Dass nochmal was zwischen uns kommt

Jan war in der Jugend sein bester Freund. Dann war er es nicht mehr. Wie es kam, dass er es heute wieder ist, erzählt Schriftsteller Andreas Maier.

Die Illustration zeigt Mann in einer Kneipe, die am Tresen sitzen und sich unterhalten
© Jan Robert Dünnweiler

Jan lernte ich spät, nämlich im elften Schuljahr kennen. Sein Vater war ein stadtbekannter Lehrer, links orientiert, ein Gesellschaftsmittelpunkt und diskursives Vorbild für viele, etwa meinen älteren Bruder.

Jan und ich waren ziemlich unterschiedlich. Er nicht groß, ich lang und schlank.

Bald waren wir unzertrennlich wie Pat und Patachon. Ein paar Jahre traf man uns fast nur zu zweit an. Ich kann mich an nächtliche Gänge erinnern, da lösten wir sämtliche Rätsel und Proble­me der Welt, und zwar komplett.…

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da lösten wir sämtliche Rätsel und Proble­me der Welt, und zwar komplett. Plötz­lich waren unsere Gedanken eins mit dem Universum – klar, denn über uns und unserer kleinen Kreisstadt leuchteten ja die Sterne und die Milchstraße.

Wenn wir uns freilich am nächsten Morgen in der Schule trafen und anschließend ins Café gingen, dann versuchten wir, uns an die Weltlösungen und -erklärungen der Vornacht zu erinnern, aber wir bekamen es einfach nicht mehr zusammen.

Den Blick für die Absurdität

Auch die ersten Semester unternahmen wir viel, hingen fast jeden Abend gemeinsam in Kneipen ab, reisten nach Paris, nach Turin, nach Freiburg oder in den Harz, und stets erlebten wir die skurrilsten Momente. Wir hatten diesen Blick für die Absurdität von Situationen. Einmal wurden wir sogar für flüchtige Bankräuber gehalten.

Während ich meine spätere Frau kennenlernte und längst in Frankfurt wohnte, blieb Jan noch einstweilen in seinem Vaterhaus in unserer Kleinstadt. Er wurde immer stärker von der Rätselfrage „Zukunft? Beruf?“ gequält, es war um die Zeit des Studienabschlusses. Ich hatte mein seltsames Ziel, Schrift­steller zu werden, dafür gab es in Jans Leben kein Gegenbild. Öfter hatte ich das Gefühl, ihm, wie soll ich sagen, zu vieles zu schnell vorzuleben. Ob das wirklich so war, weiß ich nicht.

Jan entwickelte Ideen, die auf ihre Weise viel größer waren als meine. Nach dem Studium begann er Russisch zu lernen und ging zunächst nach Lettland als Universitätslektor. Jan ist Halbamerikaner, sein Vater hat Jans Mutter bei einer dieser prä-68er „Bildungsreisen“ in die USA kennengelernt, zur frühen Dylan-Zeit. Ich war immer nur Wetterauer.

Also, für Jan wurde es zunächst Lett­land, und das funktionierte auch ganz gut, allerdings war er nach einem knap­pen Jahr wieder da, Ende der 1990er Jah­re. Natürlich hatte er viel erlebt, aber war mit der Situation nicht so recht warm geworden. Er igelte sich jetzt in seinem Vaterhaus ein, wir sahen uns wenig. Nach diesem kurzen Zwischenstopp und einem weiteren Russischkurs ging es nun in die richtig große weite Welt, nach Südsibirien, also nach Russland.

Freundschaften können enden

Dort passte Jan hin. Auch wenn ich ihn nie vor Ort erlebt habe, aber: Aus allem, was und wie er von der damaligen Zeit erzählte, passte er nach Russland wie die Faust aufs Auge, jener halbe Amerikaner und halbe Wetterauer mit doppelter Staatsbürgerschaft. Ich sehe ihn geradezu bildlich in Mantel und Schapka über das russische Eis schlittern. Einmal schlitterte er tatsächlich, fiel auf das Gesicht, ging in eine Kneipe, um auf den Schreck einen Wodka zu trinken, und der Wirt sagte ihm, er solle sich den Wodka lieber ins Gesicht schütten, so wie dieses nach dem Sturz aussehe.

