Nichtstun - Die unverzichtbare Strategie für Vielbeschäftigte

Wenn du viel zu tun hast – tue am besten mal nichts. So könnte man neue Erkenntnisse von Psychologen und Neurowissenschaftlern zusammenfassen. Sie zeigen: Unser Gehirn braucht Zeiten der absoluten Ruhe. Regelmäßiges Nichtstun ist die Voraussetzung für Kreativität, Selbsterkenntnis und Gesundheit. Die Frage ist nur: Wie geht das – gar nichts tun?

Wann haben Sie das letzte Mal nichts getan? Wirklich nichts. Nicht ferngesehen, nicht gelesen, keine Mails gecheckt, weder an Ihrer Vorhand noch an der Karriere noch an der Beziehung gearbeitet. Auch nicht an Ihrem Zeitmanagement und erst recht nicht an Ihrem Alleinstellungsmerkmal. Wann haben Sie sich zuletzt aus vollem Herzen dem süßen Nichtstun hingegeben und der Leere, die entsteht, wenn alle Aktivitäten ruhen und sich nur die Bauchdecke beim Atmen hebt und senkt?

Beim Lesen dieser Zeilen entfährt Ihnen…

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ruhen und sich nur die Bauchdecke beim Atmen hebt und senkt?

Beim Lesen dieser Zeilen entfährt Ihnen vielleicht ein Seufzer. Ach ja, nichts tun, im Moment verweilen, einfach sein, wie schön, sollte man unbedingt mal wieder. Ein Anflug von Sehnsucht umweht Sie, und gleichzeitig werden Sie ganz kribbelig bei der Vorstellung, nichts zu tun. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass Sie nicht mal mehr wissen, wie man Nichtstun buchstabiert, auch das Wort Muße hat sich längst aus Ihrem aktiven Wortschatz verabschiedet.

Obwohl wir uns danach sehnen, endlich einmal nichts tun zu müssen, und gerne und viel darüber reden, wie schön es wäre, wenn wir Raum und Zeit dafür hätten, tun wir uns in der Praxis schwer damit. Wir möchten so gerne müßig sein, schwelgen in verlockenden Fantasien, aber es kommt immer etwas dazwischen. Vielleicht lesen wir ein Buch zum Thema und nehmen uns vor, bei nächster Gelegenheit damit ernst zu machen. Doch es gibt immer gute Gründe, das Nichtstun zu verschieben. Erst muss noch die Steuer abgegeben, der Garten umgegraben, das Bad geputzt und die Küche aufgeräumt werden.

„Da wir so daran gewöhnt sind, immer etwas zu tun, geht es uns völlig gegen den Strich, überhaupt nichts zu tun. Es sein zu lassen, etwas zu tun, kann nicht getan werden.“ So bringt der Meditationslehrer Karl Brunnhölzl das Paradoxon auf den Punkt. Zum einen haben wir den Schlüssel zum Nichtstun verloren, wir wissen nicht mehr, wie es geht, aus dem Hamsterrad der Geschäftigkeit auszusteigen. Zum anderen bläst uns der Zeitgeist unwirsch ins Gesicht, wenn wir mal beschließen, fünfe gerade sein zu lassen, und uns mental oder sogar physisch in die Hängematte legen.

Nichtstun klingt in unserer hyperaktiven, von chronischer Geschäftigkeit gezeichneten Zeit geradezu obszön. Nach Stillstand, Zeitverschwendung, Faulheit, nach einem Verstoß gegen das Effizienzgebot und den kategorischen Imperativ, ständig das Beste aus sich und seiner Zeit herauszuholen. Und das kann doch nicht nichts sein. Muße schreit sofort nach Buße. „Freisein von Geschäften oder Abhaltungen“ – so definiert das grimmsche Wörterbuch Muße. Ein solcher Zustand ist in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen.

Nun könnte man einwenden: Wenn es offensichtlich so schwer ist mit der Muße, warum geben wir das Projekt, endlich mal nichts zu tun, nicht einfach auf, machen unseren Frieden mit der Hyperaktivität und haben ein Problem weniger? Doch diese Schlussfolgerung wäre aus vielerlei Gründen fatal. Dass erschreckend viele Menschen an der Unfähigkeit zur Muße leiden und ernsthaft krank werden, weil sie sich keine Pause gönnen und ständig über ihre Grenzen gehen, darüber wird täglich berichtet. Achtsamkeitskurse boomen, und Meditations-CDs haben hohe Verkaufszahlen. Auch gibt es eine Reihe einschlägiger Bücher, die zur Muße anstiften wollen. Meist lassen die Autoren eine Armada kluger Männer und Frauen aufmarschieren, die seit Jahrtausenden die Vorzüge des Müßiggangs preisen und darauf hinweisen, dass die Menschheit ohne die Müßiggänger immer noch im Zustand der Barbarei wäre. Auch fehlt nicht der Fingerzeig, dass Muße keineswegs nur mit Abhängen gleichzusetzen ist, sondern auch entspanntes zweckfreies Tun um seiner selbst willen bedeutet. Wer selbstvergessen Klavier spielt, sich am Fotografieren erfreut, in einem Roman versinkt oder in der Badewanne ein Lied trällert, tut in diesem Moment nichts fürs Bruttosozialprodukt.

