Von hier aus kann ich meine Sorgen kaum noch sehen

Mithilfe von Körperwahrnehmung können wir belastendes Grübeln ins Leere laufen lassen. Therapeutin Thea Rytz zeigt, wie wir unsere Aufmerksamkeit lenken.

Die Illustration zeigt eine Person, die einen großen Kopf, der über ihr schwebt, wie ein Ballon und eine Schnur aus einem Haar des großen Kopfes sich um die Person windet
Legen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Stellung unseres Körpers, schwirren unsere Sorgen davon. © Hanna Barczyk für Psychologie Heute

Sie liegen nachts wach im Bett. Vielleicht sind Sie aufgeregt wegen einer bevorstehenden Reise. Oder Sie sind bedrückt, die Sorge um eine nahestehende Person lässt Sie nicht los. Persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen, auf die es keine einfachen Antworten gibt, gehen Ihnen nahe. Kreisende Gedanken halten Sie wach. Sie wünschen sich Ruhe und Schlaf, doch in Ihnen ist eine völlig andere Atmosphäre spürbar: Sie sind aufgewühlt und getrieben.

Fast alle Menschen kennen solche sorgenvollen Gedanken,…

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spürbar: Sie sind aufgewühlt und getrieben.

Fast alle Menschen kennen solche sorgenvollen Gedanken, die im Kopf ein Eigenleben entwickeln und sich in endlosen Schleifen wiederholen. Sie versetzen Psyche und Körper in einen Alarmmodus, und deshalb ist es so schwer, von ihnen loszukommen und zur Ruhe zurückzufinden.

Sorgen sabotieren das Handeln

Im Alltag nennen wir das Grübeln. Die Psychologie hat für diese beharrlichen, sich selbst nährenden negativen Gedankenschleifen den Ausdruck „Rumination“ geprägt. Charakteristisch für diesen Zustand ist eine Art Lähmung: Indem wir unsere Aufmerksamkeit beharrlich auf die Katastrophengedanken und den inneren Aufruhr richten, lähmen wir die exekutiven Funktionen unseres Gehirns – also das Planen und Entscheiden. Das Grübeln bringt uns keiner Lösung näher, sondern behindert sie sogar.

„Unablässige Beschäftigung mit unseren Sorgen und Nöten sabotiert effektiv jedes zielgerichtete Handeln“, schreibt der Psychologe Ethan Kross von der University of Michigan in seinem Buch Chatter. „In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, wie sehr Grübeleien an unseren Kräften zehren – Studentinnen schneiden in Examina schlechter ab, Schauspieler vergessen vor lauter Lampenfieber ihren Text und malen sich zwanghaft aus, was bei der Aufführung alles schiefgehen könnte.“

Niemand entkommt der Grübelei

Wohl niemandem ist das selbstsabotierende Gedankenkreisen völlig fremd, doch manche Menschen neigen deutlich stärker zum Grübeln als andere. Rumination selbst ist keine Krankheit, keine klinische Diagnose, aber sie gilt als „transdiagnostischer Risikofaktor“: Die Grübelneigung erhöht die Gefahr, eine Depression, eine generalisierte Angststörung, eine Schlafstörung oder eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln.

Was hilft? Klassische kognitive Therapien setzen an den Gedankeninhalten an und versuchen etwa, die „dysfunktionalen Gedanken“ („Ich werde in der Prüfung versagen“) durch „konstruktive Gedanken“ zu ersetzen. Neuere Ansätze wie die achtsamkeitsbasierte Therapie oder die metakognitive Therapie zielen hingegen darauf, die Grübelgedanken zuzulassen, jedoch innerlich auf Distanz zu ihnen zu gehen. In eine ähnliche Richtung weisen die Übungen, die Sie in diesem Text kennenlernen werden. Es geht darum, Abstand zum Grübeln zu gewinnen – und zwar mithilfe der Körperwahrnehmung. Denn der Körper ist die Basis und der Resonanzraum für alles, was wir erleben.

Im Folgenden lade ich Sie mehrmals ein, eine konkrete Erfahrung zu machen. Lesen Sie den jeweiligen Abschnitt durch und nehmen Sie sich gleich im Anschluss Zeit, die Anregung auszuprobieren.

