Und nun zu dem Augenblick, der mein Verhältnis zu Essen (ich meine nicht die Stadt im Ruhrgebiet, sondern Nahrung im näheren Sinne) auf einen Schlag und für alle Zeit prägte. Bis heute bin ich dankbar dafür, denn ich habe es einem ganz konkreten Menschen zu verdanken. Wir waren damals knapp sechzehn.
Dabei hatte es bei mir gar nicht so schlecht angefangen mit der Küche und den Gerichten. Meine Urgroßmutter hatte eine Kurpension, ihre Tochter, also meine Großmutter Else, lernte bei ihr und kochte in dieser…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Kurpension, ihre Tochter, also meine Großmutter Else, lernte bei ihr und kochte in dieser Pension. Else war eine formidable Köchin, und sie beherrschte durch die Nachkriegszeit später auch die andere Kunst: aus wenigem irgendwas zaubern. Sie bereitete wunderbare Braten, tolle Saucen, eigenartige, aber ungewöhnlich wohlschmeckende Bratkartoffeln (in kleine Stipse geschnitten, dann in der Pfanne in Butter und Wasser gegart, und nachdem das Wasser verdampft war, begann das langsame Rösten). Ihre Weihnachtsgansfähigkeiten vererbte sie an meine Mutter, bis heute die besten Gänse, die ich je essen durfte. Es ging aber auch, wie gesagt, ganz anders. Die Tomatensauce zu den Nudeln bestand aus Tomatenmark und Kondensmilch. Mir als Kind schmeckte es dennoch gut.
Meine Mutter hatte von Else und auf der Haushaltungsschule gelernt. Sie war ebenfalls eine großartige Köchin im oberen Segment (Braten aller Arten, Chateaubriand, die besagte Gans) und im Mittelsegment (Frikadellen, Schnitzel, Krautwickel, Rouladen, Suppenfleisch). Es gab auch bei ihr die Sparvariante. Zum Beispiel Buttermilch mit ein bisschen Zucker und Zitronensaft darin (manchmal auch Himbeeren) und dazu Brötchen vom Bäcker Mörler mit Bierwurst vom Metzger Blum. In der einen Hand hielten wir Kinder das Wurstbrötchen, mit der anderen löffelten wir die Buttermilch.
Mit der Tiefkühlware kam die Pommesliebe
Tiefkühlnahrung ab Anfang der siebziger Jahre veränderte so ziemlich alles. Die Braten wurden weniger, dafür gab es jetzt Reis und Hähnchenbrust aus der Tiefkühle, Fischfilet Bordelaise, Bamigoreng. Da konnte man als Kind nur durcheinanderkommen. Mit meinem Bruder stürzte ich vollkommen ab. Wir liebten Tiefkühlpommes, frittierten sie und warfen halbe Zwiebeln und Petersiliensträuße mit ins Fett. Das zischte! Ich war elf, zwölf Jahre alt. Ein typisches Pommes- und Pizzakind.
Essensästhetisch kam ich immer mehr runter, aß an der Schule mal eine Rindswurst, ließ mich zu Hause nur noch wenig blicken, und wenn, konnte Folgendes geschehen: Ich nahm eine Scheibe Brot, bestrich sie mit Butter oder Margarine (ich sah keinen Unterschied darin), pulte eine Scheibe abgepackten Käse unbekanntester Herkunft aus einer Packung und schmierte auf alles dann noch Ketchup drauf. Manchmal verspeiste ich drei von den Dingern hintereinander.
Wenn meine Eltern essen gingen, kam ich nicht mehr mit, das schien mir zu aufwendig. Wenn man Käse-Ketchup-Brote in sich hineinschaufelte, konnte man ja währenddessen noch ganz andere Dinge machen, zum Beispiel Abenteuerheftchen lesen, am Computer spielen oder sich vor den Fernseher knallen. Im Restaurant ging das nicht.
Dann kam ich in das Alter, in dem Abenteuerheftchen weniger wichtig wurden und Mädchen für einen Jungen dafür umso mehr. Zu der Zeit aß ich sowieso nicht so viel. Ende fünfzehn also hatte ich eine Freundin, die mich in meinen Käse-Ketchup-Brot-Gewohnheiten eine Weile kritisch beäugte. Ich dachte gar nicht weiter darüber nach. Wenn wir bei uns zu Hause waren, dann öffnete ich, ohne irgendeine Distanz dazu zu haben, den Kühlschrank und schmierte mir in ihrem Beisein so ein Höllenbrot, das ich dann im Stehen in mich reinschlang, weil wozu sollte ich mich denn dafür auch noch hinsetzen? Sie sagte dazu nichts und wollte nicht am Brot partizipieren. Das wunderbare Wesen wartete ab und auf den richtigen Moment.
Wir wohnten in einem zu groß geratenen Einfamilienneubau vom Anfang der Siebziger in bester Lage am Stadtrand. Sie wohnte mit ihrer Familie in einer Wohnung in einem schönen Altbau in der Stadt. Holzbalkon, Garten, alles hatte Charme, bei uns hatte alles Katalogcharakter. Ihr Vater, Techniker und SPDler, hörte Jazz, meiner, Jurist, CDU, immerhin italienische Opern aus der Romantik. Hauptsächlich die Schmetterarien. Ihre Mutter war eine ebenso auf- wie abgeklärte Person, die mich sehr herzlich in die Familie aufnahm, obgleich meine etwas zu pompös geratene Familie in unserem Heimatort vielleicht nicht unbedingt den besten Ruf genoss.
Ein Butterbrot, das alles veränderte
Eines Tages, vielleicht waren wir aus der Schule gekommen, vielleicht hatten wir aber auch gerade etwas ganz anderes in ihrem Zimmer miteinander getan (das taten wir oft, es war das Schönste auf der Welt), gingen wir in die Küche, weil wir Hunger hatten. Auf halbem Weg aber hieß sie mich ins Zimmer zurückgehen: Sie mache uns ein Brot.
Brot, klar, das war mir bekannt. Ich machte ja auch stets welche.
Und nun kommt der Augenblick. Der mein Verhältnis zu Essen bis heute bestimmt und den ich dieser wunderbaren Person zu verdanken habe, dieser Philosophin mit knapp sechzehn Jahren.
Das Brot war weder mit Ketchup oder Senf oder sonst was beschmiert, es war, dunkler als unseres, lediglich mit Butter bestrichen und einem reifen Käse belegt, den sie von einem unabgepackten Stück abgeschnitten hatte, alles akkurat in mehreren Partien auf ein Holzbrett gelegt. Ich hatte noch nie etwas auf einem Holzbrett serviert bekommen. Auf diesem Holzbrett fanden sich auch eine kleine aufgeschnittene Tomate, etwas Schnittlauch, zwei, drei Ringe von einer frisch geschnittenen Zwiebel, vielleicht eine Gurkenscheibe oder ein halbiertes Radieschen. Es sah nett aus, wie das alles da auf dem Holzbrett lag. Es sah nach Aufmerksamkeit aus. Anders als wenn mein Bruder und ich die Fritteuse anwarfen.
Sie stellte das Brett auf ihren aufgeräumten Schreibtisch vor das Fenster, und ich dachte: So also kann ein Käsebrot aussehen! Nichts lag einfach so auf dem Brett, alles folgte einer gewissen dekorativen Ordnung. Meine Freundin schaute mir in die Augen und sagte einen der entscheidenden Sätze meines Lebens: „Andreas, jede Mahlzeit sollte ein Fest sein.“
Das saß.
Ich könnte das liebe Wesen noch heute dafür umarmen.
Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel