Dem Schicksal ausgeliefert?

Wir tun alles, um unsere Welt beherrschbar zu machen. Und doch kann uns das Schicksal treffen. Medizinethiker Giovanni Maio über unseren Umgang damit.

Ein junger, behinderter Sportler hat einen Basketball in der Hand und steht mit seinem Rollstuhl auf dem Spielfeld und meistert sein schweres Schicksal
Ein schweres Schicksal hat diese Basketballspieler ereilt. So gehen wir mit Schicksalsschlägen um. © DEEPOL by plainpicture/Peter Muller

Herr Maio, was ist das überhaupt, Schicksal?

Schicksal ist die Anerkenntnis dessen, dass es etwas gibt, was sich dem Entscheidungs- und Verfügungsbereich des Menschen entzieht. Und das betrifft jeden. Wir Menschen sind ja alle mehr Schicksal als Wahl: Unsere Existenz ist das Resultat der Entscheidungen anderer. Wir sind in eine bestimmte Welt und in eine bestimmte Epoche hineingeworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben. Raum und Zeit unserer Existenz sind uns vorgegeben.

Wir sind alle mehr Schicksal als…

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nicht ausgesucht haben. Raum und Zeit unserer Existenz sind uns vorgegeben.

Wir sind alle mehr Schicksal als Wahl, weil wir als Menschen immer schon etwas vorfinden, wenn wir geboren werden. Schicksal ist Konfrontation mit dem, was so ist, wie es ist, und das zugleich auch hätte anders sein können. Dieses Vorgegebene ist aber nur der Anfang. Das Interessante am Schicksal ist: Am Ende wird es nicht durch das Vorgegebene besiegelt. Vielmehr stellt das Schicksal uns eine Aufgabe und wir haben die Chance, uns zu bewähren.

Also hat der Begriff Schicksal per se keine negative Konnotation. Warum fühlt er sich dann so bedrohlich an?

Weil wir mit dem Begriff des Schicksals heute nur noch das Ausgeliefertsein verbinden. Das ist zwar nachvollziehbar, aber aus meiner Sicht zu schlicht. Denn kein Mensch kann sich die Bedingungen seiner Existenz aussuchen. Wir alle machen den Fehler, das nicht anzuerkennen. Wir sind dem Vorgegebenen nicht völlig ausgeliefert. Es liegt an unserer Freiheit, etwas Gutes daraus zu machen. Unsere Freiheit verwirklichen wir dort, wo wir einen kreativen Umgang mit dem Vorgegebenen erlernen.

Heute sind wir stattdessen gefangen in einer Art Kontroll- und Machbarkeitswahn. Wir glauben, wir müssten das Schicksal abschaffen. Damit machen wir uns unglücklich, weil wir verlernen, die Dinge, die wir nicht ändern können, einfach anzunehmen. Wir hadern mit unserem Schicksal. Wir finden es unfair, dass wir uns die Bedingungen unserer Existenz nicht aussuchen konnten, und wir übersehen, dass es nie einen Menschen gab, der dies gekonnt hat.

Sie sagen, dass uns das Schicksal eine Aufgabe stellt. Welche?

Nehmen wir mal das Beispiel einer schweren Krankheit. Die Menschen denken, wenn eine Krankheit kommt, dann ist das Schicksal besiegelt und man ist auf der Verliererseite. Und ja, ernsthaft krank zu werden hat immer etwas Tragisches, etwas Trauriges, etwas Belastendes, da möchte ich nichts beschönigen. Aber ob das Krankgewordensein das Ende des Glücks ist, das hängt nicht nur von der Krankheit ab, sondern davon, wie wir selbst damit umgehen, wie wir es deuten, wie wir uns dazu verhalten.

Wir können uns zurückziehen und resignieren. Oder wir packen das Leben dann erst recht an und setzen alles daran, uns jetzt zu verwirklichen, trotz der Einschränkungen, die die Krankheit mit sich bringt und die natürlich beschwerlich sein können. Die Krankheit wird geschickt, aber unser Schicksal erfüllt sich erst im selbstgewählten Umgang mit dem Kranksein: Man kann auch im Kranksein die Freiheitsgrade erkennen, die man immer noch hat. Die Freiheit liegt nach wie vor in der Freiheit der eigenen Einstellung.

Aber welche Freiheitsgrade hat man etwa bei einer schweren Krebserkrankung, die fortan das Denken und den Alltag bestimmt?

Wenn man krank geworden ist, dann kann man das nicht plötzlich gut finden. Die Krankheit ist zunächst einmal das, was man sich nie ausgesucht hätte, und das, das lieber nicht gewesen wäre. Aber wenn sie da ist, dann stellt sie nicht einen Abbruch des Lebens dar, sondern zunächst einmal einen Durchbruch zu einem anderen Leben. Und hier gilt es, die Freiheitsgrade zu erkennen. Das fällt vielen schwer. Die Menschen verzweifeln oft daran, dass sie nun einem Lebenskonzept hinterherlaufen, das vor der Krankheit da war und dann nicht mehr fortgesetzt werden kann.

Was sollte man stattdessen tun?

Die Krankheit fordert dazu auf, neue Lebensziele zu formulieren und neuen Lebenssinn zu finden. Es lassen sich Dinge erkennen, die man vorher nicht zu sehen bereit war. Oft wird man sensibler für Sinngehalte, die einem in gesunden Tagen verschlossen geblieben waren. Viele erkennen plötzlich den Wert bestimmter Beziehungen, die Schönheit der Natur, die Kostbarkeit eines jeden Augenblicks, sie öffnen die Augen für die vielen kleinen Glücksbringer, die das Leben täglich bereithält. Der krank gewordene Mensch wird sensibler und tiefsinniger. In dem Moment, in dem ich erkenne, dass ich es bin, der diesem Leben immer noch Möglichkeiten geben kann, lerne ich, mich nicht nur als krank zu sehen.

Wie gelingt einem das?

Man muss die Augen dafür öffnen, dass man immer noch so viele wertvolle gesunde Anteile in sich trägt. Einige meiner Zellen sind zwar krank und sehr gefährlich, aber meine anderen Zellen sind gesund. Und aus denen kann ich noch viel machen. Man muss auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass jeder Mensch ein Stück weit Selbstheilungskräfte hat, die man fördern kann, auch wenn Heilung vielleicht letztlich nicht möglich ist. Die Medizin denkt viel zu mechanistisch und beschränkt sich zu sehr auf die Behandlung der körperlichen Prozesse. Die jedem Menschen eigenen Selbstheilungspotenziale, die immer etwas mit Psyche und Geist zu tun haben, werden unterschätzt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Mensch in meinem Umfeld hat sich infolge einer schweren neurologischen Erkrankung das Leben genommen. Es war für ihn nicht hinnehmbar, bewegungsunfähig, hilfsbedürftig und auf andere angewiesen zu sein. Für ihn bedeutete dieses Schicksal einen riesigen Verlust an Freiheit und an Selbstbestimmtheit. Wir würden einen großen Fehler begehen, einen Suizid rückblickend bewerten zu wollen. Ich würde mich aber dafür interessieren, was diesen Menschen bewogen hat, sich selbst so zu sehen, dass alles sinnlos geworden ist.

Natürlich wäre es für uns alle eine schreckliche Erfahrung, gelähmt zu sein. Aber viele Studien zeigen uns, dass Menschen, die mit diesem Schicksal konfrontiert werden, durchaus die Fähigkeit haben können, sich anzupassen und dem Leben einen Sinn abzuringen. Das gilt auch für MS- oder ALS-Patienten. Jenseits des Individuellen hat der Suizid auch eine soziale Komponente. Möglicherweise hatte dieser Mensch also bestimmte Werte internalisiert, die ihm die Gesellschaft vorgegeben hatte, etwa in Bezug auf Männlichkeit oder Stärke, die es ihm unmöglich machten, sich an die Situation anzupassen.

Das Schicksal, in ein Pflegeheim zu müssen, ist allerdings für viele Menschen bedrohlich.

Da sind wir wieder bei der sozialen Komponente. Wenn die Menschen sich umbringen wollen, weil sie die Vorstellung schreckt, am Ende im Pflegeheim zu enden, ist das ein schlimmes Zeichen für unsere Gesellschaft. Unsere Kultur des Umgangs mit kranken, alten und gebrechlichen Menschen verweist doch auf soziale Schieflagen. Die Angst davor, in einer Einrichtung mit wenig und überfordertem Personal einfach ausgeliefert zu sein, ist sehr groß, aber diese Angst resultiert aus sozialen Verhältnissen, für die wir als Gesellschaft die Verantwortung tragen. Wir müssen unbedingt für Verhältnisse sorgen, die allen deutlich machen: Auch das gebrechlichste Leben ist für uns alle wertvoll und wir sollten uns darum kümmern.

Häufig wird Krankheit ja auch als Folge eines persönlichen Fehlverhaltens betrachtet. Da ist das Schicksal dann, wie Sie schreiben, quasi abgeschafft.

Wir leben leider in einer Ära der Moralisierung von Krankheit. Heute gilt sie als Folge schuldhaften Verhaltens, als Resultat eigener Versäumnisse. Wir müssen den Menschen zwar ermöglichen, so gesundheitsbewusst wie möglich zu leben, aber wenn jemand krank geworden ist, dann sollten wir eher fragen, wie wir helfen können, und ihn nicht mit impliziten Schuldvorwürfen belasten. Niemand hat eine Garan­tie, gesund zu bleiben, auch wenn er noch so gesundheitsbewusst lebt.