Drei Aspekte gegen Gedankenkreisen

Unser Körper ist kein abgeschlossenes Objekt, sondern ein sich stetig neu konstituierender lebendiger Organismus im engsten Austausch mit seiner Umgebung. Was Sie wahrnehmen, ist immer ein Ergebnis dieses Austauschs; Sorgen und Aufregung färben die Qualität Ihrer Aufmerksamkeit und den Zustand Ihres ganzen Organismus. In der achtsamen Körperwahrnehmung fokussieren wir unter anderem genau auf diese Wechselwirkungen. Dazu nutzen wir unsere körperlich-sinnliche Wahrnehmung, die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu lenken, und eine möglichst warmherzige Offenheit dem eigenen Erleben gegenüber.

Alle drei Aspekte greifen ineinander und lassen uns eine stimmige Mischung finden zwischen Nähe und Distanz zu dem, was in uns und um uns geschieht. So erleben wir uns ausgeglichener und selbstwirksamer, was wiederum dazu führt, dass wir weniger in Gedankenkreisen landen und Grübeln schneller stoppen.

Im körperlich-sinnlichen Fokus

Kehren wir zurück zu unserem Eingangsbeispiel: Sie liegen aufgewühlt im Bett, finden nicht zur Ruhe, denn in Ihrem Kopf rattert es. Wäre es Ihnen möglich, sich zu räkeln und zu strecken, damit sich Ihre Muskulatur entspannen kann? Legen Sie sich dann in die Position, in der Sie üblicherweise einschlafen, und spüren Sie bewusst den Kontakt zu Ihrer Unterlage. Tun Sie so, als sei das gerade das Wichtigste. Der Inhalt der Gedanken kann warten; Sie entscheiden sich dafür, ihn warten zu lassen. Wiederholen Sie diese innere Entscheidung, wann immer Sie merken, dass Sie wieder am Denken sind.

Lenken Sie nun Ihre Aufmerksamkeit auf die körperlich-sinnlichen Eindrücke Ihrer unmittelbaren Umgebung und Ihre Eigenwahrnehmung. Spüren Sie den Druck der Matratze, den Kissenüberzug, die Temperatur des Lakens. Spüren Sie, wie das Kissen Ihren Kopf bettet und die Matratze Sie trägt. Lassen Sie sich noch etwas mehr auf diese Kontaktflächen ein. Falls es sich bequem anfühlt, legen Sie eine Hand oder auch alle beide auf Ihren Rumpf. Spüren Sie den Stoff des Schlafanzugs, vielleicht auch Ihre Haut, die Wärme zwischen Rumpf und Händen, die Bewegung Ihres Atems.

Gibt es Empfindungen, die Ihnen mühelos zugänglich sind? Bleiben Sie bei denen, die sich möglichst ruhig anfühlen. Falls Empfindungen auftauchen, die Sie ähnlich aufwühlen wie Ihre Gedanken, entziehen Sie diesen Ihre Aufmerksamkeit und nehmen andere körperlich-sinnliche Empfindungen in den Fokus. Vielleicht wollen Sie sogar leise Musik hören? Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit so sanft wie möglich zwischen inneren und äußeren Reizen hin- und herpendeln. Nehmen Sie wahr, was sich neutral oder angenehm anfühlt, und verweilen Sie dort. Lassen Sie innere Kommentare versickern oder stellen Sie sich vor, es wären Stimmen in einer für Sie fremden Sprache.

Wo ist mein Schwerpunkt?

Stellen Sie sich hin (am besten ohne Schuhe) und nehmen Sie den Kontakt Ihrer Fuße mit dem Boden wahr. Der Boden trägt Sie. Verlagern Sie Ihren Schwerpunkt – der sich im Becken befindet – über ein Bein. Dieses fuhlt sich nun eher dicht und schwer an, das andere leichter und leerer. Belassen Sie den Schwerpunkt über diesem Bein und vergleichen Sie Ihre Empfindung detaillierter: Was nehmen Sie in den Fußsohlen, Fußgelenken, Knien und Huften wahr?

Verlagern Sie dann Ihren Schwerpunkt uber die Mitte hinweg zum anderen Bein. Was empfinden Sie? Vielleicht spüren Sie, wie der Druck im zweiten Bein allmählich zunimmt, im anderen weniger wird, wie die Empfindungen sich von Moment zu Moment leicht verändern. Wenn Sie merken, dass Ihre Aufmerksamkeit abschweift – weil Sie zum Beispiel zu denken beginnen oder von einem Geräusch im Außenraum abgelenkt sind –, laden Sie sich freundlich ein, sich wieder auf die Empfindung in Ihren Beinen und den Kontakt zum Boden zu konzentrieren.

Wiederholen Sie diese Gewichtsverlagerung einige Male. Versuchen Sie wie mit tastenden Fühlern, das Innere Ihrer Füße, Knie, Hüfte und vielleicht sogar Ihres ganzen Körpers zu erkunden. Sie suchen nach keiner bestimmten Empfindung. Sie wollen nichts verändern oder verbessern. Wenden Sie sich etwa zwei Minuten lang so gut es geht nur diesem wortlosen Wahrnehmen zu.

Wiederholen Sie nun dieses Spüren beim Gewichtverlagern und gehen Sie dabei gedanklich Ihren morgigen Tag durch. Erzählen Sie sich still, was Sie an jenem Tag vorhaben. Versuchen Sie nach wie vor, möglichst konkret zu spüren, wie sich die Gewichtsverlagerung in Ihren Beinen anfühlt. Bleiben Sie so nah wie möglich mit Ihrer Aufmerksamkeit beim konkreten Erleben. Planen Sie gleichzeitig weiter Ihren morgigen Tag. Was beobachten Sie?

Zwischen Spüren und Denken

Mussten Sie sich vom konkreten Spüren lösen, um sich der Planung zu widmen? Entstand eine innere Spannung, als müssten Sie entscheiden: spüren oder planen? Haben Sie beim Planen den Faden verloren, wenn Sie sich aufs Spüren konzentrierten, und mussten immer wieder von vorne beginnen?

Dann ist es Ihnen wie mir selbst und vielen anderen ergangen, die ich in den letzten 15 Jahren zu diesem Experiment eingeladen habe. Wir können nämlich nicht gleichzeitig detailliert körperlich sinnlich wahrnehmen und in Begriffen denken. Sobald wir zu denken beginnen, abstrahieren wir, weil wir Worte formulieren, Begriffe auswählen und uns ein Stück weit vom konkreten, bewusst erspürenden Erleben loslösen. Aus Worten bilden wir Gedanken, Urteile, Erinnerungen, Pläne, Kommentare, die wir dann in unserem Innern hören, als ob wir zu uns selbst sprächen. Wenden wir uns bewusst dem konkreten Spüren zu, wird es hingegen für einen Moment wortlos in uns. Es ist physiologisch unmöglich, gleichzeitig bewusst zu spüren und in Worten zu denken, wie Alan Fogel, emeritierter Psychologieprofessor an der University of Utah, in seinem Buch Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie erläutert.

Ist es Ihnen in diesem Experiment gelungen, die beiden Erfahrungsräume (Druck in den Gelenken spüren, den morgigen Tag planen) klar voneinander zu unterscheiden, dann haben Sie auch die Freiheit, sich mal dem einen, mal dem anderen zuzuwenden. Vielleicht ist ein Fokus im Moment attraktiver als der andere und es braucht ein wenig Überwindung, sich dem anderen zuzuwenden; grundsätzlich können Sie Ihre Aufmerksamkeit aber frei hin- und herpendeln lassen.

Probieren Sie es kurz aus: ein wenig planen, dann wieder konkret spüren. Sich bewusst dem achtsamen Spüren zuwenden: Das können Sie wie einen stillen Landeplatz für Ihre Aufmerksamkeit nutzen, wenn Sie realisieren, dass Sie grübeln oder sich von einem bestimmten gedanklichen Thema abwenden wollen. Sie haben die Wahl, wie lange und wohin Sie Ihre Aufmerksamkeit – gleich einem inneren Scheinwerfer – lenken.

Aufmerksam auf meine Belastungen

Wenden Sie sich nun nochmals dem achtsamen Spüren beim Gewichtverlagern im Stehen zu. Lassen Sie Ihre Gedanken diesmal aber nicht zum morgigen Tag ausschweifen, sondern blicken Sie in die Vergangenheit: Erinnern Sie sich an eine Situation aus den letzten Wochen, die nicht einfach für Sie war; wählen Sie dabei eine moderate Belastung.

Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit mal zu der belastenden Situation schweifen, mal zum sinnlich-körperlichen Wahrnehmen, wie Sie das eben bereits geübt haben: Achten Sie auf den Kontakt zum Boden, den sich verändernden Druck in Ihren Beinen. Wenn Sie sich dem Spüren widmen, bleiben Sie mit der Aufmerksamkeit so lange dabei, bis Ihre Worte innerlich verstummen. Dies braucht natürlich etwas Übung. Konzentrieren Sie sich detailliert auf das Sinnlich-Körperliche.

Wenden Sie sich dann gedanklich wieder der belastenden Situation zu. Schauen Sie, ob Sie sich dafür interessieren können, was Sie erlebt haben; kann sogar ein wenig Neugierde beim Erkunden entstehen? Vielleicht merken Sie, dass manche Gedanken rund um die Belastung auch jetzt noch mit negativen körperlichen Empfindungen und Gefühlen verbunden sind. Können Sie akzeptieren, dass das Ihre momentane Stimmung beeinflusst, möglicherweise dämpft oder aufwühlt?

Beim Nachdenken befassen Sie sich also nicht nur mit Ihren Gedanken rund um die Belastung, sondern begegnen auch dem Echo, das diese Gedanken im Körper finden. Um uns von dieser unangenehmen Empfindung zu entlasten, suchen wir oft kognitiv nach einer Lösung des Problems, und da die Empfindung auf diesem Weg nicht weichen will, driften wir ins Gedankenkreisen ab.

Üben mit dem Eiswürfel

Ich schlage Ihnen vor, auf eine andere Weise nach Entlastung zu suchen: Lassen Sie dieses unangenehme Echo vorerst immer wieder in den Hintergrund wandern, indem Sie sich absichtlich neutralen Empfindungen zuwenden. Das könnte die Gewichtsverlagerung sein, die Sie nun schon gut kennen: Sie stehen, Ihre Beine tragen Sie, und Sie nehmen diese konkrete Stabilität, Ihre unmittelbare Gegenwart wortlos wahr. Vielleicht möchten Sie sich aber auch strecken, über das Gesicht streichen, ein Glas Wasser trinken oder sich auf den Boden legen. Über die Belastung nachzudenken ist weiterhin eine Option. Sie könnten sich jederzeit wieder diesem thematischen Feld zuwenden. Sie haben die Wahl und dosieren Ihr eigenes Hin- und Abwenden.

Selbst bei Schmerzen ist es in Grenzen möglich, zu der Empfindung auf Abstand zu gehen – ein gutes Training, auch gegen das Grübeln: Legen Sie einen Eiswürfel auf Ihre Handfläche und lassen Sie ihn vollständig schmelzen, ohne ihn zu verschieben oder anders zu manipulieren. Das dauert etwa 20 Minuten. Spüren Sie die Kälte, den Schmerz. Nehmen Sie wahr, wie Sie gedanklich und emotional darauf reagieren: geduldig oder ungeduldig, besorgt, innerlich protestierend, sanftmütig oder voller Stolz darauf, wie Sie das aushalten?

Nun erinnern Sie sich an Ihre Fähigkeit, Ihre Aufmerksamkeit zu lenken und zu dosieren: Spüren Sie zunächst absichtlich den Kontakt zum Boden, dann einen Atemzug, lassen Sie Ihren Blick schweifen und nehmen Sie bewusst Ihre Umgebung wahr, konzentrieren Sie sich dann auf die Facetten von Schmerz und Kälte. Wie weit spüren Sie diese? Wie fühlen sich die Finger an? Der Unterarm? Spüren Sie Veränderungen? Wie nahe wollen Sie der jeweiligen Empfindung kommen, wie lange bei ihr bleiben? Erkennen Sie Muster in Ihren Gedanken? Wie reagiert Ihre Stimmung?

Sobald wir die Freiheit haben, uns von äußeren und inneren Reizen nicht überwältigen zu lassen, sind wir gerade in belastenden Situationen wesentlich geschützter und handlungsfähiger und können uns zudem schneller distanzieren und regenerieren.

