Außer Dienst und stets verfügbar

Über die Arbeitszeit hinaus beruflich erreichbar sein zu müssen, ist schädlich, betrifft aber nicht den Großteil der Berufstätigen.

Dauerhaft außerhalb der normalen Arbeitszeiten für Vorgesetzte, Kundinnen oder Kunden verfügbar, sprich per Mail oder Telefon erreichbar zu sein ist weniger verbreitet als gedacht: Es betraf laut einer aktuellen Studie, für die Daten einer großen, national-repräsentativen deutschen Stichprobe ausgewertet wurden, nur rund etwa ein Sechstel der angestellten und selbständigen Teilnehmenden. Bei ihnen fanden die Forscherinnen Corinna Brauner, Anne M. Wöhrmann und Alexandra Michel allerdings ein alarmierendes Ergebnis: Sie waren sehr unzufrieden mit ihrer Work-Life-Balance, erschöpft und klagten deutlich häufiger über gesundheitliche Probleme als andere Versuchspersonen. Die so stark für ihre Arbeit Verfügbaren berichteten, dass von ihnen erwartet werde, auch außerhalb der Arbeit regelmäßig für berufliche Ansprechpartner erreichbar sein zu müssen und dies auch häufig genutzt wurde (berufliche Schichtdienste oder Notfalldienste waren ausgeschlossen). Die hohe Verfügbarkeit, die von ihnen erwartet werde, sei aus ihrer Sicht illegitim.

Weitere rund zwölf Prozent gaben an, in einem mittleren Ausmaß verfügbar sein zu müssen und berichteten ebenfalls von hohen Erwartungen seitens der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers. Sie selbst beurteilten diese Verfügbarkeit als notwendig und angemessen. Sie berichteten von mehr Unzufriedenheit und fehlender Work-Life-Balance. Der überwiegende Teil der Befragten, rund 85 Prozent, gab an, nur selten oder gar nicht „außer Dienst“ für berufliche Kontakte erreichbar sein zu müssen. Wie die Autorinnen schreiben, bleibe es abzuwarten, ob die Coronapandemie die Erwartungen an die Verfügbarkeit außerhalb der Arbeitszeit erhöhe, weil Mitarbeitende häufiger als vorher mobil oder im Homeoffice arbeiteten. 

Erwartungsdruck

Die Wissenschaftlerinnen hatten Daten von rund 17.000 interviewten Berufstätigen der Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2015 ausgewertet. Die Interviewten stammten aus einer großen Bandbreite verschiedener Branchen. Mehr Führungskräfte berichteten von einem hohen Erwartungsdruck – sie fühlten sich für ihre Arbeit verantwortlich und hätten den Anspruch an sich, für Kundinnen oder Teammitglieder erreichbar sein zu müssen, schreiben die Forscherinnen. Auch Frauen gaben häufiger an, über die Arbeit hinaus verfügbar sein zu müssen. Dies könne damit zusammenhängen, dass Frauen häufiger als Männer Hausarbeit und Kinderbetreuung leisteten. Jüngere empfanden es öfter so als Ältere – womöglich, weil sie stärker als Ältere auf eine Balance zwischen Arbeit und Leben achteten. Bei Selbständigen seien die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben durchlässiger. Aus Sicht der Autorinnen lassen die Ergebnisse der Auswertung offen, ob die Anforderungen an Verfügbarkeit bei den stark beanspruchten Befragten zu hoch sind oder ob es die Unvorhersehbarkeit ist, die Stress erzeugt und zu Überforderung führt. 

Corinna Brauner u. a.: Work availability types and well-being in Germany – a latent class analysis among a nationally representative sample. Work & Stress, 2021. DOI: 10.1080/02678373.2021.1969475

Artikel zum Thema
Manche finden es altmodisch, dass das Arbeitszeitgesetz uns elf ununterbrochene Stunden Ruhezeit vorschreibt. Arbeitswissenschaftler sehen das anders.
​Un-Ort der Arbeit, Sehnsuchtsphantasie für Pendler, Corona-Albtraum? Zu Hause arbeiten kann vieles bedeuten. Über die Psychologie des Homeoffice.
Eine Forschergruppe untersuchte, wie sich der wahrgenommene soziale Status von Müttern auf ihre Gesundheit auswirkt.
Anzeige
Psychologie Heute Compact 79: Das Leben aufräumen