Dennoch gibt es ja Kausalitäten. Rauchen führt oft zu Atemwegserkrankungen und Übergewicht zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Selbstverständlich gibt es diese Kausalitäten. Wir müs­sen jedoch eher fragen, wie wir den Menschen helfen können, sich gesundheitsbewusst zu verhalten, statt ihnen anzudrohen, dass wir sie fallenlassen, wenn sie krank werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit, zwischen prekärem sozialem Status und Krankwerden. Die gesellschaftliche Verantwortung liegt darin, Menschen vor prekären Verhältnissen zu schützen.

Außerdem sind Gesundheit und Krankheit ja häufig auch verknüpft mit sozialen Fragen.

Natürlich. Das Problem heute ist, dass Menschen der Mittel- oder Oberschicht für sich einen gesunden Lebensstil reklamieren, sich aber überhaupt nicht vorstellen können, in welchen Welten Menschen am Rande der Gesellschaft leben. Wenn man an der Armutsgrenze lebt, hat man andere Probleme, als an die Vorsorge zu denken. Gesundheitsbewusstes Verhalten hat wenig mit einem starken Willen zu tun. Es gibt Verhältnisse, die dies kaum möglich machen. Der Auftrag der Gesellschaft lautet, Menschen zu stärken und ihnen sozial prekäre Verhältnisse zu ersparen. Dann werden sie automatisch gesünder.

Heute geht der Trend dahin, Krankheiten zu vermeiden, indem man bereits in der vorgeburtlichen Phase die Embryonen untersucht, etwa in Bezug auf die Mukoviszidose oder das Downsyndrom.

Durch pränatale Untersuchungen können wir heute bei vielen Erkrankungen im Mutterleib helfen. Es ist ganz sicher ein Fortschritt, dass wir vorgeburtliche Diagnostik machen können, auch um frühzeitig Krankheiten zu erkennen, aber wir sollten uns nicht dazu verleiten lassen, zu glauben, wir hätten ein Anrecht darauf, uns die Nachkommen auszusuchen, die uns gefallen. Wir alle können froh sein, dass unsere Eltern bereit waren, uns so anzunehmen, wie wir eben sind.

Und selbst wenn man feststellt, dass ein Kind Mukoviszidose hat, heißt das nicht, dass dieses Kind nur Mukoviszidose ist. Wir wissen doch gar nicht, wie stark die Krankheit ausgebildet sein wird und wie das Kind damit umgehen wird. Ob dieses Kind glücklich werden wird, liegt nicht in seinen Genen, sondern in der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft es auf unserer Welt in Empfang nimmt und mit ihm umgeht. Nichts ist festgelegt. Am Ende wird man die Eltern gut zu beraten haben. Die Entscheidung muss ihnen überlassen werden.

Kann Krankheit auch etwas Gewinnbringendes haben?

Niemand würde sagen: Wie gut, dass ich krank geworden bin. Aber die Krankheit fordert uns heraus, in dem Sinne, dass sie uns die Chance gibt, uns in ihr zu bewähren. Auch Krebs. Wenn Krebs da ist, merken wir, dass er uns verändert. Wenn wir darin unterstützt werden, können wir uns aber immer noch als freie Wesen in dieser Krankheit sehen und unser Leben weiterleben. Je mehr wir das lernen, umso mehr werden wir eine neue Tiefe erfahren. Auf diese Weise kann die Krankheit sogar etwas Heilsames haben. Manchmal erkennen wir erst dann, was uns wirklich wichtig ist.

Nun ist ja eine ganz andere Krankheit über uns hereingebrochen, Covid-19. Was glauben Sie, wie das Virus uns verändern wird?

Corona ist ein gutes Beispiel für das Schicksalhafte. Wir können nicht sagen, dass Corona einfach über uns hereingebrochen ist. Inwieweit der Mensch am Ausbruch dieser Krankheit mitgewirkt hat, wird ja noch zu klären sein. Aber wir sind gefordert, damit umzugehen. Und schon merken wir: Corona zeigt uns, was wirklich wichtig ist. Nun rächt sich, dass wir unsere Krankenhäuser zu Wirtschaftsunternehmen umetikettiert haben, jetzt sieht man, was das bedeutet. Wir erkennen, wie bedürftig der Mensch grundsätzlich ist, und werden nach dieser Krise sicherlich gesundheitspolitische Konsequenzen daraus ziehen. Wir sind alle in gleicher Weise bedroht, das ist Ausdruck des Lebens schlechthin. Damit entsteht die Chance auf ein neues Verbundenheitsgefühl und eine neue Solidarität.

Zum Weiterlesen

Giovanni Maio (Hg.): Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheit des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit. Herder, Freiburg 2015 (3. Auflage)

Giovanni Maio: Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen. Kösel, München 2018

Giovanni Maio, Philosoph und Arzt, ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizin­ethik am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg. Außerdem gehört Maio dem Ausschuss für ethische und juristische Grundsatz­fragen der Bundesärztekammer an.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2020: Emotional durchlässig