Einladung an mich selbst

Haben die Übungsvorschläge – insbesondere der schmerzhafte Eiswürfel – Unlust oder gar Angst bei Ihnen ausgelöst? Wenn Sie merken, dass Sie in einer Gedankenschleife gefangen sind, wenn etwas Sie innerlich absorbiert und nicht mehr freilässt, können Sie auch folgende körper- und achtsamkeitsorientierte Varianten der Distanzierung ausprobieren:

Laden Sie sich möglichst klar und freundlich nochmals zum konkreten Spüren von neutralen Empfindungen ein, pausieren Sie ein wenig und versuchen Sie es dann noch einmal. Sie können immer wieder neu beginnen.

Reichern Sie Ihre verkörperte Selbstwahrnehmung mit zusätzlichen Empfindungen an. Legen Sie zum Beispiel Ihre Hand auf Ihr Brustbein. Spüren Sie Ihre Kleidung, die Wärme, vielleicht Ihre Haut. Nehmen Sie die Bewegung des Atems unter Ihrer Hand wahr. Etwas in Ihnen weitet sich, wenn Sie einatmen, und schwingt wieder zurück, wenn Sie ausatmen. Interessieren Sie sich für diese Bewegung.

Legen Sie Ihre Handinnenflächen aneinander und spüren Sie den Kontakt, die Temperatur Ihrer Hände. Atmen Sie ein und drücken Sie gleichzeitig Ihre Hände gegeneinander. Lösen Sie den Druck, sobald Sie wieder ausatmen, die Berührung der Hände bleibt dabei erhalten. Lassen Sie den Atem von allein kommen und gehen; den Druck der Hände mit Ihrem Atemrhythmus zu koordinieren erfordert zusätzliche Konzentration. Dadurch bleiben Sie eher in der Gegenwart des wortlosen Spürens verankert und können dieses neue Verhalten festigen.

Was fühle ich? Wie fühle ich es?

Verschaffen Sie sich einen starken körperlich-sinnlichen Reiz, natürlich ohne sich selbst dabei Schaden zuzufügen. Stampfen Sie auf den Boden, stellen Sie sich kurz unter die kalte Dusche, trinken Sie etwas Saures, machen Sie ein paar laute Geräusche, hören Sie ein Musikstück, das Sie in eine andere Stimmung versetzt. So unterbrechen Sie das Muster, in dem sich Ihre negativen Gedanken und belastenden Empfindungen gegenseitig verstärken und einengen.

Geben Sie Ihrer Aufmerksamkeit ganz bewusst mehr Spielraum, eine etwas „längere Leine“. Lassen Sie zu, dass sich etwas in Ihnen immer wieder der Belastung und dem Grübeln darüber zuwendet, auch wenn ein anderer Teil das nicht möchte. Zeigen Sie sich interessiert, wenn Ihre Aufmerksamkeit dorthin wandert, sagen Sie sich beispielsweise innerlich: „Ah, da sind wieder diese Gedanken. Hm, das fühlt sich schwer an.“ Geben Sie sich ein wenig Zeit und Raum, sich damit zu befassen. Vielleicht machen Sie die erstaunliche Erfahrung, dass Sie auf einmal genug davon haben und sich von allein und müheloser abwenden wollen.

Es ist schon wahr: Über keines dieser Angebote werden Sie Ihre Belastungen los. Vielleicht fällt Ihnen auch keine Lösung für Ihr Problem ein. Aber Sie erleben, dass es noch etwas anderes gibt als Belastung. Sie vertiefen Ihre Fähigkeit, selbst starken emotionalen, körperlichen und gedanklichen Reizen nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Sie fühlen sich innerlich weniger eng und besetzt, sondern geräumiger und manchmal sogar freier und ruhiger.

Lebendig im Raum

Sind wir darin geübt, uns auf relativ neutrale Art und Weise immer wieder neu auf unsere verkörperte Selbstwahrnehmung zu konzentrieren, können wir uns zumindest zeitweilig von Worten und damit auch vom Nachdenken über belastende Situationen lösen. Das schafft Raum und Stille. Hadern, Grübeln oder sorgenvolles Gedankenkreisen kann sich so weniger in uns einnisten.

