Die Macht der Voraussicht

Unser Geist ist eine Zeitmaschine. Wir nehmen die Zukunft gedanklich vorweg, um vorzusorgen. Das war wohl der Motor der Menschheitsgeschichte.

Die Illustration zeigt eine Wahrsager-Kugel auf der eine Kröte sitzt
Plagen oder Krankheiten: Durch Evolution wurde es dem Menschen möglich, Unglücke vorherzusagen – und seinen Fortbestand zu sichern. © Marco Wagner für Psychologie Heute

Ich erinnere mich, wie ich mich in den frühen 1990ern auf ein Hausboot in den Mangrovenwäldern einer idyllischen neuseeländischen Insel zurückzog und in meine Masterarbeit über das mentale Zeitreisen vertieft war. Bewehrt mit einem archaischen Laptop, der von ein paar Lastwagenbatterien und einem Solarmodul gespeist wurde, breitete ich meine Überlegungen aus. Außer ein paar Moskitos lenkte mich wenig ab, und so machte ich gute Fortschritte – bis ich eines unschönen Tages das Gros meiner Niederschrift…

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wenig ab, und so machte ich gute Fortschritte – bis ich eines unschönen Tages das Gros meiner Niederschrift unwiederbringlich verlor. Die Energieversorgung des Laptops hatte just in dem Moment gestreikt, als die Software dabei war, mein Dokument zu sichern.

Natürlich war es schmerzhaft, als mir dämmerte, dass ich nun mit der Arbeit noch einmal ganz von vorn würde beginnen müssen. Doch mein fabelhafter Mentor an der Universität von Auckland, der inzwischen verstorbene Michael Corballis, versicherte mir, dass genau das mein Manuskript verbessern werde. Wahrscheinlich war das auch so. Ich hatte eine nützliche Lektion im Sichern von Dateien erhalten – und darin, wie wichtig es ist, für die Zukunft samt ihrer unwillkommenen Eventualitäten vorzusorgen.

Die Zukunft zum Vorteil formen

Der Grundgedanke meiner Arbeit war, dass das Erinnern an Vergangenes und das Vorstellen von Zukünftigem zwei Facetten derselben kognitiven Fähigkeit sind. Heute stützen viele Forschungsbefunde diese Vermutung. So haben Menschen mit einer Amnesie, die ihr episodisches Gedächtnis verloren haben, ähnliche Probleme damit, sich zukünftige Ereignisse vorzustellen. Auch stellten wir fest, dass kleine Kinder, die sich gut an die gestrigen Ereignisse erinnern, meist auch gut darin sind, sich die morgigen vorzustellen.

Studien mit Hirnscannern bestätigten, dass großteils dieselben Gehirnregionen aktiv sind, wenn wir uns vergangene und zukünftige Ereignisse ins Bewusstsein rufen. Sicher gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen mentalen Zeitreisen in die Vergangenheit und in die Zukunft – schließlich haben die einen Geschehnisse stattgefunden und die anderen nicht. Dennoch sind die beiden Reiserouten in unserem Geist und unserem Gehirn grundlegend miteinander verbunden.

Bis dahin hatte sich die psychologische Forschung viel mehr auf das Gedächtnis fokussiert als auf Voraussicht. Ich jedoch kam zu dem Schluss, dass unser mentaler Zugriff auf die Zukunft letztlich der bedeutsamere Aspekt dieser Fähigkeit ist – zumindest unter dem evolutionären Gesichtspunkt, wonach das Voraussagen der Zukunft Schlüsselvorteile für das Überleben bringt. Wir können die Uhr nicht zurückdrehen, aber wir können für die Zukunft vorsorgen. Mit unserer Voraussicht können wir uns für Bedrohungen wappnen und sich bietende Gelegenheiten beim Schopf packen – wir können versuchen, die Zukunft zu unserem Vorteil zu formen.

Was wir nicht kommen gesehen haben

Allerdings scheitert die menschliche Voraussicht bisweilen spektakulär. Denken Sie nur an die Hinterhofpioniere, die einst Heliumballons oder Raketen an ihrem Stuhl befestigten – und jeden Gedanken an den Fall oder Knall, in dem das oft enden sollte, geflissentlich ignorierten. Vieles, was eintritt, haben wir nicht kommen sehen, und vieles, was wir kommen sehen, tritt nicht ein. Sogar Vorhersageprofis wie Börsenmaklerinnen oder Meteorologen tun sich schwer mit der Prophezeiung, wo der Goldpreis im nächsten Quartal stehen und ob es am Dienstag regnen wird.

Die Geschichte ist übersät mit Anekdoten schlechter Planung mit katastrophalen Konsequenzen. Zum Beispiel beschloss seinerzeit die Verwaltung in Queensland, Agakröten in Australien auszusiedeln, um hier den Zuckerrohrkäfer, einen gefürchteten Schädling, zu bekämpfen. Doch die Kröten vermehrten und verbreiteten sich explosionsartig und verheeren bis heute das heimische Ökosystem.

Auf der Suche nach Hilfsmitteln, um in die Zukunft zu schauen, haben sich Menschen allerlei Spielarten von Quacksalberei und Wahrsagerei zugewandt. Doch auch wenn die Zukunft nicht in Eingeweiden oder Teeblättern zu finden ist, so fanden sich doch einige natürliche Muster, die sich beim Vorhersagen des Kommenden als ziemlich brauchbar erwiesen haben. Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, das Archäologische Nationalmuseum in Athen zu besuchen, in dem ein Raum dem bemerkenswertesten Vorhersageinstrument der Antike gewidmet ist. Der dort ausgestellte unscheinbare Klumpen aus zerfetztem Holz und verrostetem Metall, den Schwammtaucher 1901 nahe der Insel Antikythera aus der Ägäis fischten, wurde unlängst als ein 2000 Jahre alter analoger Computer identifiziert.

Dieser sogenannte Antikythera-Mechanismus ist ein Relikt von erstaunlicher technischer Komplexität. Er enthält Dutzende ineinandergreifende Zahnräder aus Bronze mit geheimnisvollen verblassten Inschriften. Wenn man an einer Handkurbel drehte, konnte man auf der Frontskala des Geräts einen bestimmten Kalendertag einstellen und die Ereignisse am Sternenhimmel zu diesem Zeitpunkt vorhersagen: die Bewegung der Planeten, die Mondphasen und Sonnenfinsternisse.

Im Wissen der Götter

Indem er die Gesetzmäßigkeiten der Himmel analysiert, „bemächtigt sich der Geist des Wissens der Götter“, schwärmte einst der römische Staatsmann Cicero. Inzwischen haben wir uns dieses Wissens immer mehr bemächtigt. Wir können heute mit Geräten, die in unsere Hosentasche passen, Springfluten oder Himmelsereignisse präzise vorhersagen. Unsere Lebensabläufe bauen in wachsendem Maße auf geteilten Zeitplänen auf, die unser Zusammenwirken steuern. Wir takten unseren Arbeitstag, treffen uns wöchentlich im Buchclub und schuften wichtigen Deadlines entgegen.

Sicher, die Zukunft spielt zweifellos auch für andere Arten im Tierreich eine Rolle. Die meisten Spezies, groß oder klein, haben es in ihrem Lebensraum mit periodisch wiederkehrenden Mustern in der Natur zu tun, wie Schwankungen in Licht, Temperatur oder Nahrungszufuhr. Sogar das schlichte Bakterium E. Coli, berüchtigt für Nahrungsvergiftungen, sorgt vor. Wenn es durch laktosereiche menschliche Verdauungstrakte zieht, schaltet es schon Stunden, bevor es eine malzzuckerreiche Region erreicht, die Gene zur Verdauung dieses Zuckers ein. Das bedeutet natürlich nicht, dass das Bakterium von Malzzucker fantasiert. Vielmehr hat sich dieses Muster in der Evolution durch natürliche Selektion herausgebildet – diejenigen Kolibakterienstämme, die genau im richtigen Moment die entscheidenden Gene aktivierten, hatten einen Überlebensvorteil.

