Frau Boshammer, als Moralphilosophin beschäftigen Sie sich auch mit moralischen Fehlern und wie wir damit umgehen. Wie muss man sich das konkret vorstellen, wie definieren Sie, was ein moralischer Fehler ist?
Ich verstehe Moral als eine Art Maßstab der Gestaltung von Beziehungen. Seine Besonderheit besteht darin, dass Moral unseren Umgang miteinander reguliert, unabhängig von unseren konkreten sozialen oder emotionalen Bindungen. Dabei ist zentral, dass jede und jeder von uns die gleichen grundlegenden…
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oder emotionalen Bindungen. Dabei ist zentral, dass jede und jeder von uns die gleichen grundlegenden Ansprüche geltend machen kann: Wir dürfen voneinander erwarten, dass wir bestimmte Dinge füreinander tun und andere niemandem antun – egal, ob wir uns kennen und mögen, miteinander verwandt oder einander unbekannt sind. Moralische Fehler verletzen diese Ansprüche, und mich interessiert, was das mit der Beziehung zwischen Menschen macht, und wie sich die Störung infolge eines Unrechts reparieren oder besser: integrieren lässt.
Nehmen wir zunächst die Sicht eines Betroffenen ein: Wann können wir eine Entschuldigung einfordern?
Grundsätzlich haben wir diesen Anspruch nur, wenn uns wirklich Unrecht geschehen ist. Das zu betonen ist wichtig, weil wir im Alltag häufig übersehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Unrecht, also der Verletzung von berechtigten Ansprüchen, und Schaden oder Schmerz. Viele erwarten eine Entschuldigung, wenn jemand ihnen wehgetan hat – etwa eine verzweifelte Person, die vom Partner oder der Partnerin verlassen wurde, ein Enttäuschter, der bei einer Beförderung nicht zum Zuge kam, oder Menschen, deren Gefühle verletzt wurden. Dass wir dann leiden, ist verständlich. Doch Leid, so hat es Albert Camus formuliert, verleiht keine Rechte – auch kein Recht auf Entschuldigung.
Was gibt uns dann dieses Recht?
Nur wenn jemand uns Unrecht getan hat, also moralischen Normen zuwidergehandelt hat. Und selbst das reicht nicht aus: Ein Recht auf Entschuldigung habe ich erst, wenn jemand Ansprüche wissentlich verletzt hat. Wenn ich zum Beispiel nicht ahnen konnte, dass die Kollegin mir im Vertrauen von ihrer bevorstehenden Scheidung erzählte, hat sie kein Recht darauf, dass ich mich bei ihr entschuldige, wenn sie später mitbekommt, dass ich die Information weitergegeben habe. Dass ich mich rechtfertige und erkläre, darf sie erwarten.
Was macht aus Sicht der Moralphilosophie eine Entschuldigung aus?
Sie ist erstens das Eingeständnis, dass mein Verhalten moralisch falsch war. Darin unterscheidet sie sich von der Rechtfertigung, die zeigen soll, dass mein Verhalten okay war. Entschuldigen ist zweitens das Zugeständnis, dass der andere zu Recht empört ist: Ich anerkenne die Berechtigung von Groll oder Vorwürfen. Eine Entschuldigung ist drittens eine Bitte an den anderen, diese Gefühle und Haltungen zurückzunehmen. Damit äußere ich den Wunsch, dass der andere diesen Gefühlen nicht erlaubt, unsere Beziehung zu beeinflussen. Für die Glaubwürdigkeit und den Erfolg ist zudem entscheidend, dass ich viertens eine aufrichtige und glaubwürdige Versicherung abgebe, mich zu bessern, und fünftens zum Ausdruck bringe, dass mir mein Verhalten aufrichtig leid tut.
Sind wir moralisch verpflichtet, eine Entschuldigung zu akzeptieren und zu verzeihen? Gibt es ein Recht auf eine zweite Chance?
Wir sind verpflichtet, eine Entschuldigung anzunehmen, die diese fünf Bedingungen erfüllt. Damit beginnt der Prozess der Versöhnung, und meines Erachtens schulden wir einander diese Chance, weil wir alle moralische Fehler machen und anderen nicht verweigern dürfen, was wir selbst in Anspruch nehmen wollen. Ob der Prozess in Vergebung endet, ja ob es ein Recht auf diesen Erfolg geben kann, ist eine andere Frage, und da bin ich skeptisch. Eine Pflicht zu verzeihen kann schon daran scheitern, dass wir den Groll nicht kontrollieren können. Aber wir sind nicht ohne Einfluss auf unsere Gefühle, wissen, wie man Empörung, Wut und Ärger nährt und am Leben hält – sich zu entscheiden, das nicht zu tun, also den Groll auszuhungern, ist ein großer Schritt auf dem Weg zum Verzeihen.