Es braucht einen aktiven Verzicht, die Entscheidung, einen Moment lang nicht über den Inhalt der Belastung nachzudenken und dem mitunter starken körperlichen Echo der Belastung wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Manchmal muss dieser Entschluss immer wieder neu gefasst werden. Der Psychiater Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie, wies darauf hin, dass es zwischen dem Reiz und der Reaktion einen Zwischenraum gibt, in dem Freiheit entstehen kann. Diese Freiheit können Sie kennenlernen und vertiefen, um Ihrem Organismus neue Reaktionsmöglichkeiten zu eröffnen.

Mit etwas Übung in verkörperter Selbstwahrnehmung wird es Ihnen mit der Zeit leichtfallen, sich für einen Moment aufs Spüren zu konzentrieren. Ich selbst erlebe dies oft als einen stillen, schlichten Raum, der größer ist als mein Körper, weil er über meine Sinne auch die Verbindung zu meiner Umgebung einschließt. Manchmal entfaltet sich ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist: schlicht, durchlässig und lebendig.

In der Perspektive der Fliege an der Wand

Hilft das alles auch dann, wenn man über eine belastende Alltagssituation nicht nachgrübelt, sondern direkt in ihr steckt? Stress fühlt sich nicht ruhig an, auch dann nicht, wenn uns achtsame Körperwahrnehmung sehr vertraut ist. Doch wenn wir fähig sind, uns einer Belastung dosiert zuzuwenden oder von ihr abzuwenden, fühlen wir uns sicherer, geschützter und flexibler im Umgang – aber nicht unbedingt wohler. Verstehen wir das und deuten das Unwohlsein nicht als Defizit, bleibt es stiller in uns und wir tendieren weniger dazu, uns in kritischen oder grübelnden Gedanken zu verlieren.

Vielleicht wurden Sie schon einmal nach einem Streit aufgefordert, tief durchzuatmen oder wieder auf den Boden zu kommen. War das unterstützend? Hat es Sie beruhigt? Konnten Sie es überhaupt ausprobieren? Möglicherweise wurden Sie noch wütender. Die Empfindungen – Herzklopfen, Anspannung, Zittern – in und nach einem Streit bewusst zu spüren ist unangenehm und aufwühlend und verstärkt oft die Emotionen. Aus diesem Grund sind Methoden der kognitiven Distanzierung hilfreich: beispielsweise die Situation aus der Perspektive einer Fliege an der Wand zu betrachten, wie Ethan Kross es vorschlägt.

Oder wir legen den Fokus selbst hier wieder auf die eigene körperliche Präsenz. Das ist zunächst aufwühlend – denn wir spüren den Aufruhr nun durch und durch. Doch tatsächlich kann eine solche Verschiebung der Aufmerksamkeit in Richtung Körper schließlich zur Beruhigung beitragen, wenn wir in der Lage sind, unsere Aufmerksamkeit zu lenken und zu dosieren.

Durch den Streit atmen

Emotionen spüren wir vor allem im Rumpf und im Kopf. Sich auf Hände, Füße oder den Bodenkontakt zu konzentrieren ist daher meist beruhigender, als auf die Atembewegung im Rumpf zu achten. Wenn Sie in einer angespannten Situation einen tiefen Atemzug nehmen und nicht darin geübt sind, mit Ihrer Aufmerksamkeit ausschließlich bei der reinen Bewegung des Atems zu bleiben, spüren Sie sofort das Echo der Belastung im Herz- und Brustraum und Ihre innere Anspannung; diese Reize sind stärker als die Bewegung ihres Atems.

Der Rhythmus Ihres Atems ist von der konflikthaften Situation beeinflusst und fühlt sich möglicherweise eng an. Ihre Aufmerksamkeit verharrt also bei einer Vielzahl von bedrückenden Empfindungen und verstärkt die negativen Gefühle, selbst wenn die Belastung längst vorbei ist und Sie nur noch an sie denken.

Nehmen wir an, Sie möchten ausprobieren, sich bei (oder nach) einem Streit beizustehen, auch um danach weniger mit dem belastenden Echo befasst zu sein. Sie spüren Ihren Atem konkret von Moment zu Moment, obwohl Sie aufgewühlt und angespannt sind, und behalten den bewussten Bodenkontakt. Sie können sogar absichtlich ruhig atmen, obwohl Sie gleichzeitig aufgeregt sind. Der innere Druck, den Sie empfinden, und die Atembewegung sind nicht identisch; der Atem kann manchmal ein wenig durch diesen Druck hindurchsickern. Das alles kann Sie bereits beruhigen.

Landeplatz für Aufmerksamkeit

Nun nutzen Sie zudem das Hin- und Herpendeln zwischen eher neutralen Empfindungen und den Empfindungen und Gedanken, von denen Sie annehmen, dass sie mit dem Streit verbunden sind. Sie hören sich innerlich feststellen: „Oh, da ist eine große Anspannung in mir und ein Drang, mich durchzusetzen.“ Sie spüren diese Anspannung konkret in der Muskulatur, sind interessiert, ohne darin zu versinken. Es tobt in Ihnen und Sie nehmen dies möglichst offen wahr. Sie verzichten darauf, sich rasch zu entlasten. Sie bleiben mit Ihrer Aufmerksamkeit an den Rändern dieses emotionalen Tumults, den Sie konkret und facettenreich in sich spüren. Sie realisieren, dass sich Ihre innere Landschaft laufend verändert.

Ab und zu lenken Sie Ihren Fokus auf den Kontakt Ihrer Füße mit dem Boden, manchmal schauen Sie bewusst etwas an, das nichts mit dem Streit zu tun hat, dann wieder spüren Sie die Bewegung Ihres Atems. Sie nehmen die verschiedenen Aspekte Ihrer Gefühlslage wahr: die Hektik im Kopf, das Gefühl, nicht verstanden zu werden, darunter vielleicht sogar eine Traurigkeit, eine Enge in der Kehle, eine Anspannung in der Muskulatur, eine gewisse Lust zu kämpfen…

Sie kennen diese Empfindungen und konzentrieren sich vor allem darauf, nicht von ihnen absorbiert zu werden. Die neutralen Empfindungen kreieren einen Raum, in den der Tumult des Streites eingebettet ist. Dorthin können Sie sich zurückziehen. Er ist wie ein geschützter Landeplatz für Ihre Aufmerksamkeit, die damit nicht vom Sog des Streits mitgerissen wird. Von dort aus können Sie Ihr Verhalten und Ihre Worte besser abwägen und Ihre Gefühle und Empfindungen ausbalancieren.

Sie kümmern sich um sich selbst, übernehmen die Verantwortung dafür, wie es Ihnen geht, auch während des Streits. Das gibt Ihnen Halt, sofern Sie akzeptieren, dass Sie sich nicht sofort entlasten können. Sie streiten sich und das ist vermutlich unangenehm, stressig, traurig. Aber Sie gehen darin nicht verloren.

Eugene Gendlin, Sprachphilosoph und Begründer von Focusing, nennt die Empfindung einer Situation und ihrer Bedeutung felt sense (siehe Definitionskasten unten). Er schlägt vor, dieser Empfindung innerlich Gesellschaft zu leisten: Be with it. Oft beruhigt sich etwas in uns, wenn wir die Kraft und Geduld haben, das Echo einer Belastung wahrzunehmen und ein stimmiges inneres Maß an Nähe beziehungsweise Distanz dazu zu finden. Etwas setzt sich in uns, vielleicht vertieft sich unser Atem. Manchmal taucht eine Idee auf oder eine neue Perspektive. Wir spüren unsere Kraft, mit dem zu sein, was wir gerade erleben.

Zwischen den Reizen pendeln

Grob gesagt pendelt unsere Aufmerksamkeit zwischen Phänomenen und Reizen, die im Inneren unseres Organismus wahrnehmbar sind, und der Fulle von Informationen, die von außen kommen. Können wir das Oszillieren, das ohnehin geschieht, achtsam wahrnehmen und unsere Aufmerksamkeit bewusst zwischen inneren und äußeren Reizen hin- und herpendeln lassen, so fördern wir die Fähigkeit, bei uns und in Kontakt zu sein.

Indem wir lernen, unsere Aufmerksamkeit zwischen unterschiedlichen Reizen hin- und herpendeln zu lassen, unabhängig davon, ob diese angenehm, unangenehm oder neutral sind, stärken wir unseren inneren Spielraum und schaffen bessere Voraussetzungen dafür, unsere Bedürfnisse zu spüren und der jeweiligen Situation angepasst zu reagieren. Die Aufmerksamkeit kann dabei zwischen inneren und äußeren, starken, mittleren und schwachen Reizen pendeln.