Lebewesen, die im Einklang mit täglichen oder jahreszeitlichen Schwankungen leben, haben einen bedeutsamen Vorteil gegenüber solchen, die dies nicht tun. Denken Sie an das Nahrungshamstern von Eichhörnchen und anderen Tieren, die sich damit, so will es scheinen, auf die kargen Wintermonate vorbereiten. Ist das nicht ein Beleg für Voraussicht? Nicht unbedingt. Um Vorräte anzulegen, müssen sich Eichhörnchen kein Szenario vorstellen, in dem sie hungrig und ohne Vorräte in der Frostperiode darben. Sogar Jungtiere, die noch nie einen Winter erlebt haben, sammeln und lagern Vorräte ein. Es ist also wohl eher Instinkt als Einsicht.

Der Schimpanse glaubt an seine Vorhersage

Das heißt aber nicht, dass Tiere nicht vorausdenken. Viele können vorhersehen, was gleich passieren wird – wenn etwa ein Beutetier hinter einem Busch verschwindet, erwartet das Raubtier, das es auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen wird. Doch Menschen können sich Ereignisse weit jenseits des Hier und Jetzt vorstellen, Geschehnisse, die morgen, nächste Woche oder Jahre später eintreten könnten. Und was entscheidend ist: Menschen können angesichts der Unsicherheit dessen, was kommen wird, vielerlei Möglichkeiten gedanklich durchspielen, inklusive zahlreicher Varianten, wie die Dinge verkehrt laufen könnten.

In einem psychologischen Experiment unserer Forschungsgruppe ließen wir eine Murmel in eine vertikale Röhre fallen, die sich in zwei Stränge verzweigte, wie ein auf dem Kopf stehendes Y. Kinder hatten nun die Aufgabe, die Murmel aufzufangen, wenn sie unten wieder zum Vorschein kam. Zweijährige hielten ihre Hand meist nur unter einen der beiden Ausgänge, sie erwischten die Murmel also nur dann, wenn sie genau dort herauskam. Doch im Alter von vier Jahren platzierten die meisten Kinder ihre eine Hand unter dem rechten, die andere unter dem linken Ausgang, so dass sie die Murmel in jedem Fall erwischten. Sogar Vorschulkinder wissen also bereits um die Ungewissheit der Zukunft und bereiten sich auf mehr als ein Szenario vor.

Als wir Schimpansen oder Orang-Utans vor dieselbe Aufgabe stellten, handelten sie meist wie die Zweijährigen und hielten ihre Hand nur unter eine der beiden Röhren. Sie schienen nicht zu verstehen, dass ihre Vorhersage falsch sein könnte und sie sich besser auf beide Alternativen vorbereiten sollten. Bislang gibt es keinen überzeugenden Beleg dafür, dass irgendeine Spezies außer dem Menschen einander ausschließende Zukunftsoptionen vorhersehen und sich darauf vorbereiten kann.

Weil wir Menschen verschiedene Zukunftsversionen erfassen können, die sich von der Gegenwart aus verzweigen, können wir Notfallpläne schmieden. In unserem jüngsten Buch The Invention of Tomorrow erläutern Adam Bulley, Jon Redshaw und ich, warum die Stärke unserer mentalen Vorhersagekraft weniger auf der Genauigkeit unserer Prognosen beruht, sondern paradoxerweise auf unserem Wissen um die Grenzen dieser Vorhersagen.

Musikalisch, technisch versiert oder Schachgenie?

Obwohl wir alle einen Plan A haben, sagen wir für die Karriere, verstehen wir auch, dass alles anders kommen kann, als wir es uns vorgestellt hatten: Unsere Firma könnte kaputtgehen, das herbeigesehnte Leben könnte sich als langweilig erweisen oder wir könnten von einem Bus überfahren werden. Also legen wir Geld zur Seite für schlechte Zeiten, halten Alternativen im Auge, schließen umfängliche Lebensversicherungspolicen ab. Und weil wir das Produkt harter Arbeit nicht (wieder) verlieren möchten, gewöhnen wir uns an, unsere Textdateien regelmäßig zu sichern! Wir nutzen Listen, Kalender, den Summer des Handys, um sicherzugehen, dass wir unsere Termine und Vorhaben nicht vergessen. Darum wissend, dass auf unsere besten Selbstkontrollvorsätze nicht immer Verlass ist, verstecken wir unsere Kekse und verbannen die Zigaretten.

Dass wir uns der verzweigten Zukunftsalternativen bewusst sind, beschert uns auch unser intuitives Gefühl, einen freien Willen zu besitzen. Menschen lieben diese Vorstellung. Obwohl nicht immer ersichtlich ist, welcher Kurs der beste ist, bestärkt uns der Gedanke, dass wir es sind, die das Steuer in der Hand halten.

Auch begreifen wir, dass wir unsere zukünftigen Fähigkeiten und unser zukünftiges Wissen vorsätzlich formen können. Und weil Menschen dabei unterschiedliche Wege wählen, unterscheiden sie sich am Ende stark in dem, worin sie gut sind. Ist sie musikalisch begabt, technisch versiert oder ein Schachgenie? Kann er Fußball spielen, einen Auflauf zubereiten? Bei anderen Spezies findet man bei weitem nicht diese Vielfalt an Fähigkeiten.

Vom Jahrmarkt in die Arztpraxis

Mit unserer Gabe des Vorausdenkens können wir nicht nur unser zukünftiges Selbst formen, sondern auch die Welt um uns herum. Erfindungen beruhen auf Voraussicht. Im Grunde heißt erfinden, Möglichkeiten zu erkennen. Das Potenzial einer Neuerung zu erkennen ist nicht immer leicht, wie die Geschichte zeigt.

Nehmen Sie den griechischen Mathematiker Heron von Alexandria, der schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert eine Dampfmaschine beschrieben und gebaut hat. Doch offenbar sah er ihren einzigen Nutzen darin, die Gäste auf seinen Festen zu unterhalten. Wenn bei diesen Partys auch nur eine Person die unzähligen Einsatzmöglichkeiten solch eines Geräts erkannt hätte, hätte die industrielle Revolution viele Jahrhunderte früher in Gang kommen können – zum Guten oder zum Schlechten.

Wir sind es gewohnt, Innovation auf Kreativität zurückzuführen. Ich denke jedoch, dass das Erkennen des zukünftigen Nutzens einer Entdeckung der Schlüssel ist. Am Ende kommt es nicht wirklich darauf an, ob jemand in einem Aha-Erlebnis eine Lösung erbrütet – oder bloß zufällig über sie stolpert. Lachgas zum Beispiel wurde jahrzehntelang für seine psychoaktiven Effekte als Party- und Jahrmarktsdroge geschätzt, bis schließlich der Zahnarzt Horace Wells dessen Anwendungspotenzial entdeckte: Er wurde Zeuge, wie ein Mann, der sich bei einer solchen Vorführung am Bein verletzte, offenkundig keinerlei Schmerzen empfand. Gleich am nächsten Tag ließ sich Wells tapfer einen Backenzahn ziehen, um den Betäubungseffekt des Gases zu bestätigen, und öffnete damit das Tor für den Einsatz von Anästhetika in der Medizin.

Wir können das Potenzial einer Idee sogar erkennen, ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie das jemals funktionieren könnte. Wenn Science-Fiction-Autoren wie Jules Verne sich lichtbetriebene Raumschiffe, 20000 Meilen unter dem Meeresspiegel dahinfahrende U-Boote oder Mondreisen vorstellen, kann das für andere Leute ein Anreiz sein, diese Visionen umzusetzen. Viele luftige Ideen wurden schließlich Realität, auch wenn andere – wie Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde – Fiktion blieben.

Es war die ordinäre Tasche!

Die Evolution der Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, bedeutete für unsere Vorfahren einen immer größer werdenden Ansporn, die Lösungen, die sie für ihre Alltagsprobleme gefunden hatten, zu tradieren und zu verbessern. Oft werden Steinwerkzeuge oder die Entdeckung des Feuers als Schlüsselerfindungen in der Menschheitsgeschichte angeführt. Aber lassen Sie mich ein viel unscheinbareres, aber ebenso folgenreiches Patent hervorheben: die ordinäre Tasche.

Die heutige Welt ist voller solcher mobiler Behälter, von billigen Leinenbeuteln bis zu Designerhandtaschen, die ein Vermögen kosten. Unsere Kleidung hat Taschen, wir haben Koffer für unsere Kleider und Gepäckwagen für unsere Koffer. Das alles verstauen wir in Containern und die Container auf Schiffen. Große mobile Behälter befördern Menschen über das Wasser, durch die Luft und ins All.

Ohne Behälter hätten unsere Vorfahren immer nur eine Handvoll Gegenstände auf einmal transportieren können. Erst mit der Erfindung von Hilfsmitteln wie Tragetüchern und Beuteln konnten sie viele ihrer Utensilien mit sich herumtragen und waren so besser auf Eventualitäten vorbereitet. Schauen Sie nur mal in Ihrer Tasche oder in Ihren Hosentaschen nach. Wahrscheinlich werden Sie dort Schlüssel, Kreditkarten, ein Mobiltelefon, womöglich auch Kondome finden: lauter Dinge, die Sie für irgendeinen Anlass in der Zukunft griffbereit haben möchten.

Die Archäologin Michelle Langley und ich haben kürzlich die Belege für die frühe Verwendung von Tragebehältern gesichtet. Wir stellten fest, dass die Spuren von Körben, Netzen und Töpfen etwa 30000 Jahre zurückreichen. Hinweise auf Behältnisse aus Holz oder Tropfsteinen tauchen vor etwa 50000 Jahren auf. Natürliche Gefäße wie etwa Muscheln wurden noch viel früher verwendet, sowohl von modernen Menschen als auch von Neandertalern: In der Blomboshöhle in Südafrika und in der Qafzehhöhle in Israel wurde vor mehr als 100000 Jahren Ockerfarbe in Muschelschalen aufbewahrt. Wahrscheinlich sind Trageutensilien sogar noch viel älter, denn Materialien wie Fell, Rinde oder Pflanzenfasern, aus denen sie wohl meist gefertigt wurden, verrotten schnell und hinterlassen keine Spuren, die uns Auskunft geben könnten.

Wer schuldet wem was?

Menschheitserrungenschaften wie der Behälter gründen auf Voraussicht, und Voraussicht hat die kulturelle Evolution beschleunigt. Umgekehrt führt die kulturelle Evolution zu immer besserer Voraussicht. Hier ist ein folgenschweres Beispiel für diese mächtige Rückkopplungsschlaufe der menschlichen Zivilisation:

Nach der letzten Eiszeit gaben Menschen in der Levante allmählich ihr Jäger-und-Sammlerinnen-Dasein zugunsten eines sesshaften Lebens auf. Das aber brachte neue Herausforderungen mit sich, darunter das Zusammenführen und Verteilen von Korn, Fleisch und anderen Gütern mittels Handel und Steuern. Man benötigte eine Methode, um festzuhalten, wer wem was schuldet und wann dies fällig ist. Eine innovative Lösung war der Einsatz von kleinen Formen aus Ton, etwa Kegel und Zylinder, die jeweils für eine bestimmte Menge Getreide oder Vieh standen.

Vor etwa 5000 Jahren begannen Sumerer damit, diese symbolischen Wertstücke in versiegelten hohlen Tonkugeln zu sammeln, um festzuhalten, welche Steuern gezahlt und welche Güter gehandelt worden waren. Diese Informationen in einem versiegelten Gefäß aufzubewahren, statt sich auf das Gedächtnis der Beteiligten zu verlassen, sollte künftigen Streitigkeiten vorbeugen. Doch um ihren Inhalt zu überprüfen, mussten diese Kugelbehälter aufgebrochen werden.

Irgendjemand hatte schließlich eine Idee, wie man diese umständliche Verschwendung vermeiden könnte: Indem man jedes der kleinen Objekte auf die Außenwand des noch ungebrannten Tongefäßes eindrückte, konnte man anzeigen, was es enthielt. Vier kegelförmige Abdrücke signalisierten vier Kegelfiguren im Inneren. Da nun eigentlich kein Grund mehr bestand, überhaupt Figuren in das Gefäß hineinzulegen – schließlich befand sich die Information schon auf der Außenseite –, wurden die Kugeln bald von flachen Tontafeln ersetzt. Zu den bekannten Zeichen gesellten sich später Bilder wie etwa eine Gerstenähre hinzu. Über Jahrhunderte hinweg erfanden die Menschen, die dort Buch führten, immer neue Symbole und lehrten andere, wie sie zu deuten und umzusetzen waren.

Eine vorausschauende Spezies ist am Steuer

Was ich da gerade beschrieben habe, war – natürlich – die Erfindung der Schrift. Schreiben ermöglicht uns, Geschichten, Gesetze und Bekanntmachungen festzuhalten. Es lagert den Fluss der Ideen aus, so dass wir den Geist frei haben für neue Ideen. Es erlaubt uns, Einsichten und Neuerungen zu teilen und zu lehren. Schrift basiert auf Voraussicht. Sie war ein gewaltiger Beschleuniger eben jener kulturellen Evolution, die sie hervorgebracht hat. Eine der ersten Anwendungen, zu denen Menschen die Schrift genutzt haben, waren Kalender, um ihre Zukunftspläne zu koordinieren.

Ein berühmtes Zitat von Isaac Newton lautet: „Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen gestanden habe.“ Es ist dabei allerdings hilfreich, wenn diese Riesen ebenfalls aufrecht stehen und in der Ferne den Horizont absuchen. Mit einer vorausschauenden Spezies am Steuer gewann die kulturelle Evolution dramatisch an Fahrt.

Eine zentrale Innovation war letztlich die wissenschaftliche Methode selbst, die auf der Erkenntnis aufbaut, dass man Vorhersagen überprüfen kann. Experimente und Beobachtungen führen zu Theorien, aus denen sich wiederum Vorhersagen ergeben, die mit weiteren Experimenten und Beobachtungen geprüft werden. Wenn sich die Vorhersagen als falsch herausstellen, versucht die Wissenschaft, eine bessere Theorie auszutüfteln, die die unerwarteten Ergebnisse erklärt – was wiederum zu neuen Vorhersagen führt und so weiter. Mit diesem im Grunde simplen Fehlerkorrekturmechanismus hat das gemeinschaftliche Projekt der Wissenschaft riesige Schritte beim Verständnis unserer Welt gemacht – und in unserer Befähigung, vorherzusehen, was vor uns liegt.

Heute deuten wissenschaftliche Prognosen über Umweltverschmutzung, Klimawandel und Artensterben darauf hin, dass wir vor einer Wegscheide stehen. Vielleicht ist es höchste Zeit, mehr über die Vorhersagefähigkeit herauszufinden, die uns dorthin gebracht hat – und dennoch der einzige Weg sein mag, der uns aus dem Schlamassel herausführt.

Thomas Suddendorf, im münsterländischen Vreden aufgewachsen, ist Psychologieprofessor an der University of Queensland in Australien. Seinem erfolgreichen Buch Der Unterschied folgte 2022 das bisher nur in Englisch erhältliche The Invention of Tomorrow. A Natural History of Foresight, das er mit Adam Bulley und Jonathan Redshaw schrieb.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2024: Meine Grenzen und ich