Eigentlich liebe ich meine Arbeit. Ich hatte immer viel Freude mit den Erstklässlern. Das Unterrichten liegt mir. Doch seit ich die Schulleitung übernommen habe, hetze ich nur noch hin und her.“ So beschreibt die Leiterin einer Grundschule den Druck, der täglich auf ihr lastet. „Oft fällt mir erst nachmittags auf, dass ich seit Stunden nichts getrunken habe und mein Nacken total steif ist. Ich weiß, dass ich mich besser um mich kümmern müsste, aber dann fällt schon wieder ein Kollege aus, und ich muss…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
weiß, dass ich mich besser um mich kümmern müsste, aber dann fällt schon wieder ein Kollege aus, und ich muss einspringen.“
Ähnlich ergeht es einer jungen Sozialarbeiterin, die in einem Containerdorf mit geflüchteten Familien arbeitet. Sie mag ihre Arbeit, hat sogar angefangen, Arabisch zu lernen, ist hochmotiviert, verzweifelt aber oft an der Fülle der Aufgaben. Was soll sie zuerst machen? Gründe finden für den Verlängerungsantrag, die Begleitung zum Gericht absagen oder erst mal die Klientin beruhigen, die aus lauter Angst vor der nächsten Asylanhörung nicht mehr aufhören kann zu weinen? Und eigentlich müsste sie dringend mal etwas essen.
In sozialen Berufen ist es besonders herausfordernd, ein gutes Gleichgewicht zu finden zwischen der Sorge um andere und der Selbstfürsorge. Im Pflegeheim, in der Erstaufnahmeeinrichtung, in Kita und Schule sind Aufmerksamkeit und Zuwendung, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit gefragt. Gesunde Grenzen zu ziehen, wenn das Gegenüber leidet, ist herausfordernd. Eine Excel-Tabelle lässt sich schließen, ein aufwühlendes Gespräch nicht so ohne weiteres abhaken.
Eine bundesweite, von der Hochschule Fulda und der Gewerkschaft Verdi 2022 durchgeführte Studie kam zu dem Ergebnis, dass Beschäftigte in der sozialen Arbeit zunehmend an ihre Belastungsgrenzen stoßen und einem erhöhten Burnoutrisiko ausgesetzt sind. Mehr als ein Drittel der Befragten arbeitet wöchentlich drei oder mehr Stunden zusätzlich und 65 Prozent klagen über Zeitdruck. Fast die Hälfte schleppt sich krank zur Arbeit oder verzichtet auf Pausen.
Leistungs- und Erfolgsdruck herrschen in nahezu allen Branchen. In sozialen Berufen kommen noch Dokumentationspflichten, ständig neu gemischte Teams und Anforderungen des Qualitätsmanagements und belastende Inhalte dazu. Und ob Schule, Kita oder soziale Beratungsstelle: Die Gruppengrößen und Fallzahlen steigen. „Wenn man mit Menschen zu tun hat, die viel durchgemacht haben, und gleichzeitig die Zeit immer knapp ist, fällt es nicht leicht, sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern“, weiß die promovierte Sozialwissenschaftlerin, Sozialpädagogin und systemische Therapeutin Dima Zito. Gemeinsam mit dem Psychologen und Gestalttherapeuten Ernest Martin hat sie das Buch Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen für Soziale Berufe veröffentlicht.
Der erste Schritt sei, zu erkennen: Ich kann anderen nur helfen, wenn es mir gutgeht. Ich darf und sollte mich selbst genauso wichtig nehmen wie meine Klientinnen und Klienten. Dass Selbstfürsorge die Basis ist für eine gute soziale Arbeit, leuchtet ein. Wer mit verspannten Muskeln und müdem Kopf versucht, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren, ist wenig aufnahmefähig, tut sich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, und kann wahrscheinlich nicht besonders hilfreich wirken. Gleichzeitig ist die Verführung groß, Belastungssignale wie Kopfschmerzen oder Konzentrationsstörungen zu übergehen. Denn angesichts der dramatischen Geschichte, die die Klientin gerade schildert, wirkt die eigene Not im Vergleich dazu nicht der Rede wert.
