„Eddie, Sie alter Wuselknödel!“

Liebe ich meinen Hund genug? Und warum siezen er und ich uns immer noch?, fragt sich unsere Psychologie Heute-Kolumnistin Mariana Leky

Die Illustration zeigt eine Frau mit langen Haaren, neben ihr sitzt ihr Hund
Sollte man seinem Hund das Du anbieten? Unsere Kolumnistin überlegt. © Elke Ehninger

Jahrzehntelang habe ich mir einen Hund gewünscht. Jetzt habe ich einen, schon seit drei Jahren. Er heißt Eddie und ist ein freundliches, kniehohes wuscheliges Tier. Als ich Eddie von seinem Züchter abholte – nach Vorgesprächen hatte der Züchter befunden, dass Eddie und ich „füreinander bestimmt“ seien –, lief er nicht fröhlich auf mich zu, sondern verkroch sich unter einem Stuhl. In dem Moment fand ich ebenfalls, dass wir füreinander bestimmt waren: Auch ich lief nicht fröhlich auf ihn zu, auch ich hätte…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

fand ich ebenfalls, dass wir füreinander bestimmt waren: Auch ich lief nicht fröhlich auf ihn zu, auch ich hätte mich am liebsten unter einem Stuhl verkrochen – wenn auch aus anderen Gründen. Der Wunsch nach einem Hund war innig und pausenlos gewesen, aber jetzt dachte ich: „Lieber doch nicht“; und bis heute bin ich nicht sicher, ob das die ernst zu nehmende Warnung einer inneren Stimme war oder ob es die eiskalten Füße waren, die ich stets bekomme, wenn ein großer Wunsch droht, in Erfüllung zu gehen.

Ich finde Eddie ausgesprochen nett. Wenn allerdings im Hundeauslaufgebiet andere Besitzerinnen und Besitzer von der heißen Liebe zu ihrem Hund erzählen und davon, wie überhaupt nicht sie sich ein Leben ohne das Tier noch vorstellen können, dann nicke ich immer und lächle schief, wie jemand, der nur vorgibt, die Sprache zu verstehen, in der gerade gesprochen wird.

Heute sitzen Eddie und ich im Wartezimmer einer Tierärztin – Eddie braucht eine Impfung. Die Tierärztin ist eine Erscheinung. Sie hat eine ungeheure Leibesfülle und beeindruckt mich immer sehr durch ihren Körpereinsatz – ich glaube, man kann da durchaus von Magie sprechen. Sie beugt sich nicht bloß über das Tier, sie lässt es unter sich verschwinden, sie begräbt es irgendwo in ihrem höhlenreichen Oberkörper, und anschließend kommt das Tier behandelt und munter wieder hervor. Ich frage mich, ob in irgendeiner tiefen Falte des Körpers der Tierärztin ein Kleintier haust, das sie nach der Behandlung dort vergessen hat.

Karamellfarben

Vor ein paar Monaten hatte Eddie sich beim Herumtollen eine Wunde zugezogen, unter der sich ein Abszess gebildet hatte. Eddie verschwand unter der gebeugten Tierärztin, und man konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob das Blut und der Eiter, die aus dem Abszess kamen, tatsächlich aus dem Hund oder aus der Tierärztin flossen.

Während wir warten, erzählt die Dame neben mir, dass sie sich ein Leben ohne ihren Dackel überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Ich nicke und lächle schief und kraule Eddies Fell. Mein Sohn sagt, es sei karamellfarben. Ich finde eher, Eddies Farbe ähnelt der eines Kuscheltiers, das lange Jahre in einem Raucherhaushalt herumgelegen hat.

Als wir an der Reihe sind, verstaut die Tierärztin Eddie nebst einer Spritze unter ihrem Körper. „Und, wie geht es?“, fragt sie dabei. Hinter der Tür hört man, wie die Dame im Wartezimmer ihrem Dackel Liebesworte zugurrt. Weil ich mir ein Leben ohne Eddie sehr gut und sehr farbenfroh vorstellen kann, platzt der Satz „Ich liebe den Hund nicht genug“ aus mir heraus.

