Als Kind hat mich eine seltsame Frage umgetrieben: Wie könnte die Welt ausgesehen haben, als es noch kein Bewusstsein gab? Eine solche Welt muss einst existiert haben, doch wie können wir sie uns vorstellen – die Welt, wie sie gewesen ist, bevor es möglich wurde, sich ein Bild von ihr zu machen?
Um besser zu verstehen, was ich meine, versuchen Sie einmal, sich eine Welt vorzustellen, in der es keinen Sonnenaufgang geben kann. Zwar dreht sich die Erde seit Ewigkeiten um die Sonne, doch nur im Blickwinkel…
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einer beobachtenden Person geht sie über dem Horizont auf. Der Sonnenaufgang ist ein unausweichlich perspektivischer Vorgang und wird für alle Zeiten an Erfahrung gebunden sein.
Diese unvermeidliche Perspektiveneinnahme macht es für uns so schwierig, Bewusstsein zu begreifen. Wenn wir es versuchen, müssen wir uns aus unserer Subjektivität lösen, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie sie uns erscheinen mögen. Aber wie ist das möglich? Wie können wir uns unserem Selbst entziehen?
Das Bewusstsein als Blase
Als junger Mann habe ich mir mein Bewusstsein ganz naiv als eine Blase vorgestellt, die mich umgibt: Ihre Inhalte waren die beweglichen Bilder, die Geräusche und all die anderen Phänomene des Erlebens. Jenseits der Blase vermutete ich unendliche Finsternis, eine Symphonie reiner Quantitäten, aufeinander einwirkender Kräfte, Energien und dergleichen: die eigentliche Realität „da draußen“, die mein Bewusstsein in den qualitativen Formen repräsentiert, die es ihnen geben muss.
Jahrzehnte sind mittlerweile vergangen, und noch immer frage ich mich, wie die Welt ausgesehen haben mag, bevor jemand in ihr lebte und sie betrachten konnte. Heute weiß ich mehr als damals und stelle mir vor, dass das Leben in einem jener hydrothermalen Schlote seinen Ursprung nahm. Die einzelligen Organismen, die dort entstanden, hatten sicherlich kein Bewusstsein, aber ihre Überlebenschancen müssen von ihrer Umgebung beeinflusst worden sein. Man kann sich unschwer vorstellen, dass diese einfachen Organismen auf die biologische „Güte“ der Sonnenenergie reagiert haben. Und von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Vorstellung komplexer Geschöpfe, die aktiv nach Energiequellen suchen und schließlich eine Fähigkeit erwarben, die Erfolgschancen verschiedener Handlungsmöglichkeiten abzuwägen.
Meiner Ansicht nach ist Bewusstsein aus dem Erleben solcher Organismen hervorgegangen. Stellen Sie sich die Hitze bei Tag und die Kälte bei Nacht aus der Perspektive dieser ersten lebenden Geschöpfe vor. Die physiologischen Mechanismen, die ihre Tag-Nacht-Erfahrungen registrierten, waren die Vorläufer des ersten Erlebnisses eines Sonnenaufgangs.
525 Millionen Jahre alt
Viele Philosophen und Wissenschaftlerinnen sind noch immer der Meinung, dass Gefühle keinen physischen Zweck erfüllen. Ich möchte Sie davon überzeugen, dass Gefühle ein Teil der Natur sind, dass sie sich von anderen natürlichen Phänomenen nicht grundlegend unterscheiden und dass sie innerhalb der kausalen Matrix der Dinge etwas tun. Bewusstsein hat, wie ich zeigen werde, mit Fühlen zu tun, und beim Fühlen geht es darum, wie gut oder schlecht es um unser Leben gerade bestellt ist. Unser Bewusstsein hilft uns, es besser zu machen.
Das sogenannte hard problem des Bewusstseins ist mutmaßlich das größte ungelöste Rätsel der modernen Neurowissenschaft, wenn nicht der Wissenschaft überhaupt. Die hier vorgestellte Lösung weicht radikal von herkömmlichen Ansätzen ab. Weil der zerebrale Kortex der Sitz der Intelligenz ist, denken nahezu alle, er sei auch Sitz des Bewusstseins. Dem widerspreche ich; Bewusstsein ist ungleich primitiver. Es hat seinen Ursprung in einem Teil des Gehirns, den wir Menschen mit Fischen teilen.
Man darf Bewusstsein nicht mit Intelligenz verwechseln. Es ist ohne weiteres möglich, Schmerz zu empfinden, ohne dass dieser mit Gedanken über die mögliche Schmerzursache einhergeht. In ähnlicher Weise muss das Verlangen zu essen – ein Hungergefühl – nicht unbedingt mit einem intellektuellen Begreifen der Erfordernisse des Lebens einhergehen. Bewusstsein in seiner elementaren Form als rohes Fühlen ist eine verblüffend einfache Funktion.
Sitzt das Bewusstsein im Hirnstamm?
Eine Grundannahme der Neuropsychologie besagt: Wenn eine spezifische psychische Funktion von einer spezifischen Hirnregion hervorgebracht wird, dann muss eine vollständige Zerstörung dieser Region dazu führen, dass auch die entsprechende psychische Funktion vollständig verlorengeht. Was das Bewusstsein betrifft, so besteht der Kortex diesen Test nicht. Stattdessen können Zerstörungen in anderen Hirnregionen, und zwar schon geringfügige, das Bewusstsein vollständig auslöschen.
Den Physiologen Giuseppe Moruzzi und Horace Magoun gelang vor mehr als 70 Jahren der Nachweis, dass Katzen das Bewusstsein verlieren, sobald man mit winzigen Schnitten den Kortex vom „retikulären“ (netzähnlich aufgebauten) inneren Teil des Hirnstamms trennt. Dieser Kernbereich muss ungefähr 525 Millionen Jahre alt sein, denn er findet sich bei sämtlichen Wirbeltieren – von den Fischen bis zum Menschen.
Es gibt zwei mögliche Erklärungen. Die erste ist, dass das Bewusstsein aus diesem dicht verknoteten Kern des Hirnstamms hervorgeht. Ich vertrete diese Auffassung. Die zweite Erklärung besagt, dass die Funktion dieser Region mit der des Stromkabels eines Fernsehgerätes vergleichbar ist: Es ist notwendig, aber nicht ausreichend und wenig aufschlussreich, wenn Sie begreifen wollen, wie ein Fernseher funktioniert. Das ist die Ansicht der Mehrheit.
Ohne Bewusstheit keine Gefühle
Nehmen wir einmal an, dass die Mehrheitsmeinung zutrifft. Dann wäre zu erwarten, dass wir das Bewusstsein durch Stimulation des Hirnstamms ein- oder ausschalten könnten. Im besten Fall könnten wir es auf diese Weise dämpfen, ähnlich wie durch die Unterbrechung der Stromzufuhr das Bild auf dem Fernsehapparat verblasst, bis es verschwindet. Wir würden aber nicht erwarten, dass die reduzierte Stromzufuhr die aktuelle Sendung bei laufendem Betrieb umschreibt.
Und doch konnte ein schwedisches Forschungsteam um Patric Blomstedt bei einer 65-jährigen Patientin mit Parkinsonerkrankung folgende beeindruckende Reaktion beobachten, ausgelöst durch die Implantierung einer Elektrode in den retikulären Hirnstammkern:
Die Mimik der Patientin brachte innerhalb von fünf Sekunden tiefe Traurigkeit zum Ausdruck […]. Sie war zwar weiterhin wach, lehnte sich aber zur rechten Seite, begann zu weinen und fand Worte für Traurigkeit, Schuldgefühle, Gefühle der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, zum Beispiel: „Mein Kopf ist zu nichts mehr nutze, ich möchte nicht länger leben, ich will nichts mehr sehen, hören, fühlen…“ Auf die Frage, weshalb sie weine und ob sie Schmerzen habe, antwortete sie: „Nein, aber ich will nicht länger leben, es reicht… Ich mag nicht mehr, das Leben kotzt mich an… Alles ist sinnlos, ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, die Welt macht mir Angst.“ […] Die Depression verschwand in weniger als 90 Sekunden, nachdem die Stimulation beendet worden war. In den nächsten fünf Minuten befand sich die Patientin in einem leicht hypomanischen Zustand, lachte und scherzte mit dem behandelnden Arzt und zupfte spielerisch an seiner Krawatte. Sie konnte sich an die gesamte Episode erinnern. […] Diese Patientin war nie zuvor durch psychiatrische Symptome aufgefallen.
Hirnverletzungsstudien, tiefe Hirnstimulation, pharmakologische Manipulation und funktionelle Magnetresonanztomografie legen übereinstimmend die Schlussfolgerung nahe, dass der retikuläre Kernbereich des Hirnstamms den Affekt generiert. Ganz gleich welche Arbeiten ihm sonst noch obliegen, zählt es zu den zentralen Aufgaben des Bewusstseins, Gefühle (die unserem Innern entstammen und unsere biologischen Bedürfnisse regulieren) zu haben und zu handhaben. Wie es scheint, sind die neurologischen Quellen des Affekts und des Bewusstseins zumindest sehr innig miteinander verflochten. Ja, es könnte sich sogar um ein und denselben Apparat handeln.
Die unscheinbare Schaltstelle
Wie sollen wir dieses basale Medium, diese mysteriöse psychische Verfasstheit nennen, die da vom Hirnstamm aus in uns aufzusteigen scheint? Ich schlage vor, es mit dem Begriff „Arousal“ zu versuchen. Der Kortex wird nur insoweit bewusst, als er vom Hirnstamm aktiviert wird. Die Beziehung zwischen beiden ist hierarchisch; kortikales Bewusstsein ist abhängig vom Arousal durch den Hirnstamm.
Man darf sich das Arousal nicht als einen groben oder stumpfen Prozess vorstellen. Es ist ungemein facettenreich und entfaltet sich räumlich wie auch zeitlich über zahlreiche Dimensionen. Die von den Neuromodulatoren wie Dopamin, Noradrenalin, Acetylcholin, Serotonin oder Histamin transportierten Botschaften durchströmen all die Netzwerke des Gehirns, werden aber (genauso wie Schmerzmedikamente) nur genutzt, wenn sie auch gebraucht werden.
Dazu ein Beispiel: Während Sie dies lesen, registrieren Ihre Sinnessysteme alle erdenklichen Hintergrundreize, ohne ihnen jedoch Aufmerksamkeit zu widmen; wenn Sie aber Mutter sind und Ihr neugeborenes Baby zu schreien beginnt, setzt sich dieser Stimulus gegenüber Ihrer Konzentration auf den Text durch und lenkt Ihre Aufmerksamkeit auf das Baby. Ursache ist der erhöhte Spiegel spezifischer Hormone und Peptide – Östrogen, Progesteron, Prolaktin und Oxytocin –, die durch Ihr Gehirn fließen und dort das System Fürsorge aktivieren.
Das periaquäduktale Grau (PAG) als Versammlungsort von Hirnschaltkreisen
Eine entscheidende Schnittstelle im affektiven Arousal ist ein kleiner, dicht gepackter Neuronenkern, der den zentralen Kanal des Mittelhirns umgibt – das periaquäduktale Grau (PAG), in dem sämtliche affektiven Schaltkreise zusammentreffen.
Das PAG ist nicht Teil des retikulären Aktivierungssystems, auch wenn es direkt daneben liegt und eng mit ihm verbunden ist. Der Hauptunterschied zwischen diesen Kernen und dem PAG ist die Richtung des Informationsverkehrs mit dem Vorderhirn. Während das retikuläre Aktivierungssystem seinen Einfluss vorwiegend aufwärts in den Kortex hinein geltend macht, sendet der Kortex seine Signale ausschließlich hinunter ins PAG. Das PAG ist der endgültige Versammlungsort sämtlicher affektiver Hirnschaltkreise.
Auch wenn das PAG anatomisch unterhalb des Kortex liegt, ist es funktionell gesehen von herausragender Bedeutung. Nachdem der Kortex und die übrigen Vorderhirnstrukturen ihre kognitive Arbeit getan – und damit ihren Beitrag zum Handeln geleistet – haben, wird die finale Entscheidung über das, „was als Nächstes zu tun ist“, auf der Ebene des Mittelhirns getroffen.
Insekten haben teils ähnliche Hirnstrukturen wie Menschen
Solche Entscheidungen erfolgen in Form affektiver, durch das PAG erzeugter Gefühle, die alle kognitiven Strategien, die während der vorangegangenen Handlungssequenz formuliert worden sind, in den Hintergrund drängen können. In jedem einzelnen Moment wählt das PAG den Affekt aus, der die nächste Sequenz bestimmt und moduliert. Zum Beispiel habe ich an meinem ersten Arbeitstag als Neuropsychologe kognitiv beschlossen, die Patientinnen und Patienten später wieder aufzusuchen und ihre Krankenakten zu lesen. Affektiv aber geschah etwas anderes: Ich fiel in Ohnmacht.
Dieses Grundprinzip gilt nicht nur für den Menschen, sondern für sämtliche Wirbeltiere. Es könnte sogar auf alle Organismen zutreffen, die über ein Gehirn oder ein Nervensystem verfügen. (Beispielsweise haben Insekten Gehirnstrukturen, die ganz ähnlich wie unser retikuläres Aktivierungssystem funktionieren.) Wir wissen heute, dass der Affekt die fundamentale Form des Bewusstseins ist, die es uns ermöglicht, uns durch unvorhergesehene Situationen „hindurchzufühlen“. Gefühl entscheidet über Erfolg oder Scheitern unserer Handlungsprogramme.
Doch warum eigentlich handeln?
Als Kind hatte ich das Gefühl, dass es sinnlos sei, irgendetwas zu tun. Ganz gleich was ich tat – irgendwann würde ich für immer verschwinden. Mein Bewusstsein war von meinem Gehirn nicht zu trennen, und allen Anzeichen nach war dessen Lebenszeit klar begrenzt. Dies bereitete mir große Sorge.
Mein einziger Ausweg aus diesem nihilistischen Loch war der Versuch zu verstehen, was Bewusstsein ist. Wenn ich mich, so meine Überlegung, ernsthaft und mit aller Kraft bemühte, dies zu verstehen, dann hätte ich die mir zugestandene Lebenszeit nicht verschwendet. Ich hätte sie der Lösung des einzigen Problems gewidmet, das zu lösen sich unter den gegebenen Umständen lohnte.
Meine solipsistische Existenzblase
Dieses Vorgehen barg die ferne, aber nicht auszuschließende Hoffnung in sich, dass ich die Grenzen des Bewusstseins würde überwinden können, wenn ich verstünde, was es ist. Vielleicht würde es mir irgendwie gelingen, meiner solipsistischen Existenzblase zu entkommen und einen Weg zu finden, „Sein“ innerhalb eines größeren Bildes zu kontextualisieren. Dadurch, so gestehe ich, hoffte ich, vielleicht sogar eine Alternative zu der schreckenerregenden logischen Konsequenz der Sterblichkeit zu finden.
Später, während meiner neuropsychologischen und psychoanalytischen Ausbildung, tröstete mich die Entdeckung, dass die Logik an sich das Produkt eines Instruments ist, dem Grenzen gezogen sind. Ich habe unmittelbar erfahren, welch große Teile des psychischen Lebens von Sekunde zu Sekunde außerhalb des bewussten Gewahrwerdens und der willkürlichen Kontrolle entzogen stattfinden. Das hat das Denken gewissermaßen in seine Schranken verwiesen.
Ich habe auch gesehen, dass einigen neurologischen Patientinnen und Patienten, die spezifische Teile ihres Gehirns eingebüßt hatten, die offensichtlichsten Wahrheiten nicht bewusst waren. Wenn diese Menschen aufgrund spezifischer Einschränkungen ihres psychischen Instrumentariums zu irrigen Annahmen veranlasst werden, trifft dasselbe vielleicht auch auf mich zu. Was wäre, wenn uns allen, genauso wie diesen Patienten, die Maschinerie fehlte, die uns, besäßen wir sie, in die Lage versetzte, radikal bessere Schlussfolgerungen über uns selbst und unseren Platz im Universum zu ziehen?
Geleitet vom Gefühlsstrom
Wenn wir alle lediglich über das Hörvermögen verfügten, würden wir wahrscheinlich denken, dass die Realität aus einer Art ätherischer Klangwellen bestünde; wir hätten keinerlei Vorstellung von der sichtbaren und fühlbaren Welt dessen, was wir als Festkörper erleben. Weil wir alle durch dieselbe unvollständige empirische Datenlage beeinträchtigt wären, würden wir alle dieselben falschen Schlüsse ziehen. Und wenn wir einen zusätzlichen Gehirnteil besäßen – sagen wir fünf Lappen pro Hemisphäre statt der üblichen vier –, dann wüssten wir vielleicht etwas über die Natur der Dinge, das wir heute nicht wissen.
Möglich wäre es. Ebenso gut aber könnten sich diese unbekannten Fakten als bedrückender erweisen denn diejenigen, die uns derzeit plagen. Einige werden behaupten, dass der eigene Platz im Universum sich als schlechter – nicht als besser – erweise als vermutet, je mehr Gehirnleistung einem zur Verfügung stehe. Ich bin mir nicht sicher, dass diese Sichtweise gerechtfertigt ist.
Wie dem auch sei, wir haben keine andere Wahl, als aus dem, was wir haben, das Beste zu machen. Wie es aussieht, spricht wenig für die Hypothese, dass mein fühlendes Sein mein sterbliches Fleisch überleben wird. Wir sind ganz und gar abhängig von unserem beängstigend fragilen Gehirn.
Gefühle als kostbares evolutionäres Erbe
Von dieser Voraussetzung ausgehend, dürfen wir vermuten, dass Bewusstsein auf Erden nicht existierte, bevor sich Gehirne entwickelt haben – vielleicht sogar erst, als sich Wirbeltiergehirne entwickelten, also vor 525 Millionen Jahren. Ich vermute, dass es aus einer rudimentären Vorform entstanden ist und ein Affektvorläufer nach und nach zu gefühltem Affekt wurde, ohne dass beide klar voneinander getrennt waren; ich vermute weiter, dass dies mit der Evolution zunehmend komplexer Organismen mit mannigfaltigen konkurrierenden Bedürfnissen einherging. Was mit der Evolution des Kortex auftauchte, war ein kognitives Bewusstsein.
Gefühle sind ein kostbares Erbe, das zeitlose Weisheit in sich birgt. Gefühle ermöglichen Vorhersagen, die in den Erfahrungen gründen, die buchstäblich all unsere Vorfahren in biologisch bedeutsamen Situationen gesammelt haben. Gefühle befähigen uns, das zu tun, was für uns am besten ist, selbst wenn wir nicht wissen, warum es sich so verhält. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn jeder von uns aufs Neue lernen müsste, welche Nahrungsmittel gute Energielieferanten sind, und wenn jede von uns selbst herausfinden müsste, was passiert, wenn man von Klippen hinunterspringt.
Bewusstsein heißt nicht Verstehen
Aufgrund der unwillkürlichen Gefühle, die uns Süßes verlockend und Höhen furchterregend erscheinen lassen, „wissen“ wir einfach (schon bei der ersten Begegnung), was wann zu tun ist. Zum Beispiel wissen wir, was zu tun ist, wenn Babys weinen, Raubtiere angreifen oder frustrierende Hindernisse uns den Weg versperren. Dieses angeborene Wissen – das uns explizit nur als Gefühl vermittelt wird – lässt uns in den von uns selbst geschaffenen unberechenbaren Welten in kohlendioxidgeschwängerter Luft und von motorisierten Fahrzeugen umtost überleben.
Wenn wir uns also von der Illusion, dass Bewusstsein durch die Sinnesorgane in uns einströmt, und von der irrigen Vorstellung verabschieden, dass Bewusstsein gleichbedeutend sei mit Verstehen, dann tröstet uns die Tatsache, dass es spontan aus unserem innersten Inneren auftaucht. Seine Dämmerung hebt an, noch bevor wir geboren werden. Wir werden von einem steten Gefühlsstrom geleitet, einem Born der Intuition entsprungen. Gefühle sind ein Erbe, das uns die Geschichte des Lebens selbst vermacht hat, um uns auf künftige Ungewissheiten vorzubereiten.
Mark Solms ist Professor für Neuropsychologie am Neuroscience Institute der University of Cape Town. Dieser Text ist ein redaktionell bearbeiteter Auszug aus seinem neuen Buch The Hidden Spring. Warum wir fühlen, was wir sind, das in der Übersetzung von Elisabeth Vorspohl am 20. Mai bei Klett-Cotta erscheinen wird.