Gibt es andererseits unverzeihliches Unrecht? Kann es sogar moralisch falsch sein, jemandem zu vergeben, weil ein Unrecht damit quasi aus der Welt geschafft wird? Kann Unversöhnlichkeit angemessen sein, weil sie Grenzen des Zumutbaren verdeutlicht, die ja auch definiert werden müssen?
Unverzeihliches Unrecht kann heißen, dass man nicht verzeihen kann oder darf. Es gibt moralische Untaten, bei denen normale Menschen schlicht nicht imstande sind, Groll, Erniedrigung und Empörung zu überwinden. Menschen, denen das gelingt, die etwa ihren Folterern vergeben, halten wir zu Recht für moralische „Heilige“. Dennoch vertreten manche Philosophen die Meinung, dass es auch im zweiten Sinne unverzeihliches Unrecht gibt, also manchmal Versöhnung nicht erlaubt ist. Denn die Gefahr bestehe neben dem Verlust der Selbstachtung auch in der Erosion der moralischen Normen: Wer zu schnell versöhnt ist, macht den Eindruck, er achte seine Ansprüche selbst nicht genug. Man gebe Tätern letztlich das Signal, dass sie so mit uns verfahren durften, und untergrabe die Bindungswirkung moralischer Normen.
Wie ist Ihre Position?
Ich glaube, dass diese Gefahr bei einer aufrichtigen Entschuldigung nicht besteht, denn die beinhaltet ja das Bekenntnis zur Geltung dieser Normen und die Bekräftigung der Ansprüche des Opfers. Jemandem dann zu verzeihen, kann die Selbstachtung durchaus stärken. Dennoch sind die Hinweise auf die Gefahren von Versöhnlichkeit wichtig, weil sie deutlich machen, dass manchmal eine Entschuldigung Öffentlichkeit braucht: Unrecht hat nicht nur Opfer, sondern oft auch Zeugen. Andere erleben, wie herablassend der Nachbar seine Frau behandelt, wie verächtlich die Kollegin mit ihrem Sohn umgeht. Damit klar ist, dass ihr Handeln Unrecht darstellt, müssen Entschuldigungen auch für Zeugen erkenntlich sein.
Wechseln wir die Perspektive in die Rolle des „Übeltäters“. Fast jeder von uns dürfte schon bewusst gegen die Interessen anderer gehandelt haben. Wie geht man angemessen mit eigenen moralischen Fehlern um? Darf ich ein „Schwamm drüber“ erwarten, oder soll ich mir Asche aufs Haupt streuen?
Die Redewendungen sind gute Bilder beim Umgang mit eigenem Fehlverhalten. Die Asche auf meinem Haupt fängt den öffentlichen Bekenntnischarakter von Entschuldigungen ein: Ich lege sie mir selbst auf, und sie ist für andere sichtbar. Das ist bei moralischem Unrecht angemessen. Also ja: Asche auf mein Haupt! Der „Schwamm drüber“ ist ebenso wichtig, allerdings liegt er nicht in meinen Händen. Das dürfen nur Leidtragende sagen. Wenn sie die Asche von meinem Haupt entfernen, gelingt der Prozess des Verzeihens. Verweigern sie es, muss ich mit der Asche leben. Aber ich darf hoffen, dass sie mit der Zeit verfliegt – wiederum ein schöner Aspekt des Aschebildes. Wir dürfen uns selbst vergeben, indem wir die Entschuldigung aufrichtig leben. Das braucht Zeit.
In Alltagskonflikten lässt sich die Frage von „Schuld“ oft gar nicht so einfach klären. Wer wem was angetan und wie unmoralisch gehandelt hat, kann ein unentwirrbares Dickicht beiderseitiger Handlungen sein. Wie kommt man zu einer gemeinsamen Sicht auf die Schuldfrage?
Es ist nicht immer möglich, eine gemeinsame Sicht auf die Schuldfrage zu gewinnen – aber auch nicht immer nötig. Oft kann es die Lage entspannen, wenn ich feststelle, dass der andere immerhin überzeugt war, das Richtige zu tun. Auch wenn ich seine moralischen Ansichten nicht teile, muss ich sein Verhalten dann immerhin nicht als bewusste Verletzung meiner Ansprüche sehen. Der Konflikt versetzt uns in die Lage, uns über moralische Erwartungen auszutauschen und überzogene Ansprüche zu entlarven. Der Konflikt ist damit nicht behoben, aber es ist ein wichtiger Schritt, ihn in Zukunft zu entschärfen.
Susanne Boshammer ist Professorin für praktische Philosophie. Nach Stationen an den Universitäten Zürich und Bern lehrt sie heute an der Universität Osnabrück. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit der normativen Ethik auseinander, also der Frage, woran man sein Handeln ausrichten soll und wie man in konkreten Situationen zwischen Handlungsalternativen am besten entscheidet.