Die Supermarktschlange, in der ich Ende Februar stand, war eine herkömmliche Schlange. Leute und ihre Einkaufswagen standen dicht an dicht, und wenn jemand Einmalhandschuhe getragen hätte, hätte ich vermutlich gedacht: der Arme, der hat bestimmt eine schlimme Bakteriophobie. Während des Wartens überlegte ich, worüber ich meine nächste Kolumne schreiben könnte. Als die Frau vor mir an der Reihe war, fing sie an, laut krakeelend die Kassiererin für Länge und Geschwindigkeit der Schlange verantwortlich zu…
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krakeelend die Kassiererin für Länge und Geschwindigkeit der Schlange verantwortlich zu machen. Höflichkeit, dachte ich. Den nächsten Text schreibe ich über Höflichkeit.
Jetzt, Ende März, stehe ich wieder in einer Supermarktschlange. Es ist eine verhackstückte Schlange, wir stehen mit mindestens einer Einkaufswagenlänge Abstand zueinander. Viele tragen Einmalhandschuhe, und am Ende der Schlange sitzt der Kassierer hinter einer durchsichtigen Plane.
Ich habe in den letzten zwei Wochen kein bisschen über Höflichkeit nachgedacht, obwohl ich mich immer wieder dazu angehalten habe. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, mich in meinem auf den Kopf gestellten Alltag einzurichten. Man kann einen Alltag nicht auf den Kopf stellen, ohne dass er zerfällt und nicht mehr als Alltag erkennbar ist. Er ist dann ein Durcheinander von Bestandteilen, in deren Mitte man steht wie das Strichmännchen in IKEA-Aufbauanleitungen, auf den Bildern, die zeigen, wie man es nicht machen soll.
Der innere Despot
Die Supermarktschlange ist lang. Ich könnte jetzt über Höflichkeit nachdenken. Ich denke dann aber darüber nach, woher ich den Mann vor mir in der Schlange kenne. Es ist Herr Schnepp. Herrn Schnepp, Schnäppi genannt, kenne ich von flüchtigen Begegnungen im Hausflur und ziemlich gut aus Erzählungen meiner Nachbarin Frau Wiese, die haushoch und glücklich in Herrn Schnepp verliebt ist. Herr Schnepp ist um die fünfzig Jahre alt und hat einen schütteren grauen Zopf. Er riecht nach Tabak und immer etwas zu stark nach einem Herrenduft im Angebot. Er hört immer etwas zu laut Rock aus den 1970er Jahren und er spielt, das erzählte Frau Wiese mit leuchtenden Augen, ganz hervorragend Luftgitarre dazu.
Von hier aus kann ich Herrn Schnepps Hände am Einkaufswagen sehen. Sie sind wie meine rot und rissig vom ganzen Händewaschen.
„Denk über Höflichkeit nach“, ermahne ich mich in der Supermarktschlange, aber dann fällt mir ein Patient meines Vaters ein, der an einem kapitalen Händewaschzwang litt. Ein innerer Despot wies ihn an, ständig die Hände zu waschen und dabei laut bis dreißig zu zählen – weil sonst, drohte der innere Despot recht unpräzise, „etwas Schlimmes“ passieren würde. Ich frage mich, wie es diesem Patienten jetzt geht. Ob es erleichternd ist oder entsetzlich, wenn ein innerer Despot auftrumpft, weil er angeblich recht hatte, weil er es angeblich immer schon gewusst hat.
Hefe für Frau Wiese
„Jetzt aber mal Höflichkeit“, sage ich mir hinter Herrn Schnepp, „los geht’s“, und dann denke ich darüber nach, ob „Happy Birthday“ jemals wieder ein Geburtstagsständchen sein wird oder ab jetzt für immer das Lied, mit dem man die empfohlene Händewaschzeit misst. Ob man es jemals wieder einem Jubilar entgegenschmettern wird oder ob es dabei ab jetzt für immer heißt: „Happy Birthday, Vorbeugung einer Schmierinfektion.“ „Happy Birthday, ausdrucksloses Starren und Einseifen und Mitzählen.“ „Happy Birthday, Angst.“
„Höflichkeit“, denke ich, „eins, zwei, drei.“ Herr Schnepp vor mir drückt seinen Mund in seine Armbeuge und hustet. Es ist bestimmt Raucherhusten. Ich denke an Herrn Schnepps Atemwege und ob sie womöglich längst angegriffen sind. Ich habe noch nie so viel wie derzeit an Atemwege gedacht, vor allem an die meiner älteren Verwandtschaft. Ich habe keine Ahnung, wie Atemwege aussehen, vor meinem geistigen Auge sehe ich meine älteren Verwandten mit Lungenröntgenbildern vor der Brust, Bilder, die ich nicht lesen kann, die aussehen wie Landschaftsaufnahmen fremder Planeten.
Herr Schnepp hat jetzt den Kassierer hinter der Plane erreicht. Statt über Höflichkeit nachzudenken, sehe ich Herrn Schnepps rissigen Händen zu, wie sie Sachen aufs Band legen. Kohlrabi, Lachsschinken, einen Hefewürfel (der ist für Frau Wiese, denke ich, Frau Wiese braucht immer Hefe, sie hat mich oft danach gefragt, in einer Zeit vor zwei Wochen und vor gefühlt etlichen Jahren, als man auf die Frage nach Hefe an der Wohnungstür noch sagen konnte: „Ich schaue mal nach, kommen Sie doch derweil kurz herein“), eine Spülbürste, Küchenpapier, eine Tafel Merci. Der Kassierer streckt seine Hände unter der Plane durch, um die Einkäufe zu scannen. Alles ist etwas umständlich, weder der Kassierer noch Herr Schnepp noch irgendwer hier ist gewohnt an Planen.
Als der Kassierer die Merci eingescannt hat, schiebt Herr Schnepp sie vorsichtig unter der Plane hindurch zurück zu dem Kassierer. „Die ist für Sie“, sagt Herr Schnepp leise. Er wird rot, als er das sagt, er nuschelt: „Weil Sie hier sitzen und das machen“, und wir alle wissen, was er meint. „Tschüss“, murmelt Herr Schnepp verlegen und möchte schnell verschwinden, fast fällt er vor Hektik in seinen Einkaufswagen.
„Warten Sie mal“, sagt der Kassierer und erhebt sich. Der Kassierer ist ein junger Mann, halb so alt wie Herr Schnepp. „Vielen Dank für Ihr Geschenk“, sagt er feierlich. Und weil Händeschütteln undenkbar ist, macht der Kassierer, was üblicherweise buddhistische Mönche tun: Er faltet seine Hände vor der Brust und deutet eine Verneigung an, und Herr Schnepp, der hervorragende Luftgitarrist, tut das auch. Höflichkeit, denke ich, und jetzt bin ich dran.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker