Das glaubst Du doch selbst nicht!

​Warum reden wir uns häufig selbst etwas ein? Rainer Sachse über die Psychologie der Selbsttäuschung.

„Machen wir uns doch nichts vor!“ Diese Aufforderung hören wir immer wieder, etwa von Politikerinnen und Politkommentatoren. Aber der rhetorische Ausruf ist mit dem Wesen des Menschen nicht vereinbar – denn die Neigung zur Selbsttäuschung ist tief in ihm verwurzelt. Der Psychotherapeut Rainer Sachse bezeichnet sie als ein „universelles Phänomen“.

In seinem Buch Psychologie der Selbsttäuschung definiert der Autor das Phänomen als eine Form von Illusion, die dabei hilft, innere Diskrepanzen zu vermeiden. Diese Widersprüche kommen beispielsweise auf, wenn eine Person sich für altruistisch hält, ihre Umgebung ihr jedoch signalisiert, sie sei egoistisch. Ein solcher Gegensatz belastet und kann schmerzhaft sein. „Eine Möglichkeit, diese Diskrepanz zu reduzieren, besteht darin, sich selbst etwas vorzumachen, also eine Selbsttäuschung aufzubauen“, schreibt der Autor. Die Person kann sich beispielsweise einreden, dass ihre Mitmenschen sie nicht gut genug kennen und einschätzen können – und deshalb ein falsches Bild von ihr haben.

Grundsätzlich scheint die Selbsttäuschung einem wichtigen Zweck zu dienen: Sie verhilft dem Menschen dazu, handlungsfähig zu bleiben. „Wir alle machen uns Illusionen darüber, wie viel Kontrolle wir über unser Leben haben“, erklärt Sachse. „Aber das ist gut so, denn ansonsten würden wir depressiv.“ Ein alltägliches Beispiel ist laut Autor das Autofahren: Würden wir uns vor Augen führen, dass wir Verkehrsunfälle kaum abwenden können, würden wir aus Angst auf das Autofahren verzichten. Selbsttäuschung hilft uns dabei, den Alltag in einer unberechenbaren Lebenswirklichkeit zu bestreiten.

Der Autor diskutiert auch die kognitiven Strategien, auf denen Selbsttäuschung beruht.

Eine solche Strategie ist die Selektion des Freundeskreises: Wir umgeben uns bewusst mit Menschen, die unsere Annahmen teilen – oder sie zumindest nicht infrage stellen. Eine andere Methoden besteht darin, Fakten und Argumente als manipuliert zu interpretieren. Sachse nennt hier das Beispiel der Kreationisten, die die Evolutionsforschung und ihre Beweise als unwahr erachten. Dieser Teil des Buches wird besonders für jene Leserinnen und Leser spannend sein, die sich wundern, wie rationale und intelligente Mitmenschen untrügliche Fakten ablehnen können – und etwa Konspirationsthesen anheimfallen.

Sachse bietet eine Übersicht über ein faszinierendes, wichtiges und nicht zuletzt auch zeitaktuelles Forschungsthema – gerade angesichts der durch die Pandemie befeuerten Verschwörungstheorien. Doch statt eines Übersichtswerks hätte man sich von Sachse ein Buch gewünscht, das etwas näher am Alltag der Leserschaft ist und stärker dabei hilft, eine nützliche von potenziell problematischer Selbsttäuschung zu unterscheiden.

Rainer Sachse: Psychologie der Selbsttäuschung. Belastungen und Ressourcen einer verkannten Kompetenz. Springer, Berlin 2020, 139 S., € 29,99

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit
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