Doch wer sich nicht erlaubt, kleine Pausen zu machen und innezuhalten, läuft Gefahr, in einen To-do-Strudel zu geraten, aus dem es irgendwann kein Entkommen mehr zu geben scheint.
Die Crux sei, dass es sich im ersten Moment nicht gut anfühlt, mitten im hohen Tempo zu stoppen. „Wenn ich innehalte, spüre ich erst mal, wie erschöpft und frustriert ich bin. Dann ist die Verlockung groß, einfach weiterzumachen. So entsteht ein Teufelskreis: Je stärker ich belastet bin, desto mehr vermeide ich zu spüren, wie es mir geht“, sagt Ernest Martin. Ab einem bestimmten Punkt sei es leichter, weiter zu funktionieren, als eine Pause zu machen und sich wieder zu regulieren.
Auf die Dauer wird dieses Verhalten jedoch selbstschädigend; vor allem wenn die strukturelle Unterversorgung eigene biografische Muster triggert. Wer beispielsweise schon als Jugendlicher die Rolle des Kümmerers in der Familie angenommen und Aufgaben übernommen hat, die drei Nummern zu groß waren, neigt vielleicht später in der sozialen Arbeit dazu, sich aufzuopfern. Deshalb gehöre zur Selbstfürsorge auch, sich mit den biografischen Wurzeln auseinanderzusetzen und Glaubenssätze wie: „Wenn ich es nicht tue, macht es keiner“, zu hinterfragen, so Dima Zito.
Aus zahlreichen Supervisionen weiß sie, dass die meisten Menschen, die im sozialen Bereich arbeiten, ständig das Gefühl haben, nicht genug geschafft zu haben. „Und wenn sie sich abgrenzen und pünktlich Feierabend machen, haben sie ein schlechtes Gewissen, weil dann jemand, der Unterstützung braucht, vielleicht keine oder zu wenig bekommt.“ Hilfreich sei, sich klarzumachen: Ich kann nur so viel geben, wie ich zur Verfügung habe. Meine Kräfte sind begrenzt. Auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, ich kann nie allen helfen und auch durch Überstunden nicht das ganze System retten.
Zito und Martin raten dazu, sich wenigstens drei Atemzüge Zeit zu nehmen zwischen einer Aufgabe und dem nächsten Termin. Besser noch zehn. „In der Regel machen wir Dinge überlappend. So berauben wir uns des guten Gefühls, etwas geschafft zu haben, und fühlen uns unwirksam“, meint Ernest Martin.
Dass Menschen in helfenden Berufen einem höheren Burnoutrisiko ausgesetzt sind, liegt auch am sogenannten empathischen Stress. Veronika Engert, Professorin für soziale Neurowissenschaften an dem Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena, erforscht mit ihrem Team, wie emotionale Belastungen übertragen werden. „Es gibt eine Studie, die zeigt, dass sich der Herzschlag des Babys beschleunigt, wenn die Herzrate der Mutter, die das Baby im Arm hält, erhöht ist.“ Diese Übertragung passiere auch, wenn die Betreuerin tagein, tagaus mit den Sorgen anderer Menschen konfrontiert werde. Deshalb sei es so wichtig, sich nach einem aufwühlenden Kontakt wieder zu regulieren und zu regenerieren: durch einen kurzen Spaziergang, einige Dehn- und Schüttelübungen bei geöffnetem Fenster, ein entlastendes Gespräch mit einer vertrauten Kollegin.
Einen guten Umgang mit den eigenen Gefühlen zu lernen hält Ernest Martin für besonders wichtig. Der emotionale Rucksack, der sich im Laufe eines Arbeitstages füllt, sollte regelmäßig geleert werden. Der Weg nach Hause eigne sich zum Beispiel gut, um in der Fantasie Lasten abzulegen (siehe Kasten links). Anfangs kostet es eine gewisse Überwindung und auch Disziplin, Visualisierungsübungen zu machen oder in der Mittagspause nach draußen zu gehen, obwohl der Schreibtisch voll ist. Beim vierten Mal ist da aber plötzlich die Lust, es einfach zu tun, weil es einem danach deutlich besser geht als nach einer Pause vor dem Laptop mit einem Brötchen.