Zudem können wir Gedanken, Gefühle und Empfindungen gesondert fokussieren. Auf der gedanklichen Ebene sind das beispielsweise Erinnerungen oder Pläne, Bewertungen, Fantasien, Grubeleien. Parallel zu dieser Fulle an Gedanken erleben wir Gefuhle: Wir freuen uns, sind stolz, haben Angst, sind traurig oder ärgern uns. Gleichzeitig lösen Gedanken und Gefuhle körperliche Empfindungen aus, die wir in uns spüren, zum Beispiel als einen Druck oder einen Hauch von Wärme. Und körperliche Empfindungen lösen Gedanken und Gefühle aus.

In der Landschaft meiner Erfahrungen

Lassen wir unsere Aufmerksamkeit zwischen den drei Ebenen – Gedanken, Gefuhle und körperliche Empfindungen – möglichst offen fur vielfältige Informationen oszillieren, so unterstutzen wir unsere achtsame Haltung. Vielschichtig und empfänglich im eigenen Erleben anwesend zu sein öffnet nach und nach innere Wahrnehmungsräume.

Ich betone dabei eine forschende Haltung, wenn möglich begleitet von einem warmen, offenen Ohr für die eigenen Erfahrungen und einer bedingungslosen Präsenz im bewussten Wahrnehmen. Es ist keine Technik, bei der es nur um die richtige Anwendung geht. Sie machen sich ergebnisoffene Angebote und sammeln Erfahrungen. Sie interessieren sich dafür, wie Ihre Aufmerksamkeit durch die Landschaft Ihrer Erfahrungen schweift, wo es sie hinlockt, wo sie sich niederlassen will und was sie vielleicht auch meidet. Ob Sie sich einem Phänomen zu- oder von ihm abwenden, entscheiden Sie.

Wenn Sie diesen Prozess ernst nehmen, vertieft das Ihren Selbstwert und Ihre Verbundenheit. Dies geschieht in einer Haltung von Offenheit und Nichtwissen, weil Sie das Ergebnis nie vorhersehen und daher auch nicht darauf hinzielen können. Sie geben sich allerdings das Versprechen, präsent zu bleiben, sich innerlich beizustehen. Lange habe ich dies Solidarität genannt – heute glaube ich, es ist Liebe.

Lesen Sie außerdem aus derselben Ausgabe: Therapeut und Forscher Thomas Ehring erläutert wissenschaftliche Grundlagen des Grübelns in „Beim Grübeln wird man eben nicht konkret"

Thea Rytz ist Körperwahrnehmungstherapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Inselspital, Universitätsspital Bern. Dort ist sie auf die Behandlung von Menschen mit einer Essstörung, Ängsten und Traumafolgestörungen spezialisiert. Ihr Buch Achtsam bei sich und in Kontakt enthält erprobte Anregungen zu achtsamer Körperwahrnehmung für den Alltag.

Quellen

David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. think oya, 2012

Alan Fogel: Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie: Vom Körpergefühl zur Kognition. Schattauer 2013

Eugene Gendlin: Focusing. Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Rowohlt Taschenbuch 1998 (14. Auflage)

Ulfried Geuter: Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Springer 2015

Susan Kaiser Greenland: Wache Kinder: Wie wir unseren Kindern helfen, mit Stress umzugehen und Glück, Freude und Mitgefühl zu erleben. Arbor 2011

Ethan Kross: Chatter. Die Stimme in deinem Kopf. Wie wir unseren inneren Kritiker in einen inneren Coach verwandeln. btb 2022

Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung(Phänomenologisch-psychologische Forschungen, 7, Band 7). De Gruyter 1966

Thea Rytz: Achtsam bei sich und in Kontakt. Emotionsregulation und Stressreduktion durch achtsame Wahrnehmung. Hogrefe 2018 (4. Auflage)

Thea Rytz, Silvia Wiesmann: Ankommen in der Gegenwart durch achtsame Körperwahrnehmung. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, 14/2, 2016, 53–61

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2024: Von hier aus kann ich meine Sorgen kaum noch sehen