Herr Dr. Bonelli, in Ihrem aktuellen Buch Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird beschreiben Sie eindrucksvoll die Gefahren des Perfektionismus. Ist denn Perfekt-sein-Wollen immer schädlich?
Durchaus nicht. Das gesunde Perfektionsstreben spielt eine wesentliche Rolle in unserem täglichen Leben: Wir wünschen uns beispielsweise ganz selbstverständlich, dass der Automechaniker unseren Wagen perfekt herrichtet. Nicht nur zu 80 Prozent, sondern er soll ihn hundertprozentig reparieren. Sich hohe Ziele zu…
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herrichtet. Nicht nur zu 80 Prozent, sondern er soll ihn hundertprozentig reparieren. Sich hohe Ziele zu setzen ist also nicht prinzipiell verkehrt. Wir alle richten unser Leben nach Vorgaben oder Idealen aus, diese kann man Soll-Werte nennen. Der Ist-Wert stellt in diesem Bild unsere Realität dar. Zwischen Ist- und Soll-Wert besteht daher immer ein gewisser Abstand, der Spannung erzeugt. Ein gesunder Mensch erträgt diese Diskrepanz mit Leichtigkeit. Er weiß, dass er nicht vollkommen ist. Bei ihm hat das Soll die sinnvolle Funktion, ein Wachstum des Ist-Zustandes zu bewirken. Beim Perfektionisten besteht genau hier das Problem: Er wird durch die Diskrepanz innerlich zerrissen, das Soll ist für ihn ein Muss, ein unerträglicher Vorwurf. Das Problem des Perfektionisten ist also nicht ein zu hohes Soll, sondern ein Nicht-Aushalten der Ist-Soll-Spannung.
Verstehe ich das richtig: Wenn Menschen diese Spannung nicht aushalten können, werden sie zum Perfektionisten?
Ja. Sie versuchen, diese Spannung zu vermeiden. Perfektionismus ist in erster Linie ein ängstliches Vermeidungsverhalten. Vermieden werden sollen Fehler, alles, was nicht hundertprozentig perfekt ist. Angestrebt wird das Tadellose mit der Motivation der bombensicheren Unantastbarkeit. Denn die Wurzel des perfektionistischen Handelns ist eine tiefe Angst: Es geht dem Perfektionisten darum, „tadellos“ zu sein. Dahinter steht die Panik, getadelt zu werden, kritisiert zu werden. Er hat Angst davor, dass jemand mit dem Finger auf seine Fehler zeigt. Angst, nicht zu genügen, nicht zu gefallen. Angst, ausgeschlossen zu werden, wenn er nicht genug leistet, nicht genug zu bieten hat. Es ist letztlich die Angst vor der völligen Entwertung der eigenen Person.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Gewissenhaftigkeit und Perfektionismus?
Der Unterschied besteht in den beschriebenen Ängsten. Der Perfektionist ist in seinem Ich gefangen. Nehmen wir als Beispiel einen Bildhauer: Der Gewissenhafte liebt das Kunstwerk, das er schafft. Er geht ganz in diesem Werk auf, vergisst sich selbst beim Arbeiten, er hat während des Schaffens ein Flow-Erlebnis.
Der Perfektionist denkt beim Entwickeln der Skulptur ängstlich: Was werden die anderen denken? Werden sie begeistert sein von meinem Werk? Oder: Oh je, sie werden es nicht mögen. Er ist ichhaftig, unfrei, kann sich nicht auf das Werk selbst konzentrieren, sondern ist auf Außenwirkung bedacht.
Was verstehen Sie unter Ichhaftigkeit?
Der Individualpsychologe Fritz Künkel hat das so benannt. Er beschrieb die psychischen Vorgänge als Antagonismus zwischen Ichhaftigkeit und Sachlichkeit. Ichhaftigkeit ist dabei keine rationale Entscheidung, es handelt sich um ein Denkmuster. Es zeigt sich nicht in dem, was jemand tut, sondern in dem, was beim Handeln in ihm vorgeht. Der „sachliche“ Mensch hilft beispielsweise einem anderen und ist gedanklich bei der Not des anderen. Der Ichhafte denkt beim Helfen über sich in der Helferrolle nach und möchte, dass die Tat gesehen und bewundert wird.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meiner Praxis: Zu mir kam mal eine junge Frau, eine Studentin. Sie wollte in der Psychotherapie bearbeiten, warum sie so viel Mitleid mit anderen Menschen hatte. Wir schauten uns dann ihr „Mitleid“ genauer an. Es zeigte sich: Die Patientin nahm in ihren Gesprächen immer die Helferrolle ein, aber gleichzeitig gingen ihr dabei ständig Fragen im Kopf herum: Wie komme ich bei meinem Gegenüber an? Bin ich auch empathisch genug, während ich mir das Leid anhöre? Ist meine Körperhaltung adäquat? Wird derjenige, den ich tröste, wieder zu mir kommen? Was wird er nachher über mich als Helfer wohl sagen? Wird er sagen, dass ich ihm gut geholfen habe?
