Herr Professor Petzold, in den Großstädten gibt der Öko-Hipster den Trendsetter in Sachen Lifestyle, neue Outdoor-, Garten- und Landschaftsmagazine finden Millionen Leser, im Party-Smalltalk heißt cool immer öfter stay green: Ist das von Ihnen propagierte going green in der Psychotherapie ein modisches Label – oder verbirgt sich eine reale Bewegung dahinter?
Die integrative Therapie hat alle Formen der Naturtherapie wie tiergestützte, garten-, wald- oder landschaftstherapeutische Interventionen schon seit…
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wie tiergestützte, garten-, wald- oder landschaftstherapeutische Interventionen schon seit Ende der 1960er Jahre aufgegriffen und praktiziert. In den letzten Jahren haben wir diese naturtherapeutischen Ansätze mit Bezug auf Evolutionspsychologie, Neurobiologie, Ökologie und Ethik im Rahmen der „dritten Welle“ integrativer Therapie mit einem Schwerpunkt „integrative Naturtherapie“ weiterentwickelt. Dabei geht es – natürlich – um den Menschen in seinem Naturbezug.
Neben kreativtherapeutischen Methoden werden in der modernen Psychotherapie und Psychiatrie naturtherapeutische Verfahren immer wichtiger, weil die in ihnen wirksam werdende Erlebnisaktivierung enorme heilsame und gesundheitsfördernde Effekte zeigt: Stressreduktion und psychophysische Entspannung, seelische Beruhigung und Gelassenheit, körperliche Lebendigkeit und geistige Wachheit, Freude und Heiterkeit des Gemüts. Gleichzeitig werden die Sinne aktiviert und stimuliert, es kommt zu einem generalisierten Wohlgefühl und einer körperlichen, seelischen und geistigen Frische.
Auch wenn die von Richard Louv vor einigen Jahren formulierte „Naturdefizitstörung“ noch keine anerkannte Diagnose ist, sollte man dem dramatisch zunehmenden Naturmangel gerade bei jungen Menschen große Aufmerksamkeit schenken: Natur und Naturerleben sind ein Gesundbrunnen – ein in vielen Kulturen verankertes Wissen.
In Korea, Japan und China findet sich etwa das Shinrin-yoku, das „Waldbaden“, für das Studien positive Wirkungen auf das Immunsystem nachgewiesen haben. Auch in Großbritannien und Neuseeland gibt es vielversprechende Ansätze des Arbeitens mit und in der Natur. Es geht dabei nicht um naives „Zurück zur Natur!“, sondern um die die körperliche, psychische und soziale Gesundheit fördernde gemeinschaftliche Aktivität – bei Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen.
Wie muss man sich naturbasierte Therapieformen in der Praxis vorstellen?
Prinzipiell verwenden wir naturtherapeutische Methoden kombiniert – also Landschaft, Garten, Wald und Tier. In der tiergestützten Therapie werden Hunde und Pferde besonders häufig und erfolgreich eingesetzt – vor allem bei Menschen aus benachteiligten Schichten, bei Suchtkranken, Drogenabhängigen, aber auch bei älteren chronifizierten Posttrauma- und Psychosepatienten oder manchen Alterspatienten in Heimen. Menschen, die sich verletzt und verbittert aus Sozialkontakten zurückgezogen haben, sind durch Tiere immer wieder zu erreichen. Das gilt auch für Kinder in sozialen Brennpunkten und belasteten Familien.
Die integrative Garten-, Wald- und Landschaftstherapie nutzt die evolutionsbiologische Ausstattung und Ausgerichtetheit des Menschen auf natürliche Umgebungen wie Landschaften und Gärten, um in „grünen Übungen“ wie grüner Meditation, green power- oder green exercise-Trainings mit und in der Natur etwas Körperliches zu tun. Im Wald mit traditionellen Werkzeugen unter fachlicher Anleitung zu arbeiten ist ein hervorragendes Fitnesstraining. Es geht darum, den Leib durch vielfältige sensorische Anregungen in allen Sinnen anzusprechen und ihm breite Möglichkeiten des Erlebens und des Ausdrucks zu eröffnen.
