Womit wir nicht gerechnet haben

Eingefaltete Vergangenheit am Geburtstag von Marianne Lekys Freundin.

Die Illustration zeigt eine Frau, die melancholisch einem 50. Geburtstag, auf ein Boot im Wasser treibt, mit einem weißen Tuch winkt
© Elke Ehninger

Meine beste Freundin Sonja hat letztes Jahr ihren 50. Geburtstag gefeiert, und wie vermutlich bei jedem 50. Geburtstag gab es im Vorfeld Schwierigkeiten. Sonja stand unter Druck, weil sie eigentlich nicht feiern wollte, aber glaubte, alle Welt erwarte ein großes Fest. Schließlich schlug sie vor, eine Mottoparty zu ihrem Geburtsjahr zu veranstalten: Jeder sollte als jemand oder etwas kommen, der oder das im Jahr 1969 eine historische Rolle gespielt hatte.

Ich fand die Idee hervorragend. Die Mondlandung und…

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Rolle gespielt hatte.

Ich fand die Idee hervorragend. Die Mondlandung und Charles Manson rissen sich sofort Sonjas Mann und ihr Onkel unter die Nägel. Weil 1969 die erste ZDF-Hitparade ausgestrahlt worden war, fasste ich den herrlichen Plan, als Dieter Thomas Heck zu gehen. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich schon immer den Wunsch gehegt hatte, eine Nacht lang Dieter Thomas Heck zu sein.

Dann aber beschloss Sonja, die Party sein zu lassen und doch nur im allerkleinsten Kreis zu feiern: „Scheiß auf die Erwartungen“, sagte sie, „mit 50 ist man alt genug, um Leute zu enttäuschen.“ Weil ich offenbar enttäuschter schaute, als ich wollte, schlug sie vor, dass ich ja trotzdem als Dieter Thomas Heck kommen könnte.

Unerwartete Rechnungen

Wir feierten in einem Restaurant am See, im ganz kleinen Kreis. Weil man bei solchen Geburtstagen standardmäßig rührselig und besinnlich wird, fiel mir auf, dass das Fundament von Sonjas Leben in großen Teilen aus dem besteht, womit wir nicht gerechnet haben. Wir haben nicht damit gerechnet, dass Sonja eine leidenschaftliche Sozialarbeiterin werden würde, nachdem sie in Mediävistik promoviert hatte.

Wir hatten nicht damit gerechnet, dass Sonja Sebastian heiraten würde, vollkommen abwegig war das gewesen, und jetzt ist es eine Liebe, der mutmaßlich nichts mehr in die Quere kommen kann. Auch mit ihrer Tochter Leni hatten wir nicht gerechnet, weil Sonja über Jahre nicht schwanger wurde, und jetzt ist Leni schon alt genug, um uns Erwachsene alle peinlich zu finden, am meisten mich als Dieter Thomas Heck.

Sonja trug die Halskette ihrer Großmutter. Ich habe mir von ihr abgeschaut, zu jedem Geburtstag und jedem Sylvester etwas von jemandem zu tragen, der nicht mehr da ist, um ihn mit ins nächste Jahr zu nehmen. Sonjas Vater hatte in seiner Rede zu ihrer Hochzeit gesagt, er kenne niemanden, der so schwer Abschied nehmen könne wie Sonja – als Kind, erzählte er, habe sich Sonja manchmal sogar von Leergut nur unter Tränen trennen können.

Ein Selfie-Stick

Dann war es tiefe Nacht. Alle schliefen, nur Sonja und ich saßen noch am See. Die Rührseligkeit und eine Flasche Grau­burgunder hielten uns zu gleichen Teilen warm, und sie sorgten zu gleichen Teilen dafür, dass viele Vergangenheiten durcheinandertrudelten. „Weißt du noch“: So beginnen Sonjas Lieblingsfragen, wir stellen uns viele davon. Wir sitzen da und bestaunen all die Zeit und auch das Geschenk, das Sonjas Vater geschickt hat, er lebt mittlerweile in Amerika.

Sonjas Vater ist – zumindest, was Geschenke betrifft – schon seit langer Zeit alt genug, um Leute zu enttäuschen: Er hat Sonja unverständlicherweise einen Selfie-Stick geschenkt. Wir friemeln Sonjas Handy in die Apparatur, und gerade, als sie es über den See hält, ruft ihr Vater an. Es ist ein Facetime-Anruf. Sonja nimmt an und hält das Handy am Stock über den See. Das Gesicht von Sonjas Vater schwebt über dem Wasser.

Ich habe Sonjas Vater lange nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie peinlich ich ihn fand, als ich so alt war wie Leni.

„Glückwunsch, meine Kleine“, sagt er, er sagt es gleichzeitig über einem brandenburgischen See und in Minnesota, „auch zu diesem Selfie-Stick. Toll, oder? Du kannst damit Momentaufnahmen von dir selbst machen. So was verankert einen im Jetzt. Und außerdem bist du ein schönes Motiv. Du siehst ja noch ganz gut aus. Also, für dein Alter“, schiebt er noch hinterher und kichert über den See. Sonja dreht den Stick, ihr Vater schwebt jetzt auf dem Kopf. „Wie geht’s?“, fragt er.

Nichts als hartnäckige Illusion

„Ich fühle mich alt“, sagt Sonja, und ihr Vater schaut entrüstet. „Wenn, dann müsste ja wohl ich mich beklagen“, sagt er, „stell dir mal vor, wie alt sich einer fühlen muss, der eine fünfzigjährige Tochter hat.“ „Hallo, Herr Führmann“, sage ich und rücke meine Perücke zurecht, „raten Sie mal, wer ich bin.“ Sonja dreht ihren Vater wieder gerade. „Keine Ahnung“, sagt er, „Horst Seehofer?“, und bevor ich entrüstet widersprechen kann, fragt Sonja: „Wo ist die eigentlich hin, die ganze Vergangenheit, die ich angehäuft habe?“ „Ach, Zeit“, sagt ihr Vater verächtlich und winkt auf dem kleinen Bildschirm mit großer Geste ab. „Wie spät ist es bei euch?“

„Zwei Uhr nachts“, sagt Sonja, und ihr Vater sagt: „Bei mir sieben Uhr abends. Da kannst du mal sehen, was die Zeit für eine windige Sache ist. Und übrigens: Mal was von Einstein gehört?“ Sonja verdreht die Augen und sagt: „Nein, noch nie“, und ich, weil ich etwas beleidigt bin, frage: „Und übrigens: Mal was von Dieter Thomas Heck gehört?“

„Einstein hat gesagt, dass die Aufteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts als eine hartnäckige Illusion ist“, sagt Sonjas Vater über dem See, und kurz verschwimmt er ein bisschen, weil kurz die Verbindung schlecht ist. „Deine Vergangenheit ist immer vorhanden“, sagt er dann, „sie ist gewissermaßen in dich eingefaltet.“

Leni kommt angelaufen. „Da schwebt ja Opa über dem See“, sagt sie, und es gibt ein großes Hallo, weil Leni und ihr Großvater sich sehr lieben, und da sind wir alle mit unseren in uns eingefalteten Vergangenheiten, es ist eine mittelgroße Menge Vergangenheit in Sonja und mir, eine uferlose im See und in Sonjas Vater, eine noch sehr überschaubare Menge in Leni. Leni nimmt mir die Perücke ab und setzt sie sich auf den Kopf. „Großartig“, sagt Sonjas Vater, „jetzt siehst du aus wie der sehr junge Dieter Thomas Heck.“ PH

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2020: Ruhe im Kopf