Dass in ihren sozialen Interaktionen all diese Fragen präsent waren, war meiner Patientin nicht bewusst. Sie war tief betroffen, als sie das erkannte. Vorher war ihr nicht zugänglich, was sie alles so dachte beim Helfen und wie sehr sie die eigene Person, ihren Ruf, die Beurteilung durch andere in den Fokus stellte. Die Sorge, als Helferin alles richtig zu machen, war bei ihr der Grund, warum sie so viel Mitleid und Empathie hatte. In Wirklichkeit war sie in sich selbst gefangen.
Der Perfektionist fürchtet ständig, Fehler zu machen, weil sonst sein Selbstwertgefühl leidet?
Genau. Nun sind wir alle nicht perfekt – Fehler zu machen ist etwas sehr Menschliches. Nichtperfektionistische Menschen halten diese Fehlerhaftigkeit der eigenen Person auch aus. Für Perfektionisten ist dies kaum möglich, denn sie zeichnet ein Alles-oder-Nichts-Denken aus. Es bedeutet: Entweder ist alles perfekt und fehlerfrei oder, wenn es das nicht ist, dann ist alles nichts wert. Das betrifft sowohl eine Arbeit als auch den Umgang mit anderen Menschen, es kann auf alle Lebensbereiche angewandt werden. Der Perfektionist unterliegt dem Irrglauben: Wenn er etwas nicht perfekt meistert, ist er komplett gescheitert. Das Schlimmste dabei ist: Von diesem Scheitern oder Gelingen hängt das Selbstwertgefühl des Perfektionisten ab. Perfektionisten legen daher eine Maske an, um ihr fehlerhaftes Ich zu verstecken.
Wie sieht diese Maske des Perfektionisten aus?
Der Perfektionist trägt eine Maske der Makellosigkeit, um sich zu schützen. Er schlüpft in die Rolle des unfehlbaren Menschen. Die Folge ist aber, er ist dann nicht mehr er selbst. Die Maske kann so fest anwachsen, dass der Perfektionist gar nicht mehr weiß, dass er sie trägt.
Typischerweise wirken Menschen mit perfektionistischer Neigung daher wenig authentisch und persönlichkeitsarm auf andere. Im Umgang mit anderen tun sie sich eher schwer, oft nimmt man sie als rigid, unbeweglich und humorlos wahr.
Den Seelenapparat des Perfektionisten habe ich in meinem Buch als ein Geflecht von Zahnrädern beschrieben, die starr ineinandergreifen. Das Bild soll verdeutlichen, dass es sich um ein rigides System handelt: Es arbeitet mit einer Berechenbarkeit, die helfen soll, Fehler zu vermeiden. Mit so einem starren Seelenapparat geht dem Perfektionisten die Spontanität verloren. Für ihn gilt, was für alle Menschen mit Ängsten gilt: Sie sind weniger frei und weniger spontan als Gesunde.
Der Perfektionist trägt die Maske, um vor sich selbst und anderen gut dazustehen – aber er erreicht damit eher das Gegenteil?
Ja. Viele Perfektionisten sind unbewusst übermäßig stark auf ihren Ruf bedacht. Sie stressen sich mit der unlösbaren Frage, was wohl die anderen denken. Wie man sich gut vorstellen kann, ist dies eine Eintrittspforte in das Unglücklichsein. Denn es ist unmöglich, allen immer zu gefallen. So ein Streben gleicht einer Sisyphusarbeit: Kaum hat man es einem recht gemacht, meldet schon ein anderer Wünsche oder Bedürfnisse an, auf die sich der Perfektionist einstellen soll.
Das Problem der Betroffenen, schreiben Sie, sind innere Dogmen. Was verstehen Sie darunter?
Bei inneren Dogmen handelt es sich um ein unbewusstes Muss, das die Wurzel der Psychodynamik darstellt. Diese Glaubenssätze steuern das Leben in hohem Maße – gleichzeitig sind sie uns aber erst einmal nicht zugänglich. Wenn man dem Perfektionisten sein eigenes inneres Dogma vorlegen würde – er würde es als Handlungsmaxime für sein Leben ablehnen. Es kennzeichnet Perfektionisten, dass sie eben nicht wissen, dass sie ihr Leben danach ausrichten.
Innere Dogmen sind unbewusst wirkende Lebensanschauungen oder Handlungsanweisungen?
Genau. Sie wirken wie ein diffuses Gefühl, es ist nicht reflektiert und wird daher nicht hinterfragt. Erst wenn uns bewusst wird, was hinter unserem Handeln oder Denken steht – welches innere Dogma –, können wir es ändern.
Was beinhalten diese inneren Glaubenssätze?
Das hängt stark vom klinischen Bild des Perfektionisten ab. Woran die meisten bei Perfektionismus denken, ist der klassische Karrieremensch: Der lebt nach dem Dogma „Ich bin nur etwas wert, wenn ich auch etwas leiste“. Denn der Leistungsverlust geht– mit diesem inneren Dogma – mit dem völligen Einbüßen des eigenen Wertes einher.