In seiner südsibirischen Stadt lernte Jan ein paar Frauen und auch seine spätere temporäre Gattin kennen. Wir beide verloren unseren Kontakt nun fast völlig, hin und wieder schrieben wir uns noch. 2003 kam er mit Frau und Schwägerin nach Deutschland, um dort seine Hochzeit zum zweiten Mal, eben mit den deutschen Verwandten zu feiern. Ich selbst hatte inzwischen ein paar Russen kennengelernt und auch eine Reise nach Russland gemacht, weil dort ein Buch von mir veröffentlicht wurde – ich kannte also die russische Mentalität etwas, auch was das Feiern anging. Jans Feier entsprach dieser Mentalität ganz und gar, man hätte ihn für einen Russen halten können.

Anschließend brach der Kontakt noch mehr ab. Als Jan später ganz nach Deutschland zurückkam, wohnte er ein halbes Jahr in meinem Haus, ich selbst war zu der Zeit in Rom. Dennoch: kein wirklicher Kontakt. Ich besuchte dagegen oft Jans Vater, wir freundeten uns an, auch er begriff die Distanz seines Sohnes zu mir nicht recht.

Ich hätte mit Jan darüber nicht gesprochen. Am Telefon war er unverbindlich höflich, aber jede Begegnungsmöglichkeit wegmoderierend. Ich gab, kurz gesagt, diese aufgegebene Freundschaft dann auch für mich auf und wurde selbst unverbindlich höflich. Es fiel mir schwer. Aber ich hatte meine Frau, andere Freunde. Und Freundschaften können eben enden.

Nie eine langweilige Sekunde

Es kam Jans Scheidung, es kam der völlig überraschende Tod seines Vaters. Jan wurde Lehrer in Hessen, zog in das Haus seines verstorbenen Vaters zurück, in dem ich Teile meiner Jugend verbracht hatte.

Zeitenwechsel, fünfzehn Jahre später. Es war, was war und warum es auch immer so war: Heute sind wir wieder die dicksten Freunde, haben nie eine langweilige Sekunde, teilen wie früher die gleichen, mitunter nicht ganz öffentlichkeitskompatiblen Ansichten, und wenn es ans Eingemachte und ganz Wichtige geht, sind wir wie ehedem füreinander da. Angesichts der jüngsten Weltlage fühlte ich mich neulich mal verpflichtet, ihm zu sagen, dass er, wenn das hier mal vorbei ist, neben meiner Frau die wichtigste Person in meinem Leben gewesen sein wird. Dass noch mal was zwischen uns kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Rätselhaft, aber es ist so.

Warum das alles so war in jener Zeit der Entfernung, blieb auch deshalb weitgehend ungesagt, weil es wohl einfach sein musste und sich durch die Umstände ergeben hatte oder durch die Dinge, die zu tief liegen, als dass man nach ihnen greifen sollte oder müsste. Aber genau das gehört für mich zu den wunderbaren Wendungen des Lebens: Manchmal habe ich vor fünfzehn Jahren eine Träne verdrückt und mir auf die Lippen gebissen Jans wegen. Das schien endgültig und tat schon weh.

Und heutzutage stelle ich einen Topf Bolognese auf den Tisch, koche die dazugehörige Pasta, mache eine Flasche Rotwein auf, und dann lassen wir es uns gutgehen und besprechen wie ehedem die Welt, ihre Rätsel und Probleme und wie sie vielleicht zu lösen wären oder doch auf ewig nie mehr zu lösen sind.

Und verenden wie immer am Abend in der nächsten Kneipe.

Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter