Fünf Nebenwirkungen unserer Fähigkeit zu mentalen Zeitreisen

Psychologie nach Zahlen: Fünf nicht immer angenehme Nebenwirkungen unserer Fähigkeit, in Gedanken durch die Zeit reisen zu können.

Die Illustration zeigt eine Frau mit wilden Haaren und Uhren als Augen, die aufgeregt schaut
In unseren mentalen Zeitreisen stellen wir uns mitunter vor, was in Zukunft alles schiefgehen kann. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

Wir alle tragen unsere persönliche Zeit­maschine im Kopf. „Menschen sind mentale Zeitreisende“, so die australischen Psychologen Thomas Suddendorf, Jonathan Redshaw und Adam Bulley in ihrem Buch The Invention of Tomorrow. „Wir können vergangene Ereignisse erneut durchleben und uns zukünftige Situationen vorstellen, sogar wenn wir nie zuvor ähnliche Situationen erlebt haben.“ Als Homo sapiens verfügen wir nicht nur über ein hochkomplexes episodisches Gedächtnis, sondern auch über die Gabe der Voraussicht: Wir antizipieren, was in den nächsten Sekunden, Stunden, Tagen, Jahren kommen wird. Diese Fähigkeit hat uns weit gebracht. Doch sie verlangt uns auch geistige Anstrengungen ab, die nicht immer angenehm sind:

1 Planen

Wir müssen kein Orakel befragen. Mathematik und Naturwissenschaften befähigen uns zu Vorhersagen vom morgigen Wetter bis zur nächsten Springflut und, so die Autoren, sogar ein wenig weiter: „Ein rascher Blick auf Wikipedia verrät uns, dass Venus am 27. März an der Sonnenscheibe vorbeiziehen wird und Merkur einen Tag später – im Jahr 224508 A.D.“ Wo derlei exakte Prognosen nicht möglich sind, lehrt uns doch immerhin die Erfahrung von gestern, was morgen zu tun ist. Das versetzt uns in die Lage, Pläne zu schmieden, vom Lebensmittelkauf fürs nächste Mittagessen bis zur Berufslaufbahn.

Oft ziehen wir dabei schon in jungen Jahren mehrere potenzielle Zukunftsverläufe ins Kalkül, wie eine Studie von Suddendorfs Team an der University of Queensland zeigte: Vor den Augen eines Kindes warf der Versuchsleiter ein Überraschungsei mit einer Belohnung von oben in ein Rohr. Weiter unten gabelte sich dieses Rohr, so dass das Ei entweder durch die linke oder die rechte Öffnung herauskommen konnte. Zweijährige hielten ihre Hand nur unter eine der Mündungen, sie hatten also nur eine Zukunft im Blick. Die Vierjährigen hingegen platzierten je eine Hand unter beide Öffnungen, waren also für beide Zeitstränge gewappnet.

Leider ist trotz aller Voraussicht nicht alles kalkulierbar. Vor allem die Mitmenschen sind mitunter schwer berechenbar. Diese Erfahrung musste jener Mann machen, der sich vor über 5000 Jahren anschickte, einen Hochalpenpass zu überqueren. An alles hatte Ötzi gedacht: Seine Kleidung war warm und tauglich, er führte Proviant, einen Feuerstein, eine Axt, Pfeil und Bogen, einen Dolch und sogar einen Klumpen Birkenholzpilz gegen seinen Wurmbefall mit. Doch den Pfeil seines Verfolgers, der ihn tödlich im Rücken traf, hatte er nicht kommen sehen.

2 Absichern

Wie also vorsorgen für den Fall, dass die Planung schiefgeht? Indem man sich darauf einstellt und vorbereitet, was in diesem Fall zu tun ist. Manchmal hat das zynische Züge. Im elektronischen Giftschrank aller Nachrichtenmedien lagern die vorbereiteten Nachrufe auf Personen des öffentlichen Lebens.

Suddendorf und seinen Co-Autoren fällt da die folgende Anekdote ein: Im Juli 1969, kurz bevor Apollo 11 den Mond erreichte, entwarf Richard Nixons Redenschreiber William Safire vorsorglich den Text einer Fernsehansprache. Sie begann mit den Worten: „Das Schicksal hat bestimmt, dass die Männer, die zum Mond fuhren, um ihn in Frieden zu erkunden, auf dem Mond bleiben werden, um dort in Frieden zu ruhen…“ Man kann ja nie wissen.

Glücklicherweise kehrten Aldrin, Armstrong und Collins mit ihrer Mond­kapsel wohlbehalten zur Erde zurück. Doch die NASA hatte hunderte von Seiten mit Wenn-dann-Plänen vorberei­tet. Sie enthielten detaillierte Instrukti­onen, was bei welcher Art von Notfall zu tun sei. Wir alle kennen – wenn auch meist weniger dramatisch – derlei Notfallpläne: Was mache ich, wenn ich die Diät nicht durchhalte? Was, wenn meine Firma pleitegeht? Wenn ein Unfall mich arbeitsunfähig macht? Wir schließen Versicherungen ab, legen Geld beiseite, setzen ein Testament auf, spielen im Kopf durch, was nach einem Malheur zu tun und zu bedenken ist.

3 Grübeln

Nicht gegen jede Eventualität kann man sich absichern. Und weil schon der kommende Tag so viele Verzweigungen unseres Zukunftspfads bereithält, verwenden wir viel Zeit darauf, einige von ihnen gedanklich abzuschreiten: Wird es gelingen? Was wird mich das kosten? Wird sie sauer auf mich sein? Wir alle neigen zum Grübeln. Offenbar ist das notwendig. Doch manche von uns tun das belastend exzessiv, sie grübeln sogar auf der Metaebene: Was, wenn ich vor lauter Grübeln wieder mal nicht einschlafen kann und morgen ein Nervenbündel bin? Grübeln ist ein Preis unserer Zeitreisegabe – zumal die Fähigkeit, unseren Weg willentlich zu steuern, mit einer schwer auf uns lastenden Nebenwirkung einhergeht: Verantwortung.

4 Bereuen

Wenn in unserem wohlgeplan­ten Leben etwas schiefläuft – und es läuft immer etwas schief –, empfinden wir Reue. Dann geht das Grübeln in die andere Richtung, wir reisen mit unserer Zeitmaschine in die Vergangenheit: Hätte ich doch damals nur! Und nun wird ein weiteres Programm unserer mentalen Zeitmaschine aktiv, das „kontrafaktische Denken“.

Wir spielen oft qualvoll einen alternativen Zeitstrang unseres Lebens durch, den es nie gegeben hat: Wenn ich beim Ausstieg aus dem Zug noch mal einen Blick zurück auf meinen Sitz geworfen hätte, dann wäre mir aufgefallen, dass mir das Portemonnaie aus der Hosentasche gerutscht war. Ich wäre wie immer nach Hause gefahren, hätte meinen Feierabend genossen, statt hektisch meine Karten zu sperren und sämtliche Ausweise neu zu beantragen. Doch schon haben wir unsere Zeitmaschine wieder auf Zukunft programmiert: Noch einmal wird mir das nicht passieren!

5 Hinnehmen

So sehr es uns zu schaffen macht, dass die Zukunft so viel Unbekanntes bereithält, so wenig erfreuen uns manche Dinge, die nur allzu deutlich feststehen. Das ist vor allem: der Tod. Unsere Gabe der Voraussicht konfrontiert uns mit der Erkenntnis, dass wir eines Tages sterben müssen. Wir müssen es hinnehmen. Doch selbst vor dieser Grenze macht die Zeitmaschine in unserem Kopf nicht halt, so Thomas Suddendorf und seine Mitautoren: „Unser zeitreisender Geist steuert bis jenseits unseres eigenen Todes. Werden wir von Petrus an der Himmelspforte begrüßt oder von Luzifer in der Hölle? Oder wird unser Bewusstsein für immer ausradiert, sobald unsere Hirnzellen absterben?“ Und ein letztes Mal schieben wir den Hebel der Zeitmaschine in Richtung Vergangenheit: „Was wird mein Vermächtnis sein?“

Quelle

Thomas Suddendorf, Jonathan Redshaw, Adam Bulley: The Invention of Tomorrow. A Natural History of Foresight. Basic Books 2022

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen
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