dem schlimmen Erlebnis eine Erklärung oder Bedeutung für das eigene Leben zuzuordnen. Die Religion kann eine Stütze sein, wo die Fakten keine Hilfe mehr bieten können.
Während und in den ersten Wochen nach dem Unglück sind Betroffene meist in einem Strudel von Ereignissen gefangen und kommen nicht zur Ruhe. Was passiert aber, wenn der Alltag wieder einkehrt?
Der Instinkt, am Leben bleiben zu wollen, treibt uns alle seit Beginn unseres Daseins an. Wir entwickeln dabei ungeahnte Fähigkeiten und meistern die extremsten Situationen, um zu überleben. Eigentlich ist der Mensch das ganze Leben damit beschäftigt, nicht zu sterben. Das gilt auch für Menschen, die von einer Katastrophe direkt betroffen sind oder als Angehörige entsetzliches Leid ertragen müssen. Aus der Trauerforschung wissen wir, dass nach der beschriebenen akuten Belastungssituation eine Phase der „aufbrechenden Emotionen“ folgt. Die Betroffenen erleben ein Gefühlschaos aus Schmerz, Angst, Trauer, Sorgen, Ohnmacht, Schuldgefühlen und Niedergeschlagenheit. In einer nächsten Phase versucht man, die Beziehung zum Verstorbenen aufrechtzuerhalten, indem man zum Beispiel Orte aufsucht, die für ihn von Bedeutung waren, oder Gespräche mit ihm führt. Die psychische Funktion für den Hinterbliebenen besteht einerseits in der Akzeptanz des Ereignisses und andererseits in der Einstimmung auf ein Leben ohne den Verstorbenen. Erst wenn all diese Phasen durchlaufen sind, kann es darum gehen, das Erlebte ins Leben zu integrieren und wieder aktiv das eigene Leben zu gestalten.
Zeit heilt alle Wunden?
Wir haben nicht umsonst ein Trauerjahr, wir wissen, dass wir Zeit brauchen, um mit einem Verlust umzugehen und ein neues Leben aufzubauen. Ja, dabei hilft die Zeit. Und der Zeit hilft psychologischer Beistand, fachliche Unterstützung.
Gibt es Menschen, die nach erlebten Extremsituationen besser ins Leben zurückfinden als andere?
Das hängt davon ab, mit welchem emotionalen Rüstzeug die Betroffenen ausgestattet sind. Ich will das an einem Beispiel erläutern: Stellen Sie sich den Ast eines Baumes vor, der früher einmal eine Verletzung an einer bestimmten Stelle erlitten hat. Diese Verwundung heilte zwar, aber eine Narbe blieb zurück. Wenn nun zu einem späteren Zeitpunkt wieder eine Gewalteinwirkung auf den Ast erfolgt, dann wird der Ast an der Stelle der ursprünglichen Verletzung besonders empfindlich sein. Trifft der Schlag einen anderen Ort, dann ist die Verletzung nicht so tief.
Übertragen auf den Menschen heißt das: Es kommt darauf an, ob ein Mensch bereits in jungen Jahren Verletzungen und Traumata erlitten hat. Wenn das Ereignis in die frühere Kerbe schlägt, schmerzt das noch viel mehr und richtet noch mehr Schaden an. Die Frage wäre also: Ist eine Vortraumatisierung vorhanden, und wie wurde sie gelöst? Ich bezeichne das als psychologisches Initialtrauma. Von der Stärke und Heilqualität des psychologischen Initialtraumas und der Wucht des aktuellen Traumas hängt es ab, wie der Betroffene auf die neue Extremsituation reagiert und wie er langfristig damit fertig wird.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, wie viele emotionale Ressourcen man in der aktuellen Situation zur Verfügung hat, oder ob man sowie schon „auf dem Zahnfleisch“ geht. Ist man also bereits ausgelaugt, weil man in den letzten Wochen sehr gefordert war, wird man weniger Kraftreserven zur Verfügung haben, als wenn man vor dem Unglück relativ stressfrei war.
Gerade bei dem Flugzeugabsturz in den französischen Alpen wurde sehr deutlich: Auch die Helfer befinden sich in einer Extremsituation.
Die Kollegen waren in der Tat in einer besonders schweren Situation. Das wird klar, wenn man sich anschaut, welche Ereignisse Helfer besonders belasten. Jeffrey T. Mitchell, Professor an der Universität von Maryland in Baltimore County, hat in einer großangelegten Studie eine Rangreihe erstellt. Notfälle, bei denen das Opfer ungewöhnlich stark betroffen oder ungewöhnlich stark verletzt ist, stehen auf Platz eins, gefolgt von Notfällen, bei denen nahestehende Personen betroffen sind. Auf Platz drei kommen Ereignisse mit übermäßigem Medieninteresse und auf Rang vier erschütternde Notfälle mit Kindern. Beim Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine waren drei dieser Faktoren gegeben.
Können Helfer auf solche belastenden Situationen vorbereitet werden?
Durchaus. Helfer können realistisch üben, verschiedene Fälle durchgehen und sich so die Fähigkeit aneignen, in der echten Situation dann auch entsprechend zu agieren, weil sie wissen, was kommt. Sie wissen, was die Struktur der Situation ist, wenn etwas passiert. Das gilt beispielsweise für Helfer in Hundestaffeln, die Leichenteile suchen müssen. Einen Flugzeugabsturz kann man nicht üben, aber durchaus im Voraus durchdenken. Ein Betreuer muss vor allem die Kontrolle über seine eigenen Emotionen haben. Das heißt nicht, dass da keine Träne kullern darf, aber er darf sich nicht von seinen Gefühlen überschwemmen lassen. Für Helfer ist es enorm wichtig, vorher zu wissen, was für Gefühle es geben kann und wie man sie kontrolliert. Dieses Aushalten gibt dem Betroffenen einen Rahmen, in dem er Halt findet. Um den Helfern wiederum zu helfen, braucht man neben der Supervision im Betreuungsteam und guter Schulung im Voraus Stressbewältigungsprogramme. Stressprävention ist das A und O.
Sie haben viele Menschen in Extremsituationen erlebt. Wie hat das Ihr Leben verändert?
Mit am wichtigsten ist, dass man sich auf die Suche begeben muss, was man mit seiner Zeit Wertvolles machen will. Wie kann ich die Werte pflegen, die mir am wichtigsten sind? Wie die Zeit sinnstiftend nutzen? Es ist fahrlässig sich selbst gegenüber, die Zeit nur damit zu verbringen, Spaß haben zu wollen. Ich will mich nicht zudröhnen oder einlullen lassen in einer Scheinvergnügtheit. Es geht um einen aktiven Umgang mit der eigenen Zeit, der Endlichkeit. Wir haben ja nur ein Leben, wahrscheinlich.
Haben wir in unserer sicherheitsbesessenen Gesellschaft den Gedanken an das Schicksal oder die Fügung, die man hinnehmen lernen muss, verdrängt?
Es herrscht sicherlich die Haltung vor, dass man versucht, Dinge von sich fernzuhalten, und darauf bedacht ist, alles unter Kontrolle zu haben. Wir wollen unbedingt alles vermeiden, was es an dramatischen Ereignissen gibt, so ist unsere Zeit. Doch wir sind da nicht Herr im Haus. Wir können noch so gut vorsorgen, es kann immer plötzlich etwas Schlimmes geschehen.
Über seine Erfahrungen mit Menschen in Katastrophenfällen berichtet Cornel Binder-Krieglstein in seinem Buch Ich will leben. Menschen in Extremsituationen (Goldegg-Verlag).