Fast weihnachtsnormal

Sie wollten nur „etwas Gutes tun“ an Weihnachten. Und erleben dann viele Tränen und Menschen, die die Fassung verlieren, erzählt Andreas Maier

Die Illustration zeigt eine Altstadtkulisse mit VW-Bully und Weihnachtsbaum
Andreas erinnert sich wie er Weihnachten 1982 für die Insassen in der gefängniseigenen Kapelle musizierte. © Robert Dünnweiler

Weihnachten 1982, am Morgen des ersten Feiertags. In aller Frühe treffen wir uns vor dem Vereinsheim und pusten uns warme Luft in die Fäustlinge. Nebel liegt über dem einsamen Trottoir, noch schlaftrunken steigen wir in den alten, etwas klapprigen VW-Bus, den wir im Sommer in Eigenregie wieder in Gang gebracht haben, nachdem wir ihn vom Schrott geholt hatten. In jenem Sommer hatte er uns immerhin bis Barcelona gebracht!

Nun ist aber eiskalter Wintermorgen im oberhessischen Friedberg, und da wir schon fast…

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im oberhessischen Friedberg, und da wir schon fast fünfzehn Jahre alt sind und uns ziemlich reif fühlen, rauchen wir gegen die Kälte an, können uns mit den klammen Fingern allerdings kaum die Zigarette drehen. Vorn am Steuer sitzt Gunnar, er ist über zwanzig und macht den Chauffeur. Gunnar ist gleichsam auch der Manager dieses Tages und hat unseren Auftritt organisiert. Die Gitarre habe ich neben mich gestellt.

Das Programm für den Gottesdienst wurde von uns in den letzten zwei Wochen erarbeitet. Nichts Modernes, das war der Vorsatz, sondern nur Klassiker aus vergangenen Epochen, typische Weihnachtslieder von In dulci jubilo bis hin zu Stille Nacht, heilige Nacht. Unser kleines Orchester ist bunt zusammengewürfelt, wir haben eine Geige im Gepäck, eine Querflöte, meine klassische Gitarre, noch eine Rhythmusgitarre.

Engelsgleich

Es geht übers Land bis zu einem Ort mit dem seltsamen Namen Butzbach. Hohe Mauern empfangen uns, wir stellen den Bus auf einem Parkplatz ab, der fast völlig leer ist. Es ist noch gar nicht richtig hell. Oder ist das der Nebel? Die Instrumente unter dem Arm, ziehen wir in Kolonne Richtung Portal, vor mir das Mädchen mit der Querflöte.

Sie trägt ein putziges Mützchen und darunter lange blonde Haare, die an einem Tag wie diesem natürlich besonders engelsgleich erscheinen. Das Mädchen ist so alt wie ich, wunderschön, und ich bin völlig verliebt in sie zu dieser Zeit.

Am Zaun klingeln wir. Eine Stimme ertönt. Dann werden wir in den Zwischenbereich hineingelassen, sofort schließt sich das Tor wieder hinter uns. Nun stoßen wir auf eine massive Eisentür. Sie öffnet sich ebenfalls mechanisch, drinnen stehen wir in einem fensterlosen Raum und müssen unsere Pässe durch eine Schleuse reichen. Anschließend Körperkontrolle, natürlich auch bei dem Mädchen mit der Querflöte, was mir ein bisschen wehtut. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sie Waffen oder so etwas bei sich trägt…

Tonprobe in der gefängniseigenen Kirche

Noch eine schwere Eisentür, dann sind wir im Innen- und Sicherheitsbereich der Justizvollzuganstalt Butzbach. Dort sitzen angeblich nur schwere Jungs ein – Bankräuber, Betrüger, Mörder, kaum einer unter acht Jahren, es handelt sich um ein sogenanntes Hochsicherheitsgefängnis.

In der gefängniseigenen Kirche machen wir eine Tonprobe, noch ist der Saal völlig leer. Zwischen uns und den Sitzreihen ist keine Barriere aufgebaut, aber der Abstand ist ziemlich groß. Es gibt zwei verschiedene Zugänge: Wir Jugendlichen kommen durch eine Tür im Altarraum hinein und hinaus, die Gefangenen werden später aus einer Tür uns gegenüber eintreten. Noch genug Zeit. Warten… Man bringt uns Kaffee und Brötchen.