Die Tierärztin, in der Eddie versunken ist, hebt ihren Kopf und schaut mich verständnislos an. „Wie, nicht genug?“, fragt sie. „Ich sollte ihn mehr lieben“, sage ich. „Wie, mehr?“, fragt die Tierärztin. Es ist ein diffuses Mehr an Liebe, das mir vorschwebt. Das gleiche unspezifische Mehr, das man in Neujahrsvorsätzen gelobt: „mehr Sport“, „mehr Optimismus“, „mehr Gelassenheit“. Ich habe ein schlechtes Gewissen, ich habe Sorge, dass sich unter meiner unzureichend portionierten Liebe auf Eddies Seele womöglich ein Abszess bildet.

Wir sind keine großen Kuschler

Eddies Hintern kommt unterm Oberarm der Tierärztin hervor, sie schiebt ihn wieder zurück. „Auf mich wirkt der ganz zufrieden“, sagt sie. „Wie sieht denn so Ihr Alltag mit dem Hund aus?“ Eddie und ich spazieren täglich durch Hundeauslaufgebiete. Ich werfe ihm Stöcke, er bringt sie mitunter zurück. Während ich arbeite, liegt er unter dem Tisch, ich schiebe meine Füße unter seinen Rücken. Ansonsten sind wir beide keine großen Kuschler; manchmal unternehmen wir dahingehende Versuche, aber nach fünf Minuten hören wir einvernehmlich wieder auf. Manchmal frage ich Eddie etwas, Alltägliches oder Besinnliches. Wo der Wohnungsschlüssel hin ist oder die Zeit. Ich warte dann immer darauf, dass er sagt: „Interessante Frage, aber leider kann ich nicht sprechen.“

„Klingt doch gut“, sagt die Tierärztin. Dann lässt sie den kompletten Eddie unter ihrer Achselhöhle hervorplop­pen und richtet sich auf. Eddie ist begeistert und hüpft um die Tierärztin herum. „Mach’s gut, alter Wuselknödel“, sagt sie und tätschelt Eddies Kopf. Im Türrahmen legt mir die Tierärztin ihren riesigen Arm auf die Schulter. „Ihr Hund ist nicht aus irgendeinem Seelenschnickschnack für Sie bestimmt“, sagt sie, „sondern einfach, weil er nun mal da ist. Bei Ihnen.“ Und als ich schon fast draußen bin, ruft sie mir zu, so laut, dass die Dame mit dem Dackel es unbedingt hört: „Sie können den Hund natürlich auch an einer Autobahnraststätte aussetzen. Das ist immer eine Lö­sung.“

Dem Hund das Du anbieten?

Die Dame mit dem Dackel erstarrt. Die Tierärztin lacht ein Lachen, das vermutlich ein Erdbeben auslösen kann. Eddie und ich gehen auf eine Hundewiese. Wieder hören wir die mehrstimmige Geschichte vom unvorstellbaren Leben ohne Hund. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, das Wort „Autobahnraststätte!“ dazwischenzurufen. Eddie bringt mir einen Stock, ich werfe, er bringt ihn zurück. Wenn Eddie und ich uns unterhalten könnten, fällt mir plötzlich auf, dann würden wir uns wahrscheinlich siezen. Weil er nun mal da ist und schieres Vorhandensein offenbar ausreicht, um füreinander bestimmt zu sein, ist es Zeit für den nächsten Schritt. „Eddie, Sie alter Wuselknödel“, sage ich, „darf ich Ihnen das Du anbieten?“, und gleichzeitig werfe ich den Stock, im hohen Bogen. Eddie saust davon und wieder zurück. Er sieht aus, als könne er sich ein Leben ohne dieses sausende Hin und Her überhaupt nicht mehr vorstellen.

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit