„Quatsch wird zur Meinung stilisiert.“

Die Medienpsychologin stört die verschwimmende Unterscheidung von Wissen und Meinung im öffentlichen Diskurs.

Die Illustration zeigt die Autorin und Neurowissenschaftlerin Maren Urner.
Maren Urner ist Autorin und Neurowissenschaftlerin und findet, das Quatsch zur Meinung stilisiert wird. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Ich habe genug. Und meine damit ausnahmsweise nicht Corona und alles, was dazugehört, sondern die falsche Höflichkeit. Ich habe genug von der falschen Höflichkeit, wenn es darum geht, Quatsch zur „anderen Meinung“ zu erheben. Die falsche Höflichkeit, die dafür sorgt, dass Fake News, „alternative Fakten“ und die Inhalte anderer sprachlicher Stilblüten mit argumentativen Samthandschuhen angefasst werden. Frei nach dem Motto, „Andersdenkende“ nicht auszuschließen. Ich habe genug davon, weil diese falsch verstandene Rücksichtnahme am Ende des Tages nicht zu einer gerechteren Gesellschaft führt, sondern genau das Gegenteil bewirkt.

Warum? Weil wir uns dann nicht mehr auf das berufen, was uns Menschen von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten unterscheidet. Das, was unsere Vorfahren nicht nur das Feuer, Elektrizität und Röntgenstrahlen hat entdecken lassen, sondern aktuell auch dafür sorgt, dass Menschen überall auf der Welt in einer Rekordgeschwindigkeit erfolgreich Impfstoffe gegen ein neues Virus entwickeln. Es geht um unsere einzigartige Fähigkeit, zu kooperieren und dabei abzuwägen und langfristig aufgrund vorhandenen Wissens zu planen.

Wissen. Genau das ist der entscheidende Begriff, der in Zeiten von „Meinungsdebatten“ so gern missverstanden wird, weil das Recht auf eine eigene Meinung mit einem Recht auf eigene Fakten verwechselt wird. Dann nehmen Menschen an, sie könnten „meinen“, was ihnen in den Sinn kommt. Die Auswüchse dieses falsch verstandenen Skeptizismus beobachten wir überall.

Drei Zutaten für ein gemeinsames Argumentieren

Da „meinen“ dann Menschen, die Erde sei eine Scheibe, der Klimawandel sei nicht menschengemacht und Mund-Nasen-Bedeckungen seien nicht in der Lage, die potenzielle Verbreitung von Viren zu verringern. Da müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Journalistinnen und Politiker und andere viel Zeit investieren, um mit ­einer Art argumentativem Aufräumdienst wieder eine gemeinsame Argumentationsgrundlage zu schaffen. Zeit, die wir nicht haben.

Wie kommen wir da wieder raus? Wir können mit drei Zutaten beginnen:

1. Ignorieren: Jede Wiederholung sorgt in unserem Gehirn für eine stärkere Erinnerung. Darum ist es so wichtig Fake News und Co nicht zu wiederholen und kein Sprachrohr für sie zu sein.

2. Kritisches Denken: Um Missverständnisse über Wissen abzubauen, benötigen wir ein grundlegendes Verständnis davon, wie Wissenschaft Wissen generiert und wie anfällig wir alle für Fake News sind. Weil unser Gehirn alles andere als der objektive Informationsverarbeiter ist, für den wir es gern halten.

3. Mut: Die schweigende Mehrheit, die den Unterschied zwischen Fakten und Meinungen sehr gut kennt, muss lauter werden und der schreienden Minderheit Paroli bieten. Worauf warten wir noch?

Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Sie ist Autorin und Mitautorin mehrerer Bücher

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