Die Tür gegenüber geht irgendwann auf, und eine Zeit später gelangen gleichsam tröpfelnd die Ersten in den Saal. Alle tragen lilafarbene Kleidung, offenbar ist das Vorschrift. Es sieht ein wenig nach Schlafanzug aus. Einer schaut sich nur kurz um, senkt sofort den Blick und versucht, sich in der letzten Reihe unsichtbar zu machen, ein anderer schreitet energisch und unerschrocken zur ersten Reihe, meidet aber Augenkontakt mit uns. So füllen sich langsam die Reihen mit den verschiedensten Typen.

Zusammenbruch

Manche unterhalten sich freundlich und wirken fast weihnachtsnormal (bis auf die entwürdigende Kleidung), einige verströmen eine eher brutale Aura um sich herum, andere wirken isoliert und in sich gekehrt. Einige paar haben sogar einen Auftritt, als seien sie eine Art von Herrscher, dem man huldigen müsse. Wer von ihnen „stabil“ ist und wer gerade seine Verfassung nur schauspielert, ist nicht zu ermessen. Selbst die Forschen schauen uns, offenbar verschämt, nicht an.

Der Gottesdienst ist als Wortgottesdienst ohne Kommunion geplant, das Publikum ebenso wie die Zeremonie ökumenisch, die Anwesenden alle männlich (natürlich bis auf das Mädchen mit der Querflöte und den Engelshaaren). Inzwischen platzt der Innenraum aus allen Nähten.

Während des Gottesdienstes sitze ich rechts, etwas zurück vom vorderen Rand unseres Podestes, etwas weiter nach vorn steht das Mädchen. Das Publikum ist still und gebannt. Ich brauche einige Zeit, um mich vom Anblick des schönen Mädchens zu lösen. Nach einer Weile habe ich genügend Aufmerksamkeit für das Publikum frei. Dort finden inzwischen wahre Zusammenbrüche statt.

Die Intensität im Raum trifft uns unvorbereitet

Einige der Stillen folgen zwar unverwandt und konzentriert der Zeremonie, aber gerade unter denen, die vormals eher rabiat aufgetreten sind, sieht man Hände vor dem Gesicht und Tränenwischen. Sie ringen um Fassung und wollen das nicht zeigen. Mit der Zeit herrscht eine Intensität im Raum, die uns völlig unvorbereitet trifft.

Als wir Stille Nacht, heilige Nacht anstimmen, gibt es kein Halten mehr. Ein Flennen und Sichschütteln in jeder Reihe, Gesichter so durch himmelsrufende Seufzer verzogen, wie man sie auf Tafeln aus der Gotik kennt, die Brauen zusammengewölbt wie zu einem Spitzbogen und die Augen nach oben verdreht.

Nach dem Ende der Darbietung sitzt ein Großteil da wie Boxer nach der zwölften Runde. Völlige Ermattung, einige bleiben so lange sitzen, wie es geht, bis sie in ihrer Schlafzimmerkleidung wieder hinter die Tür sollen, wozu man ihnen netterweise viel Zeit gibt. Einige aber wagen es, nach vorn zu kommen. Die Wächter lassen es geschehen. Im Mittelpunkt: das Mädchen mit der Querflöte. Mit feuchten Augen wollen sie ihr kurz nahe sein, ein Erster trägt die Frage vor, ob er ihr die Hand geben dürfe.

Lange Stille

Am Ende werden die Hände des Mädchens zahlreich geschüttelt, jetzt stehen sie doch da wie vor der Kommunion in der Schlange, nur dass diese Heilsspendung nichts Himmlisches, sondern etwas Weltliches und vor allem Weibliches hat, mit dem langen Engelshaar. Es kommt zu einer gewissen Umringung. Das Mädchen lässt es geschehen und steht als Spenderfigur in der Mitte. Gottseidank läuft nichts aus dem Ruder. Die Szene hat etwas ebenso Riskantes wie, ja, Überwältigen­des.

Wieder aus dem Gefängnis herausgeschleust, im Bus zurück zu unserem Heimatstädtchen, sind wir lange still, nicht ohne Bedrückung, jeder mit dem eben Erlebten beschäftigt. Eigentlich wollten wir nur ein bisschen Musik machen und sozusagen ehrenamtlich an Weihnachten mal „was Gutes tun“.

Das Mädchen hält die Stirn gerunzelt, die anderen schauen rauchend zum Fenster hinaus, Gunnar murmelt am Steuer immer mal wieder vor sich hin: „Mannomann.“

Zu Hause angekommen, fahren wir an die Tankstelle und holen uns erst mal ein Sixpack Bier.

Weihnachten vor 39 Jahren.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2022: Stille Aufträge