Das Liebes-Grundeinkommen

Beim Friseur stößt unsere Kolumnistin auf die Idee, sich selbst bedingungslos zu lieben – und schüttelt den Kopf darüber.

Die Illustration zeigt eine Frau mit langen Haaren beim Friseur und philosophiert über das bedingungslose Liebes-Grundeinkommen
Beim Friseur-Besuch philosophiert Mariana Leky über die Grenze zwischen Egoismus und Selbstliebe © Elke Ehninger

Heute gehe ich zu einem neuen Friseur, weil er der einzige ist, der spontan Zeit hat. Wenn ich mich zu einem Friseurbesuch durchringe, muss der noch am gleichen Tag stattfinden, sonst überlege ich es mir anders.

Mein Onkel ruft an, ich sage: „Ich kann jetzt nicht, ich muss leider Gottes zum Friseur.“ Mein Onkel erzählt, dass früher, als er noch Psychoanalytiker war, die Friseurbesuche seiner Patientinnen immer mindestens eine Therapiesitzung in Anspruch nahmen. Männliche Patienten erwähnten ihre Friseure…

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eine Therapiesitzung in Anspruch nahmen. Männliche Patienten erwähnten ihre Friseure nicht weiter, was daran liege, dass es für Männer nur circa zwei mögliche Haarschnitte gebe. Für Frauen, erzählt mein Onkel, spiele sich beim Friseur mitunter das Drama ihres Lebens ab. Man hat dem Fri‑seur genau gesagt, wie man sein Haar haben möchte, aber er hat nicht zugehört oder einen nicht verstanden und hat einem etwas ganz anderes an den Kopf geschnitten, und dann läuft man unverstanden und entstellt und wie mit Pech begossen nach Hause. „Also dann, viel Glück“, sagt mein Onkel, „und ruf mich bloß nicht hinterher an. Ich bin in Rente.“

Ich habe keine Angst vor Dramen beim Friseur, ich finde Friseurbesuche einfach sehr lästig. Sobald ich mich auf den Haarschneidestuhl setze, überfällt mich gähnende Langeweile. Ich möchte nicht mindestens eine Dreiviertelstunde lang in einen Spiegel starren, die Gala habe ich immer schon im Wartezimmer des Physiotherapeuten gelesen, und ich möchte mich auch nicht über Für und Wider meiner Haarstruktur unterhalten. Am liebsten wäre mir, wenn ruckzuck und schweigend das Fisseligste abgeschnitten würde.

Der Friseur, der spontan Zeit hat, sieht teuer aus, und es hängt keine Preistafel im Fenster. Ich denke daran, wie ich mal als Kind mit meiner Großmutter vor einem sehr edlen Boutiquenschaufenster stand und meine Großmutter sagte: „Wenn kein Preisschild drunterliegt, kosten die Sachen so viel wie ein Helikopter.“

Nur wer sich selbst bedingungslos liebt, kann auch andere bedingungslos lieben

Ich nehme auf dem Stuhl Platz, der Friseur lächelt mich im Spiegel an. Die Frisur des Friseurs sieht aus, als habe nicht ein Kollege sie angefertigt, sondern ein Konditor. Er fängt an zu schneiden, und ich bin dankbar, dass er sich nicht unterhalten will. Ich starre in den Spiegel, aber nur kurz, denn daneben hängen gerahmte Sinnsprüche. Direkt auf meiner Augenhöhe steht: Nur wer sich selbst bedingungslos liebt, kann auch andere bedingungslos lieben.

Weil ich wegen des lästigen Haareschneidens sowieso schon auf Krawall gebürstet bin, fange ich an, mich ausführlich über diesen Satz zu ärgern. Und wieder kommt mir meine Großmutter in den Sinn. Meine Großmutter hat sich garantiert nicht bedingungslos geliebt. Uns andere hat sie aber trotzdem einwandfrei lieben können.

„Das wäre toll, oder“, sagt plötzlich eine Stimme neben mir, „ein bedingungsloses Grundeinkommen an Liebe.“ Ich schaue so abrupt nach links, dass der Friseur erschrocken seine Schere wegzieht. Die Frau auf dem Stuhl neben mir hat das gesagt, es ist eine ältere Dame mit Alu­folie im Haar. Sie sieht ein bisschen aus, wie meine Großmutter aussah, und die Alufolie auf ihrem Kopf glitzert wie ihr Satz vom Liebesgrundeinkommen.

„Also“, sagt die Dame, „ich liebe mich eindeutig nicht bedingungslos.“

Jetzt bin ich plötzlich doch gerne beim Friseur. „Ich mich auch nicht“, sage ich.

Wenn ich zum Beispiel jemanden oder mich selbst sehenden Auges hinters Licht führe, wenn ich meinen Mut nicht zusammennehme, sondern ihn verstreut herumliegen lasse, wenn ich schon am Morgen innerlich herummäkele, wenn ich meinen Sohn anherrsche, obwohl ich eigentlich gar nicht auf ihn, sondern auf einen Abgabetermin wütend bin, wenn ich „Natürlich“ sage, obwohl ich eigentlich „Um Gottes willen, bloß nicht!“ sagen will, ist meine Zuneigung zu mir äußerst überschaubar.

„Wenn wir uns aber bedingungslos lieben würden, würden wir vielleicht weniger innerlich und äußerlich herummäkeln“, sagt die glitzernde Dame neben mir, und da hat sie natürlich recht.

Selbstliebe oder Egoismus?

Ich erzähle ihr, dass meine Großmutter einmal nach einem Friseurbesuch vergeblich darauf wartete, dass ihre Nachbarin sie wie versprochen abholte. Die Nachbarin war nicht erschienen, weil ihr Therapeut ihr bedingungslose Selbstliebe verordnet hatte, und das bedeutete, mehr auf ihre Bedürfnisse zu achten, und das Bedürfnis, durch den Regen zu fahren und meine Großmutter einzusammeln, verspürte die Nachbarin nicht, deshalb stand meine Großmutter eine Stunde lang vor dem Friseur herum, mit einer Gehhilfe und einer zügig in sich zusammenfallenden violetten Dauerwelle.

„Egoismus ist natürlich das Gegenteil von Selbstliebe“, sagt die Dame.

„Was sind Sie, wenn ich fragen darf?“, frage ich und tippe auf Therapeutin oder Pfarrerin. „Vermögensberaterin“, sagt die Dame, „schön, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits“, sage ich und: „Der Satz ist trotzdem unter aller Kanone, weil er Bedingungslosigkeit als Bedingung stellt“, die Dame sagt: „Stimmt“, der Friseur sagt, etwas indigniert: „Na gut, ich hänge ihn ab“, und dann sagt er: „Fertig“, und das ging jetzt sehr schnell.

„Sechzig Euro“, sagt er an der Kasse. Das ist für diesen Haarschnitt zu viel. Für eine Vermögensberatung ist es fast geschenkt.

Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit 2017 in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker