Frau Kramann, Sie sind als Coachin und Supervisorin tätig, aber möchten uns dazu ermutigen, Probleme im Beruf selbst zu lösen, uns also selbst zu coachen. Warum?
Es gibt eine ganze Reihe an Tools, die ich im Coaching verwende, die man aber auch leicht selbst anwenden kann. Mir geht es darum, zur Selbstermächtigung zu motivieren. Wer sich selbst coacht, gewinnt das Gefühl, es aus eigener Kraft geschafft zu haben. Das ist gut fürs Selbstvertrauen.
Was ist das Ziel von beruflichem Selbstcoaching?
Es geht darum zu…
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ist gut fürs Selbstvertrauen.
Was ist das Ziel von beruflichem Selbstcoaching?
Es geht darum zu lernen, sich selbst und die berufliche Situation aus der Distanz und aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. So gewinnt man mehr Klarheit, welchen Weg man bis zu einer Lösung gehen kann.
Sehen Sie eine Tendenz dahin, dass sich Erwerbstätige eher zu oft Hilfe holen als zu selten?
Das lässt sich schwer generalisieren: In den psychosozialen, helfenden Berufen wie soziale Arbeit, Beratung, Therapie, auch Pflege gehört es zum Standard, dass man im Rahmen von Supervision, Qualitätszirkeln oder Intervisionsgruppen seine Arbeit gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen reflektiert. Das halte ich für sehr sinnvoll, solange es nicht in eine Art „erlernte Hilflosigkeit“ mündet – in dem Sinne, dass Reflexion und Handlungsimpulse nur noch auf der Basis von Supervision vorstellbar sind. Dass sich Führungskräfte auch in anderen Branchen mithilfe von Coaching einen Reflexionsrahmen schaffen, tut der Arbeitswelt im Allgemeinen eher gut.
Problematischer sehe ich es, wenn berufliche Probleme individualisiert und personalisiert werden, ohne den arbeitsweltlichen Kontext mitzubedenken. Die Frage „Was ist an mir falsch, dass ich in meinem Beruf Probleme habe?“ verengt den Blick auf mögliche Lösungen und pathologisiert das Individuum.
Die Fragen „Welche Bedingungen sind günstig, welche weniger günstig dafür, dass ich gut arbeiten kann? Und welche davon können verändert werden?“ erscheinen mir sehr viel passender.
Bei welchen Problemen kann Selbstcoaching hilfreich sein?
Im beruflichen Alltag entstehen nicht selten Dilemmas und Loyalitätskonflikte. Ein Beispiel für eine solche Situation: Die Vorgesetzte einer Klientin von mir verlangte von ihr, ihre Kolleginnen und Kollegen „auszuspionieren“, um festzustellen, wie viel Umsatz sie erwirtschafteten und wie sie über ihre Chefin dachten. Das wollte meine Klientin natürlich auf keinen Fall tun. Die Vorgesetzte setzte daraufhin noch eins drauf, sie kritisierte meine Klientin und stellte ihre Professionalität infrage. Hier war es sehr wichtig, dass die Klientin dies am Ende als Machtstrategie der Chefin beschreiben und sich distanzieren konnte, anstatt sich selbst infrage zu stellen.
Ein anderes Beispiel, das in Kliniken häufig vorkommt: Sollen wir die Betten so belegen, dass das Controlling zufrieden ist, oder sollen wir die Patienten und Patientinnen so nehmen, wie es kommt?
Erstere Option führt dazu, dass ein inhaltliches Commitment zur Arbeit irgendwann nicht mehr möglich ist, die zweite, dass der Einrichtung die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen wird. Ein vertretbares Wirtschaften zwischen diesen beiden Polen stellt der sogenannte „Case-Mix“ dar.
Das heißt, ein Patient profitiert davon, dass ein anderer eine weniger aufwendige und teure Behandlung hat. Dann ist genug Geld da, um niemanden aus Kostengründen zu früh entlassen zu müssen.
Wie definieren Sie Dilemma?
Ein Dilemma stürzt uns immer in innere Konflikte: Wir sind mit einer Entscheidung der Geschäftsführung konfrontiert, die nicht mit unseren Werten vereinbar ist, oder Kolleginnen verlangen von uns etwas, was wir nicht mittragen möchten. Ein Dilemma beschreibt diese Kluft zwischen unseren Werten und Wünschen und der Realität. Niemand kann auf Dauer gegen die eigenen ethischen Maßstäbe leben. Lässt sich, wie im Fall meiner Klientin, keine Lösung finden, weil wesentliche Werte sonst preisgegeben werden müssten, oder können sich die Beteiligten nicht auf einen Kompromissvorschlag einlassen, dann muss man unter Umständen den Job wechseln. Für eine gewisse Zeit kann man sich von einer Arbeit innerlich distanzieren und sich in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll – ob man die Lösung bis zu einem gewissen Grad mitträgt oder welche Wege es noch geben könnte. Und auch hierfür gibt es gute Selbstcoachingstrategien.
Sie sagen, dass wir die Fähigkeiten zum beruflichen Selbstcoaching in uns tragen. Was sind das für Fähigkeiten?
Die wichtigste ist, innerlich einen Schritt zurückzugehen und sich selbst von außen zu betrachten – gewissermaßen aus professioneller Distanz. Bestimmte Tools helfen einem dabei auf die Sprünge. Ihnen ist gemeinsam, dass sie uns auf die körperlichen Anzeichen aufmerksam machen, die wir in einer kritischen Situation entwickeln und die ernst genommen werden wollen. Da kann es um Kopfschmerzen gehen, gehäufte Infekte, Müdigkeit oder auch bestimmte Bilder oder Gedanken, die uns durch den Kopf gehen. Der Körper ist oft schlauer als wir selbst und zeigt uns, dass etwas nicht stimmt. Das kann jeder und jede an sich selbst feststellen, aber es fällt nicht jedem gleichermaßen leicht. Und gerade in einer konflikthaften Situation neigen wir dazu, die körperlichen Anzeichen erst in der Selbstreflexion überhaupt wahrzunehmen.
Was auch wichtig ist und was wir alle können: auf andere hören. Etwa wenn jemand zu uns sagt: „Du siehst aber müde aus“, oder: „Du wirkst so nervös, was ist los mit dir?“, dann sollten wir das ernst nehmen. Dazu gehört auch, dass wir Partnerinnen oder Freunde nach ihrer Einschätzung fragen. Gelingt es, durch das Einnehmen einer Metaposition wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen oder zu wissen, in welche Richtung man laufen soll, lassen sich die weiteren Schritte gut in Ruhe planen.
Könnten Sie mir Beispiele geben für Tools, die mich beim Selbstcoaching unterstützen?
Ja, das eine ist zum Beispiel die Schutzmantelübung, die einem helfen kann, sich gegenüber einer als unfreundlich empfundenen Welt zu schützen (siehe Seite 36). Das andere ist die Gehirnjogging-Übung „Einsamer Waldlauf“: Man sucht sich dabei eine sehr konkrete berufliche Fragestellung, beispielsweise: Wie könnte sich die Konferenzstruktur verbessern? Man notiert die Frage auf einem Blatt Papier und versucht dann, binnen zehn Minuten mindestens zwanzig Antworten zu finden. Am nächsten Tag schaut man sich das Ganze noch mal an und fragt sich, welche der Antworten einen besonders ansprechen.
Was sollte ich unternehmen, wenn meine beruflichen Probleme hartnäckig sind?
Es ist schwierig, hier Empfehlungen zu geben, die für alle geeignet sind. Manchmal ist es hilfreich, schlicht Zeit vergehen zu lassen, um zur Ruhe zu kommen und über die nächsten Schritte nachzudenken und zu prüfen, ob das Problem einige Tage oder Wochen später immer noch drängend ist. Manches löst sich über die Zeit ganz gut auf. Dies lässt sich auch aktiv gestalten, indem man minimale inhaltliche oder formale Kontextveränderungen vornimmt, etwa ein Aufgabengebiet mal nicht oder weniger bearbeitet, dafür ein anderes mehr, Arbeitszeiten oder Pausengestaltung verändert, sich mit anderen Menschen als sonst umgibt. Dadurch können sich Perspektiven ändern. Ist das Problem weiterhin akut, die Frage weiter ungelöst, rate ich dazu, sich externe Unterstützung zu organisieren.
Woran merke ich, dass ich nicht weiterkomme und doch professionelle Unterstützung brauche?
Wenn es nicht gelingt, einen klaren Blick auf die Situation zu gewinnen, sondern man von den eigenen Emotionen überflutet wird. Dann wird auch das körperliche physiologische System blockiert, weil es stark unter Druck steht. Wir merken das daran, dass sich die Gedanken nur noch in Schleifen drehen und wir nicht mehr zur Ruhe kommen und zugleich nicht mehr vorankommen.
Wenn ich mitten in einer Situation bin, wie etwa in dem Moment, als Ihre Klientin gefragt wurde, ob sie bereit sei, Kolleginnen und Kollegen auszuspionieren, was kann ich da tun?
Sie können sich zunächst ganz physisch ein bisschen von ihrem Gegenüber wegbewegen, etwa den Stuhl zurechtrücken. Das hilft sofort, auch innerlich ein Stück Abstand zu gewinnen. Und Sie können sagen: „Ich denke darüber nach“, und darum bitten, dass man dann später noch einmal darüber spricht. In der Zeit dazwischen sollten Sie das Anliegen in Ruhe überdenken und sich fragen, wo es gegen ihre eigenen Werte verstößt und welche Ideen Sie vorschlagen möchten, um zu einer Lösung beizutragen.
Was mache ich, wenn ich mich wirklich verzweifelt fühle?
Wir neigen dazu, dem Gefühl der Verzweiflung aus dem Weg zu gehen. Aber indem wir das tun, können wir von dieser Emotion auch nicht profitieren. Die Verzweiflung ist ein Stoppschild: Sie zeigt uns, dass wir so nicht weitermachen können. Zugleich weist sie uns auch auf die Kluft zwischen unserem Anspruch und der Wirklichkeit hin. Wir ringen darum, die beste Lösung zu finden, aber wir finden sie nicht.
Bei beruflichen Konflikten wird um eine Lösung gerungen, die gut genug ist für alle Beteiligten. Erst wenn man den Anspruch an die perfekte Lösung aufgibt, wird der Blick frei für die Lösung, die gut genug ist. Dabei sollte man einkalkulieren, dass möglicherweise für einzelne Beteiligte ein „Es reicht nicht“ übrigbleibt, und trotzdem versuchen, deren Commitment einzuholen.
Was besonders wichtig ist: Man sollte nicht seine Professionalität infrage stellen als Reaktion darauf, dass sich keine ideale Lösung finden ließ. Die Bedingungen in Organisationen sind komplex, Abteilungen haben unterschiedliche Ziele, die manchmal schwer miteinander kompatibel sind. Immer wieder gibt es Entscheidungen, die nicht alle mittragen können. Das liegt in der Natur der Sache und nicht an möglicher fehlender Professionalität. Stattdessen ist es hilfreich, sich zu sagen: „Wir haben es so gut gemacht, wie wir konnten.“
Sie diskutieren auch den beliebten Begriff der Resilienz, den Sie kritisch sehen. Warum?
Das im Berufsleben besonders häufig auftauchende Narrativ über die Resilienz klingt so, als seien wir aus Teflon, als seien wir Maschinen und alle Widrigkeiten würden an uns abprallen. Dieses Konzept von Resilienz blendet aus, dass es Umwelten gibt, soziale, ökonomische oder intellektuelle „Todeszonen“, in denen Menschen nicht leben können. Das Konzept berücksichtigt außerdem nicht, dass es Lebenslagen geben kann, in denen sich Negatives so sehr anhäuft, dass jemand morgens das Bett nicht mehr verlassen kann.
Auf die Arbeitswelt bezogen birgt das die Gefahr, dass für Konflikte im Berufsleben allein Individuen verantwortlich gemacht werden. Aber auch die widerstandsfähigsten Personen sind darauf angewiesen, dass Arbeitsprozesse und Aufgaben klar kommuniziert werden, dass die Interaktionen im Unternehmen positiv sind und es eine gute Fehlerkultur gibt. Meine Erfahrung zeigt außerdem: Die Fähigkeit zur Resilienz kann sich im Lauf des Lebens verändern – Menschen, die jahrelang widrige Umstände abfedern konnten, kommen manchmal an einen Kipppunkt: Eine einzelne negative Erfahrung oder Interaktion führt dann zum Zusammenbruch und es kann danach ziemlich lange dauern, bis sich Erholung einstellt. Die zentrale Aufgabe des Selbstcoachings ist, sich auf die vorhandenen Ressourcen zu besinnen und sie zu nutzen und zu stärken. Das entbindet aber kein Unternehmen von der Aufgabe, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass gelingende Arbeit überhaupt möglich ist.
Wenn es während Homeoffice-Zeiten zu Konflikten kommt, wie kann ich diese in der Einsamkeit besser managen?
Zunächst: Konflikt heißt ja, dass es Friktionen zwischen Person und Umwelt gibt, ob die Umwelt nun die Kollegin ist oder die Institution oder das Unternehmen.
Hilfreich sein könnte die Rückbesinnung auf das, was man auch im Präsenzmodus täte: bei der Lieblingskollegin anklopfen, sich beim Partner oder der Partnerin Trost und Rat holen oder bei der besten Freundin oder dem besten Freund. Das ist auch alles remote möglich. Steht niemand zur Verfügung, lässt sich eine gute Ratgeberin oder ein guter Ratgeber auch imaginieren: „Wenn ich XY um Rat fragen würde, was würde er oder sie antworten?“
Für direkte Konfliktklärungsgespräche hat der Remotemodus aus meiner Sicht sogar auch Vorteile, weil mit dem Bildschirm eine Ebene dazwischengeschaltet ist. Das schafft eine gewisse Distanz, um die Emotionalität etwas zu kanalisieren. Dann wird das Gegenüber nur zu einem kleinen Teil repräsentiert, nämlich nur mit Gesicht und Oberkörper, so dass negativ triggernde physische Macht- und auch Ohnmachtsgesten, selbst wenn sie eingenommen werden, weniger präsent sind, was die Komplexität weiter reduzieren kann.
Heike Kramann ist Psychologin und Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, sie hat außerdem Germanistik und Politikwissenschaften studiert. Sie arbeitet als Supervisorin, Coach, als Organisationsbegleiterin und ist als Lehrende tätig
Erste-Hilfe-Koffer
Dieses Tool stammt eigentlich aus der Traumatherapie und ist dort bekannt als „Schutzmantelübung“.
Es eignet sich für Momente, in denen man das Gefühl hat, dass die Welt eisig und unfreundlich, abweisend oder schmerzhaft ist
1. Setzen Sie sich hin oder stellen Sie sich hin und strecken Sie die Arme aus. Jetzt stellen Sie sich vor, sie hätten so etwas wie eine schützende Hülle um sich herum, und fragen Sie sich, wie viel Platz Sie innerhalb Ihrer Hülle brauchen, wie viel Abstand Sie also zur Grenze brauchen.
2. Nächster Schritt: Tasten Sie sich gedanklich vor an die Grenze und überlegen Sie, aus welchem Material die Hülle sein sollte: aus Stein, aus Holz oder aus Gummi, vielleicht auch aus feinem, durchsichtigem Stoff. Sodann fragen Sie sich, wie der Kontakt nach außen sein soll: Welche und wie viele Fenster oder Türen will ich? Wie groß? Wann offen, wann geschlossen? Sie entscheiden! So können Sie in sich ein angenehmes Gefühl der Sicherheit erzeugen und sich überlegen, welcher Satz das am besten ausdrückt. Vielleicht einer der beiden folgenden: „Gut, dass ich jetzt hier bin.“ Oder: „Ich nehme mir meinen Raum.“
3. Ausgehend von diesem Gefühl und dem passenden Satz gelingt der Blick nach draußen – und auch dazu lässt sich wieder ein geeigneter Satz formulieren, vielleicht: „Ich mache es auf meine Art, andere machen es auf ihre Art.“
4. Danach konzentrieren Sie sich
nochmals ganz auf das angenehme Gefühl der Sicherheit und des Geschütztseins. Speichern Sie dieses innere Bild ab und falten Sie dann die Schutzhülle symbolisch zusammen.