Relativ neu ist, dass im Chor der Mußebefürworter neben Psychologen, Philosophen, Romanciers und Weisheitslehrerinnen jetzt auch Neuro- und Kognitionswissenschaftler mitsingen. In seinem Buch Öfter mal auf Autopilot. Warum Nichtstun so wichtigist (Goldmann 2014) plädiert der Kognitionswissenschaftler Andrew Smart dafür, dem Gehirn möglichst oft Ruhepausen zu gönnen. „Auch wenn unser Geist für intensive Aktivitäten außerordentlich gut entwickelt ist, muss unser Gehirn, um normal funktionieren zu können, auch müßig sein, und das sogar sehr häufig“ schreibt Smart. Chronische Geschäftigkeit sei schlecht für das Gehirn und könne auf lange Sicht der Gesundheit schaden. „Kurzfristig zerstört starke Geschäftigkeit die Kreativität, die Selbsterkenntnis und das emotionale Wohlbefinden, und sie kann das Herz-Kreislauf-System schädigen.“ Smart propagiert regelmäßiges Nichtstun als Weg zur Selbsterkenntnis und Kreativität. Sein Buch will er ausdrücklich als wissenschaftlich fundierte Lizenz zum Faulenzen verstanden wissen. Er verordnet seinen Lesern träge Nachmittage im Park und Ruhepausen auf der Bürocouch, „weil Assoziationen, Erinnerungen und Gedanken womöglich einen ruhenden Geist brauchen, um den Weg durch unser Gehirn zu finden und neue Verknüpfungen zu bilden“.

Smart beruft sich auf das default mode network im Gehirn, das im Deutschen meist mit Ruhezustand-Netzwerk übersetzt wird und 2001 von Marcus Raichle, einem Neurowissenschaftler an der Universität in St. Louis, entdeckt wurde. Dieses Netzwerk ist hochaktiv, wenn wir nichts tun. Die überraschend intensive Gehirntätigkeit, die auftritt, wenn wir untätig sind, wurde durch Zufall entdeckt, als Probanden bei Experimenten mit bildgebenden Verfahren einfach nur in den MRT-Geräten lagen und vor sich hinträumten. Andrew Smart geht davon aus, dass das default mode network auch aktiv ist, wenn wir uns nicht an einem von außen auferlegten Zeitplan orientieren, unserem eigenen Rhythmus folgen und die Gedanken zu allem wandern lassen, was gerade ins Bewusstsein dringt.

Der Berliner Mediziner Andreas Horn hat drei Jahre lang am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Arbeitsweise dieses Ruhenetzwerks untersucht. Gemeinsam mit anderen Forschern analysierte er in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und dem Universitätsklinikum Freiburg erstmals gleichzeitig 1,6 Milliarden Verbindungen innerhalb des Gehirns. „Wenn wir untätig sind und gerade keinen äußeren Einflüssen ausgesetzt, ist das default mode network aktiv“, erklärt Horn. „Dann fangen wir unbewusst an, uns Fragen zu stellen. Wir denken über Vergangenes nach, reflektieren noch einmal schwierige Situationen oder stellen uns die Zukunft vor.“ Wie ein Autopilot wird das Netzwerk aktiv, wenn wir uns Tagträumen hingeben, faul im Gras liegen und dösen oder bei der Arbeit aus dem Fenster starren. Auch beim Meditieren ist das Ruhenetzwerk höchst aktiv.

„Unsere Studienergebnisse geben Hinweise darauf, dass der strukturelle Aufbau des Gehirns dafür sorgt, dass es sich automatisch in einen sinnvollen Zustand fährt, solange es nicht für andere Tätigkeiten gebraucht wird“, sagt Andreas Horn. Von ihren Erkenntnissen erhoffen sich die Forscher, die Gehirnfunktion von Gesunden, aber auch die Entstehung von neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder psychiatrischen Krankheiten wie der Schizophrenie besser zu verstehen. Andreas Horn sieht sich als Grundlagenforscher. Aus den Erkenntnissen über den Aufbau des Netzwerks will er keine direkten Empfehlungen für den Alltag ableiten.

Andrew Smart hingegen interessiert sich vor allem dafür, wie Ruhephasen die natürliche Neigung des Gehirns verstärken, Empfindungen und Erinnerungen zu neuen Ideen zu verknüpfen. „Denken Sie daran, dass Ihr default mode network sich schlafen legt, solange Sie Ihre To-do-Listen checken, sicherstellen, dass Sie eine Rechnung beglichen haben, produktiv arbeiten oder Ihre Zeitmanagementfähigkeiten verbessern.“

Es spricht also einiges dafür, dass Mußezeiten kein Luxus, sondern eine pure Notwendigkeit sind, nicht nur um im Gleichgewicht zu bleiben, sondern auch um ohne Umwege das Richtige zu tun. Nur wenn wir regelmäßig Pausen machen, die Gedanken schweifen lassen, uns Tagträume erlauben, meditieren oder einfach dösen, sind wir in der Lage, uns von den vielen Eindrücken zu erholen. Nur dann können wir das, was wir erleben, verarbeiten und die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Nur wenn wir nichts tun, trennen sich die unwesentlichen Gedanken von den wesentlichen, und wenn wir noch tiefer gehen, betreten wir den Raum jenseits des Denkens. Dann wird es spannend. „Brachzeiten“ nennt die Zenmeisterin Anna Gamma (siehe Interview Seite 22) diese konzentrierten Momente der Muße. Pflegen wir sie nicht gebührend, so verlieren wir den Kontakt zu uns, wissen nicht mehr, was wir wirklich wollen, und stürzen uns kopflos in Aktivitäten. Wir sollten also schleunigst damit anfangen, nichts zu tun. Am besten sofort.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2015: Nichtstun