Auch beim Graben, Pflanzen, Fällen und Ausschneiden von Bäumen, Mähen und Sensen, Anlegen von Wegen, Einfriedungen, Zäunen können die Gruppenmitglieder ihre Geschicklichkeit, Beweglichkeit und Kräfte ebenso üben und kreativ entfalten wie durch Wandern, Laufen, Steigen, Klettern: Tätigkeiten, in denen sie kooperativ und kokreativ mit anderen Menschen erleben, handeln, gestalten können. Der Garten und die Landschaft werden zum Erlebnis-, Gestaltungs- und Lebensraum – zur heilsamen, gesundheitsfördernden, beglückenden ästhetischen und vitalen Erfahrung. In Begegnungen mit den anderen Menschen, Pflanzen und Tieren kann man Einsamkeit und Isolation durchbrechen und Ängste, Zwänge oder Niedergeschlagenheit überwinden.
So ist beispielsweise das integrative Lauftraining in der Depressionsbehandlung erfolgreich, bei der Behandlung von Zwangsstörungen können „schmutzige“ Arbeiten im Garten mit Erde oder Kompost angewendet werden, um Zwangsverhalten durch Gewöhnungseffekte abzubauen.
Sie betonen besonders das Lebendige, Erhabene und Schöne des therapeutischen Naturerlebnisses.
Naturerfahrung ist immer auch Selbsterfahrung, Naturverständnis und -erkenntnis öffnet viele Zugänge zum Selbstverstehen, zu den eigenen inneren Landschaften und Lebensquellen: Naturtherapie bedeutet, die eigene Persönlichkeit zu entfalten. So sind Gärten seit mehr als 4000 Jahren auch kulturhistorisch dokumentiert: Oft waren sie Orte der Heilung und der Lebensfreude wie beispielsweise die in erhabene Landschaft eingebetteten griechischen Heiltempel des Asklepios und der Hygieia, die uns Vorbild und Leitbild sind.
„Die Natur ist doch das einzige Buch“, erkannte etwa Goethe, „das auf allen Blättern großen Gehalt bietet.“ Im Kontakt mit der Natur, im Landschaftserleben und in der Landschaftsgestaltung vermag der Mensch wieder die von Albert Schweitzer propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu erspüren, sich selbst zu finden, Schönheit, Gemeinschaft, Sinn und „Freude am Lebendigen“ zu erfahren: Freude an sich selbst, an der Natur und am Mitmenschen.
Sehen Sie für die Psychotherapie prinzipiell einen naturtherapeutischen Entwicklungsbedarf? Muss es eine ökologische Wende geben?
Natur sollte in der psychotherapeutischen Praxis sehr viel breiter genutzt werden, da naturästhetische Erfahrungen und allgemeine green activities sehr heilsam sind für Leib und Seele. Wir wissen, dass in Therapien die Therapiemethode selbst mit nur wenigen 15 Prozent wirkt, die therapeutische Beziehung zu etwa einem Drittel und mit 40 Prozent die sogenannten extratherapeutischen Faktoren. Die restlichen 15 Prozent sind Placeboeffekte. Um die Wirksamkeit von Therapien zu erhöhen, muss man also in diese 40 Prozent hinein: Dabei geht es um die so schwierigen „Lebensstilveränderungen“, an denen die traditionellen Therapieverfahren so oft scheitern, bei denen aber gerade Natur- und Bewegungstherapien gut greifen.
Im Therapie- und Gesundheitswesen allgemein muss eine kombinierte psychologische Natur- und Gesundheitspflege selbstverständlich werden. Bei fast allen traditionellen Therapieformen spielen psychologisch so elementare und existenzielle Phänomene wie menschliches Wohlbefinden, Gemeinschaftsgefühl, Naturverbundenheit und Frische praktisch keine Rolle – trotz überzeugender Erkenntnisse der ökologischen Psychologie und Physiologie. Das sollte sich nachhaltig ändern. Wir brauchen insgesamt eine größere Wertschätzung für soziale und natürliche salutogenetische, gesundheitsförderliche Faktoren.
Sie sprechen von kombinierter Psycho- und Naturtherapie „vom Leibe her“.
In der „dritten Welle“ moderner Psychotherapie geht es nicht mehr um die Couch oder um irgendwelche Trainings, sondern um den methodenübergreifenden, erlebnisaktivierenden Dialog oder auch Polylog, das Gespräch mit vielen und nach vielen Seiten. Wir arbeiten ja oft in Mehrpersonensettings, in sozialen Netzwerken, um dysfunktionale Lebensstile mit einer Kultur komplexer Achtsamkeit und des körperlich erfahrenen Naturerlebens nachhaltig verändern und verbessern zu können. Damit hat sich allerdings die psychologische Forschung – und die psychotherapeutische Berufspolitik – hierzulande bisher kaum oder gar nicht beschäftigt.
Wie steht es denn um die wissenschaftliche Erforschung des therapeutischen going green?
Alle vorliegenden internationalen klinischen Erfahrungsberichte und Fallstudien zu therapeutisch genutzten green activities sind positiv – etwa zum Wandern, zur tiergestützten Therapie oder zum forest bathing. Es gibt auch einige gute empirische Wirksamkeitsstudien und Effizienznachweise durch quantitative Untersuchungen, allerdings noch zu wenige. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.
Sie legen Ihrer Arbeit ein biopsychosozialökologisches Modell zugrunde. Was ist darunter zu verstehen?
Um wirklich ganzheitlich und zugleich differenziell zu behandeln, können wir Körper und Umwelt nicht weiter aus dem Therapieprozess ausschließen. Deshalb vertreten wir seit den 1970er Jahren ein biopsychosozialökologisches Modell und eine Ökopsychosomatik: Wir müssen über Psychotherapie hinaus zu einer Humantherapie kommen, in der man bei der Krankheitsbearbeitung nicht nur das Psychische analysiert, sondern auch das Leibliche, das Soziale und Lebensweltliche. Der Pathogenese muss eine Salutogenese zur Seite stehen. Zu korrektiven emotionalen, kognitiven und willensstärkenden Therapieerfahrungen muss die Behandlung durch alternative Erfahrungen von insgesamt gutem, gelingendem Leben treten – das ist ohne Ökologie und Naturbezug nicht zu leisten.
Da Menschen für die integrative Therapie in Kultur und Natur verwurzelt sind, müssen wir für sie und mit ihnen Heilungs- und Entwicklungsmöglichkeiten erarbeiten, die ihre körperliche, seelische, geistige, soziale und ökologische Realität beachten. Keine dieser Dimensionen des Menschen kann ausgegrenzt werden. Biopsychosozialökologisch bedeutet daher, dass man der condition humaine gerecht wird und respektiert, dass der Mensch eine naturverbundene Evolutionsgeschichte in sich trägt, die er auch in seinem Lebensstil berücksichtigen muss, will er gesund werden oder bleiben.
Landschaft, Gärten, Wald- und Tierkontakte haben eine heilsame Wirkung auf alle Menschen, die auf der Suche sind nach Unentfremdetem, Erfüllendem, einem Ankommen, einer Heimat – das sind nicht nur die Kranken. Der Mensch kann durch integrative Naturtherapien die Potenziale seiner evolutionsbiologischen Ausstattung wieder und in neuer Weise nutzen: aus vielfältigen Bereichen der natürlichen Lebenswelt Anregendes und Heilsames aufnehmen und krankmachende Erlebens- und Handlungsmuster verändern.
Wie kann man dabei Ihre Kritik verstehen, dass psychotherapeutische Praxis nicht mehr primär an der Kindheit ansetzen sollte?
Die am meisten verbreiteten Krankheitsbilder wie Depressionen, Angst- und psychosomatische Störungen werden meist ausgelöst durch Überstressung, mangelnde Selbstsorge, brüchige soziale Netzwerke und naturentfremdete Lebensführung. Da bedrückende Gegenwart aber schwer zu verändern ist, beschäftigen sich viele Psychotherapeuten weiter primär mit Kindheitsursachen – man könnte von einem „kollektiven Abwehrphänomen“ gegenüber den aktuellen Problemlagen von Patienten sprechen. Neben behandlungsbedürftigen Nachwirkungen negativer Kindheitserfahrungen müssen wir jedoch dringend die Belastungen des Erwachsenenlebens und ihre pathogenen Auswirkungen neu bewerten und mit neuen multiplen Therapiestrategien durch ein professionelles bundling als ein „Bündel von Maßnahmen“ zur Lebensstilveränderung behandeln: mit Naturtherapien, Sporttherapien, Netzwerktherapie, mit Angeboten der „Green-Care-Bewegung“, die in der Psychotherapie koordiniert werden. Nur dadurch erhalten chronifiziert erkrankte Menschen, besonders aus benachteiligten Schichten, eine Chance – meist sind sie ja abgeschrieben.
Sie verstehen Ihre Arbeit auch politisch und emanzipatorisch.
Jede Therapie hat schon seit Pierre Janet und Sigmund Freud die Aufgabe, komplexes, kritisches oder ideologiekritisches Bewusstsein und Humanität zu fördern. Die naturtherapeutischen Therapien leisten diesen Beitrag wie kaum eine andere therapeutische Disziplin durch unmittelbare, leibhaftige Erfahrungen von „heilsamen Ökologien“, die uns Frische, Lebendigkeit und Kraft verleihen. Sie zeigen uns unabweisbar: Wir Menschen sind ökologische Wesen, und unsere Sorge für die Bewahrung der Natur ist lebenswichtige Selbstsorge. Wir müssen unseren naturausbeutenden Lebensstil in den modernen Technologiegesellschaften ändern und für die Integrität unserer Lebenswelt sorgen.
Politisch gesehen ist der engagierte Ökologismus heute weltweit die einzige Alternative zur Hegemonie des rücksichtslosen Gewinn- und Konsumstrebens, das zum Verfall des Humanen, zum Verlust unwiederbringlicher Natur und zur akuten Gefährdung der globalen Ökologie führt. Wir befinden uns vollauf schon im „roten Bereich“. Der Raubtierkapitalismus, die hemmungslose Müllproduktion und eine blinde Gleichgültigkeit gegenüber der Naturvernutzung führen zu multiplen Entfremdungen: sinnlicher Verarmung, der Verdinglichung des Körpers, der Entfremdung vom Mitmenschen, von der Arbeit, von der Natur. Wir sehen das im Alltag, aber auch in Therapien, wenn Therapeuten beginnen, den diagnostischen Blick auf diese Phänomene zu richten. Sie tun das bislang aber noch kaum.
Insgesamt ist die integrative Therapie in den letzten Jahren daher noch politischer geworden, versteht sich nachdrücklich als „Kulturarbeit“ – und hat das sowohl theoretisch fundiert wie in konkreten Projekten umgesetzt, etwa mit Langzeitarbeitslosen oder Traumapatienten direkt in Krisengebieten. Lebendiges ist schön, und aus der Freude daran, an seiner Schönheit kann eine Liebe zur Natur erwachsen und eine Sorge um sie, denn sie ist verletzlich. Auch für Psychotherapeuten und alle helfenden Berufe ist es notwendig, immer wieder über Natur um uns und in uns nachzudenken, über die Sicherung ihrer Integrität, die uns ein tiefes Anliegen sein muss: die Integrität von Menschen und Lebensräumen.
In Zeiten einer zunehmenden Naturentfremdung sollte daher stets durch naturorientierte Therapie in einer doppelten Zielsetzung neben der Sorge und Hilfe für Menschen auch verantwortliches, umweltbewusstes Handeln, Sorge um die Natur gefördert werden: „caring for people and caring for nature“, also Sorge für die Menschen und die Natur, wie es im Manifest der „Green-Care-Bewegung“ heißt. Naturtherapeutische Interventionen beginnen in der grünen Gestaltung des Nahraums, von Wohnung, Balkon, Garten. Sie schaffen neben ihrer heilsamen und förderlichen Wirkung auch ein neues ökologisches Bewusstsein und ein engagiertes ökologisches Handeln, das wir heute in allen Lebensbereichen so dringend benötigen.
Konzeptionell sprechen Sie von säkularer Mystik und grenzen sich vom New Age und der Esoterik ab.
Es geht um etwas, was ich metaphorisch als eine „Begrünung der Seele“ bezeichne – ein altes Konzept, das sich in der Heilkunde der Hildegard von Bingen als viriditas, als „Grünkraft“ findet. Sie sieht es in ihrem Verständnis der „Seele als grüner Lebenskraft des Fleisches“ als körperliche und seelisch-geistige Vitalität und Jugendfrische.
Heute sprechen wir von „Leibtherapie“ in der lebensvollen Natur, die über all die gesundheitsfördernden Wirkungen von Aromen und Düften durch ästhetisch-meditative Naturerfahrung wirkt – die den Leib positiv „informiert“, so dass er von Erleben von Ruhe, Schönheit, Versunkenheit erfüllt wird. Es geschieht ein Embodiment, durch das Gelassenheit und Sinn, Elastizität und Frische gewonnen wird. Beide Qualitäten gleichen Gegensätze und Spannungen aus, bauen negativen Stress ab.
Natur bietet vielfache positive Stimulierung statt negativer belastender. So weiß jeder, dass man in der Erschöpfung oder auf dem Weg in den Burnout ist, wenn die natürliche Frische fehlt. Und fast jeder weiß, dass es die „beglückenden Wunder der Natur“ gibt, von denen schon Darwin schrieb, von dieser „Großartigkeit des Lebendigen mit seinen endlosen, wunderschönen Formen“. Auf dieses säkulare, naturwissenschaftliche wie staunende und ehrfurchtsvolle Naturverständnis von Darwin und Hildegard beziehen wir uns in der modernen naturtherapeutischen Arbeit.
Es geht um eine Ökosophie, um einen weisen, wissenden Umgang mit dem Raum des Lebendigen, der Biosphäre – und um eine Ökophilie als achtsame, liebevolle Sorge um die Natur, als Liebe zur Natur, zu unserer Lebenswelt, und als eine Freude am Lebendigen, die von Kindheit auf entwickelt und gefördert werden muss, denn sie ist uns nicht angeboren, auch wenn der Begriff der Biophilie dies fälschlicherweise nahelegt.
Das geschieht auf der Grundlage der erlebten Erfahrung und eines durch Hinführung zum achtsamen Umgang mit der Natur verinnerlichten Wissens dass wir als menschliche Wesen über unseren biologischen Leib Teil der „Weltökologie“ sind: Die Welt ist unser Lebensraum, in dem wir erleben, dass die Natur schön und erhaben ist oder zumindest noch sein kann.
Zu Natur und Ökologie haben Sie auch persönlich ein besonderes Verhältnis.
Ja. Ich bin in einer sehr naturverbundenen Familie und Umgebung groß geworden. In einer eigenen Landwirtschaftslehre habe ich die intensive Naturbeziehung weiterentwickelt. Die Einsicht, dass das Verstehen der Natur ein Schlüssel zum Selbstverständnis ist, war für mich bis heute weg- und lebensprägend. Die Natur in die Therapie einzubinden gilt mir auch als private Lebensorientierung: Ich bin seit Mitte der 1970er Jahre in einem eigenen Wein- und Obstbaubetrieb auch in der Zucht von Bienen und Großpapageien aktiv und freue mich am Lebendigen.
Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzoldstudierte nach einer Landwirtschaftslehre Philosophie, Psychologie, Sonderpädagogik. Er war Professor für Psychologie und Psychomotorik an der Freien Universität Amsterdam und begründete in den 1960er Jahren die integrative Therapie. Heute ist er wissenschaftlicher Leiter der Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Naturtherapie und Kreativitätsförderung (EAG) in Hückes wagen.
Mehr Texte von ihm finden Sie unter anderem hier.
Ist der Mensch von Natur aus naturliebend?
Als Biophilie bezeichnete Erich Fromm 1973 „die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen“. Der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson sprach 1984 in seiner „Biophilie-Hypothese“ von einer angeborenen Neigung des Menschen, sich von Tieren und anderen lebenden Dingen angezogen zu fühlen. Er verknüpfte den Begriff allerdings mit dem Nutzen der Überlebenssicherung, zum Beispiel durch das Tier als Hinweisgeber für Gefahren. Wilson sieht unsere Verbundenheit mit der Natur also nicht nur als evolutionäres Faktum, sondern als eine fortwährende biologische Notwendigkeit.
Heute wird Biophilie immer wieder als „angeborene“ Naturliebe fehlinterpretiert. Dabei agierte der Mensch mit Blick auf das menschheitsgeschichtliche Verhalten der Natur gegenüber häufig ausbeuterisch und naturvernutzend, in den Hochkulturen sogar extrem zerstörend. Das deutet eher auf ausgeprägte menschliche Tendenzen zur Naturfeindlichkeit hin, zumindest aber auf ein höchst ambivalentes Verhältnis zu ihr. Der Begriff „philia“– Liebe, Freundschaft – ist damit irreführend.
Die„Green-Care-Bewegung“drängt deshalb darauf, Naturliebe als eine dringende Aufgabe der Erziehungs- und Bildungsarbeit weltweit zu definieren. Sie muss demnach durch Sozialisation und „Ökologisation“ gelehrt und vermittelt werden. Ziel ist eine ethische Verantwortlichkeit für das Lebendige im Sinne eines„ökologischen Imperativs“:„Handle so, dass Gefährdungen der Biosphäre durch dein Handeln nicht eintreten können. Sei wachsam für schädigendes Handeln, das den Fortbestand des Lebens und den Bestand der Ökosysteme auf dieser Welt bedrohen könnte. Trete ein, wo solches Handeln durch Menschen sichtbar wird, und versuche es zu verhindern. Schütze und pflege die Natur!“
Hilarion G. Petzold