Therapie, selbst im Traum

Ein Patient raubt Tabea Farnbacher den Schlaf. Sie fragt sich: Schadet ihm die Psychotherapie gar?

Die Illustration zeigt einen weinenden Mann, dessen Tränen Autos sind. Im Hintergrund steht eine Frau, die versucht die Autos in die richtige Richtung zu lenken
Tabea Farnbacher träumt nachts von einem Patienten weil sie über die Nebenwirkung von Therapie grübelt © Rosa Viktoria Ahlers für Psychologie Heute

Meine Patientinnen rauben mir selten den Schlaf, aber manchmal kapern sie ihn. Sie werfen ihre Anker in meine Träume, lassen mich mit Gedanken an sie aufwachen oder einschlafen. Gestern Nacht bin ich schlagartig wach geworden und dachte: „Das ging zu tief.“ Mit „Das“ meine ich die letzte Therapiestunde mit Herrn B.

Herr B. ist ein Anfang 60-jähriger Mann und leitet ein Autohaus. Er trägt viel Verantwortung und sorgt sich um die Zahlen, die Mitarbeitenden, seine Außenwirkung, die Gesundheit seiner Frau, seines Sohnes, um das Weltgeschehen, um Alles. Diese Sorgen teilt er mir nur zögerlich mit, oft in vagen, phrasenhaften Formulierungen. Über Gefühle redet Herr B. in Form von „gut“ und „schlecht“ – am liebsten aber gar nicht. Wenn ich ihn frage, wie er sich fühlt, erzählt er mir, was er denkt. Oder er macht einen meistens sehr guten Witz.

Herr B. ist nie zufrieden mit sich. Seine hohen Ansprüche verlangen, dass er es immer noch ein bisschen besser macht. Der perfekte Arbeitgeber, Mann, Vater. Herr B. ist nicht zufrieden mit sich – und ich muss mir zögerlich eingestehen, dass ich es auch nicht bin. Auch ich verlange mehr von ihm: mehr Gefühle, Zweifel, Offenheit. Und mehr von mir: Mehr gute Fragen, Verständnis, Sicherheit. Zwei Perfektionisten unter sich.

Letzte Stunde habe ich Herrn B. eine Liste mit Gefühlen mitgebracht. Ich bat ihn, jene zu umkreisen, die er regelmäßig wahrnehme. Er fühlte: Unsicherheit, Scham, Freude, Trauer, Traurigkeit, Nervosität, Schuld. Er berichtete über diese Gefühle mit wenigen Sätzen und einigen Tränen. Es war das erste Mal, dass ich Herrn B. weinen sah. Bei den meisten Patienten und Patientinnen gehört das Weinen ganz selbstverständlich zum Prozess. Bei Herrn B. fühlte es sich stolpernd, irgendwie haltlos an. Es war eine Therapiestunde mit unsicheren Schritten auf Glatteis.

Gestern Nacht werde ich also schlagartig wach und denke: „Das ging zu tief.“ Die ganze Zeit habe ich mir gewünscht, dass Herr B. ins Spüren kommt. Jetzt, da ich einen Einblick in seine Gefühle erhalte, fühle ich selbst, wie unangenehm diese für ihn sind. Und ich fühle mich schuldig, ihn dazu angeleitet zu haben. Es geht doch langsam auf die Entlassung zu. Ist es nicht meine Aufgabe, ihn zu stabilisieren, statt zu destabilisieren?

„Wir müssen uns bewusst sein, dass eine Therapie, wie jede Behandlung, Nebenwirkungen hat“, habe ich meinen Professor im Ohr. Ich hoffe, dass nur ich nachts von dieser Therapiestunde aufwache (und nicht Herr B) und schalte (psychologisch sehr unvernünftig) den Fernseher ein.

Ich wähle Grey‘s Anatomy – eine Krankenhaus-Serie mit haarsträubend unrealistischen Krankheitsverläufen, aber überraschend realistischen Ausbildungsgefühlen. Meredith Grey, Ärztin in Ausbildung, lässt im Operationssaal eine Leber vor der Transplantation fallen. Sie erstarrt vor Schreck. Das Leben ihrer Patientin hängt von diesem Organ ab. Am Ende geht alles gut, die Leber bleibt intakt, die Patientin überlebt. Dennoch von Schuldgefühlen belastet, steht Meredith nachts vor dem verglasten Zimmer und starrt die Patientin an. Hinter ihr taucht Richard Webber auf, der Klinikleiter. “There’s only so much we can help”, sagt er, “And so much we can hurt.” Wir können nur begrenzt helfen. Wir können nur begrenzt schaden. Richard ermutigt Meredith, ihre Verantwortung weder zu unter-, noch zu überschätzen. Das erinnert mich an ein Zitat aus meiner eigenen Ausbildung: „Therapie ist, was zwischen den Sitzungen passiert.“ Ich drehe mich auf die Seite und schlafe endlich wieder ein.

In die nächste Sitzung kommt Herr B. souverän, freundlich und vage wie immer. Ich frage ihn, wie er die letzte Stunde empfunden hat. „Gut“, sagte er, „naja, normal eben. Ich habe meiner Frau davon erzählt.“

Ich habe von Herrn B. zwei wichtige Sachen gelernt. Erstens: Therapie kann Nebenwirkungen haben, und ich habe für diese eine Teilverantwortung, die ich abwägen möchte und (er)tragen muss. Zweitens: Herr B. ist ein fast 60-jähriger Autohändler mit gut laufendem Betrieb und funktionierender Familie. Ich kann ihm nur ein wenig helfen – und auch nur ein wenig schaden. Den Rest macht Herr B. schon ganz allein.

Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Das Foto zeigt ein Portrait von Tabea Farmbacher
Tabea Farnbacher wurde 1996 in Hannover geboren. Sie arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung in einer psychiatrischen Klinik im Ruhrgebiet. Seit 2016 ist sie außerdem als Bühnenpoetin und Lyrikerin tätig. Farnbacher wurde mehrfach für ihre schriftstellerische Arbeit ausgezeichnet unter anderem mit Bundespreis „Treffen junger Autorin:innen“. In dieser Kolumne schreibt sie über ihre Erfahrungen und ihre Entwicklung als junge Therapeutin.

Transparenz-Hinweis:

Es gibt keine Therapeutin ohne Patientinnen – deshalb erzählt diese Kolumne von Menschen in der Psychiatrie. Da der Schutz der Behandelten an oberster Stelle steht, werden die Fallbeispiele bezüglich ihrer soziodemographischen und biografischen Daten stark verändert und erscheinen mit zeitlichem Abstand. Die berichteten Begegnungen bleiben in ihrem emotionalen Kern erhalten.

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