Obwohl Selbstfürsorge für die soziale Arbeit zentral ist, kam das Thema bislang in der Ausbildung nur am Rande vor. Nachdem ihr Buch erschienen war, wurden Zito und Martin von einer Onlineuniversität beauftragt, ihre Erkenntnisse in ein Studienheft für die Studierenden zu übertragen. „Das hat uns sehr gefreut. Das Thema Selbstfürsorge kommt langsam in der Ausbildung an.“
Am Zentrum für Empirische Pädagogische Forschung der Universität Koblenz-Landau – inzwischen Technische Universität Kaiserslautern-Landau – wurde ein Seminar namens „Besser leben! Selbstfürsorge für psychosoziale Fachkräfte“ entwickelt. An mehreren Seminartagen lernten die Teilnehmenden Selbstfürsorgestrategien. Die Wirksamkeit wurde in zwei Studien von 2013 bis 2017 kontrolliert. Die Absolventinnen und Absolventen des Seminars fühlten sich weniger gestresst, waren seltener erschöpft und konnten Selbstfürsorgestrategien dauerhaft in ihren Alltag integrieren. Darunter: sich mehr Zeit für Pausen nehmen, Arbeitsaufgaben abgeben, regelmäßig Sport machen, ein Entspannungsverfahren lernen und mehrmals in der Woche praktizieren.
Dima Zito betont, Selbstfürsorge dürfe nicht als Strategie benutzt werden, um widrige Arbeitsbedingungen zu kompensieren. Selbstfürsorge bedeute auch, für sich und andere einzustehen und sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Gerade weil es um hilfsbedürftige Menschen gehe, sei es entscheidend, die eigenen Grenzen zu achten und gesund zu bleiben, um diese gesellschaftlich wichtige Arbeit im Idealfall mit Freude viele Jahre lang machen zu können.
l
Tipps für den Arbeitsalltag
Tun Sie nie mehr als eine Sache auf einmal und tun Sie sie ganz. Damit sparen Sie viel Energie.
Schließen Sie alles, was Sie tun, bewusst ab. Gönnen Sie sich einen Moment Pause, wenn Sie ein Gespräch oder einen Arbeitsschritt beendet haben. Machen Sie sich klar, dass diese eine Sache beendet ist. Spüren Sie wenigstens für drei Atemzüge in Ihren Körper. Nur so können Sie realisieren, was Sie geschafft haben.
Machen Sie einmal am Tag eine längere Pause, in der Sie nach Möglichkeit Ihre Arbeitsumgebung verlassen. Essen Sie etwas Gutes. Bewegen Sie sich. Gönnen Sie sich gelegentlich, allein in die Pause zu gehen und auf das gemeinsame Mittagessen mit Kolleginnen und Kollegen zu verzichten.
Übung: Belastendes loslassen
Wenn Sie Ihre Arbeitsstelle verlassen und noch eine Belastung spüren, seien es innere Bilder oder ein bedrückendes Gefühl, können Sie das schrittweise auf dem Heimweg ablegen. Schauen Sie sich um, ob Sie irgendwo Erde entdecken. Vielleicht gibt es viel Grün dort, wo Sie arbeiten. Aber auch mitten in der Stadt werden Sie vielleicht überrascht sein, wie viel Sie entdecken. Das kann ein Blumenkasten sein, ein Grünstreifen, ein Baum in einem Beet am Straßenrand. Richten Sie Ihren Blick auf die Erde, atmen Sie aus und stellen Sie sich vor, wie Sie damit einen Teil der Belastung der Erde übergeben. Dort wird sie zu Humus umgewandelt. Legen Sie einfach in Ihrer Fantasie alles ab, was Sie nicht mehr mit sich tragen wollen, und überlassen Sie alles Weitere der Natur. Und so gehen Sie weiter Ihren Weg. Bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug schauen Sie nach einem Stück Erde und hinterlassen dort einen Teil der Belastung. Sie müssen nicht wissen, was genau Sie ablegen. Setzen Sie Ihren Weg in dieser Weise fort, bis Sie sich leichter und geklärt fühlen.
Dima Zito
Zum Weiterlesen
Ulrike Juchmann: Selbstfürsorge in helfenden Berufen. Wie Achtsamkeit im Arbeitsalltag gelingt. Kohlhammer 2022
Dima Zito, Ernest Martin: Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen für Soziale Berufe. Beltz Juventa 2021