Aber es gibt noch viele andere Lebensbereiche, in denen Perfektionismus auftritt. Eine moderne Störung ist die Orthorexie: Das sind Menschen, die übermäßig darauf bedacht sind, das Richtige zu essen – mit einer moralisierenden Dimension. Hier handelt es sich um ein überzogenes Gesundheitsbewusstsein. Das innere Dogma könnte hier lauten: „Wenn ich nicht immer gesundes Gemüse esse, werde ich ernsthaft krank!“
Eine andere Form des Perfektionismus sehe ich bei der Anorexie. Die Betroffenen denken im Sinne ihres eigenen Körpers perfektionistisch. Ihr inneres Dogma wäre: „Je dünner ich bin, desto liebenswerter bin ich.“ Ein weiteres Beispiel sind Menschen mit einem Schönheitswahn, einer körperdysmorphen Störung. Hier könnte der Glaubenssatz lauten: „Ich bin nur etwas wert, wenn meine Brüste groß genug sind.“ Es gibt also ganz verschiedene Dimensionen, auf denen Menschen aufgrund von inneren Glaubenssätzen einen Perfektionismus entwickeln.
Sind Menschen meist generell Perfektionisten, also in allen Lebensbereichen?
Leistungsdenker haben oft auch eine Neigung zum Schlankheits- und Schönheitswahn. Umgekehrt sind anorektische Patienten in der Regel auch leistungsorientiert. Dort gibt es also Zusammenhänge. Meine Erfahrung ist aber, dass der Perfektionismus meist nur in einem Bereich wirklich krankhaft durchschlägt.
Das klingt alles sehr anstrengend.
Ja! Perfektionistisches Denken führt zum Disstress – zum ungesunden, krankmachenden Stress. Perfektionisten sind oft auch körperlich angespannt, sie haben einen erhöhten Muskeltonus, vor allem im Nackenbereich. Die Verdrängungsarbeit fordert sehr viel Kraft. Perfektionisten sind angestrengt – sie sind aber auch anstrengend für die anderen Menschen. Daher stellen sie auch in der Beziehung eine Belastung dar.
Wie sieht eine Psychotherapie für Perfektionisten aus?
Eine Psychotherapie öffnet zunächst einmal das Bewusstsein für die Tatsache, dass es dieses innere Dogma gibt und dass der Mensch sein Leben unbewusst auf diese Glaubenssätze hin ausrichtet. Wird das innere Dogma bewusst, ist es erstmals für die Vernunft angreifbar. Das Faszinierende ist: Wenn Patienten im Laufe der Therapie so ein inneres Dogma bewusstwird, können sie es kaum glauben. Sie sagen dann oft: „Was denke oder fühle ich da für einen Blödsinn!“
Nehmen Sie als Beispiel das Dogma des Leistungsmenschen: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste.“ Das bedeutet eine katastrophale Selbstwertproblematik, wenn dieser Mensch sich eine Leistungspause, Muße oder eine Auszeit gönnt. Die eigenen Dogmen zu erkennen wirkt daher auch entlastend. Beispielsweise weil Betroffenen dadurch der Motor deutlich wird, der hinter ihrem Drang steht, ständig etwas zu leisten und nicht ausruhen oder genießen zu können.
Abgesehen von einer Psychotherapie – was können Menschen für sich selbst tun, die perfektionistische Züge an sich entdecken?
Sie können beispielsweise ein Buch darüber lesen – möglichst eines mit Patientengeschichten. Diese sind lebendiger, sie haben mehr „Fleisch“ als Fachbücher und machen es dem Leser leichter, sich selbst in den Geschichten anderer zu erkennen. Der erste Schritt wäre, diese Patientengeschichten zu lesen und über sie zu staunen. In einem zweiten Schritt können sie dann Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Verhalten wahrnehmen. Ganz wichtig ist der dritte Schritt: Die Betroffenen sollten über sich selbst lachen können. Humor ist für mich der Königsweg.
Aber Ihre Frage war: Wie kann man sich selbst therapieren? Ich denke, häufig braucht man professionelle Hilfe. Besonders wenn der Perfektionismus stark ausgeprägt ist. Perfektionismus ist keine Kleinigkeit, man kann ihn nicht mit einem Buch vom Tisch wischen. Aber es kann der Anfang der Selbsterkenntnis sein und Mut machen.
Weil man erkennt, dass man nicht allein ist?
Genau. Weil man sich in anderen wiedererkennt und schmunzeln kann. Weil man lernt, dass es keine Schande ist, so zu fühlen. Weil es für das Befinden einen Namen gibt und weil es veränderbar ist. Es gibt eine Hoffnung.
Raphael M. Bonelli, Jahrgang 1968, ist Neurowissenschaftler an der Sigmund-Freud-Privat-Universität Wien und Psychiater mit eigener Praxis. Sein Buch Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird ist im November 2014 im Pattloch-Verlag erschienen.