„Sehen, was man aufgebaut hat“

Die Lebensmitte ist eine Phase der Rückschau, der Abschiede – und der Ernte. Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker und Jung-Experten Volker Münch.

Das Foto zeigt eine spiralförmige Uhr, die die Verbindung von linearer und zyklischer Zeit ausdrückt.
In der Lebensmitte verschmerzen lineare und zyklische Zeitwahrnehmungen. © DigiPub // Getty Images

Herr Münch, in Ihrem Buch Krise in der Lebensmitte beschreiben Sie diese Lebensphase als eine Zeit der Veränderung. Worin besteht nach jungianischer Interpretation die Aufgabe in der Lebensmitte?

Die Kernaufgabe besteht darin, die bis dahin zu wenig beachteten und auch unterdrückten Persönlichkeitsanteile mehr zum Leben zu bringen, mit diesen in Kontakt zu treten und eine Einseitigkeit, die sich oft entwickelt hat, aufzulösen. Es geht zum Beispiel darum, dass sich jemand zu sehr im Denken befindet und versucht, die Probleme der Welt nur mit dem Denken zu lösen. Für ihn wäre die Aufgabe, mehr seine Gefühlswelt zu entwickeln. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass Menschen immer zu emotional reagieren und lernen müssen, eine Struktur des Reflektierens, des Nachdenkens über sich zu finden.

Sie sagen ja auch, dass es die große Chance der Lebensmitte ist, „unserem eigenen Unbewussten gerechter zu werden“. Können Sie mir ein konkretes Beispiel geben, wie das aussehen kann?

Mir fällt eine ehemalige Patientin ein, die sehr früh geheiratet hat und ihre berufliche Laufbahn und privaten Interessen ganz zugunsten von Ehe und Familie aufgegeben hat. Und das auch ein Stück weit verdrängt hatte. Als die Kinder größer wurden, begann sie zu grübeln, sie wurde immer unzufriedener. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich von ihren früheren Träumen entfernt hatte, von ihren Plänen, auch von ihren Talenten und Neigungen. Sie hat dann zum Beispiel ausprobiert, wie es wäre, wenn sie den Beruf, den sie früher im Kopf gehabt hatte, doch noch erlernt.

C. G. Jung hat die beiden Archetypen „Puer“ und „Senex“ entworfen, zwischen denen sich die Anteile in der Lebensmitte verschieben. Wie muss ich mir diese Entwicklung vorstellen?

Der Archetyp des Puer – des Jünglings oder der jungen Frau, übersetzt dann die Puella – steht für das, was in der ersten Lebenshälfte von Bedeutung ist: nämlich den Aufbau eines eigenen Lebens, Unabhängigkeit erreichen, eigene Ideen umsetzen, Kreativität walten lassen. Und als Gegensatz dazu – der auch schon in früheren Jahren wirksam sein kann – der Senex, der eher die reiferen Aspekte der Persönlichkeit betont. Diese drehen sich mehr um den Erhalt des Erreichten, ein Stück Konformität, aber eben auch um die Konsolidierung und die Schaffung von Strukturen. Beide Kräfte spielen im Lebenslauf eine Rolle, zur Lebensmitte verschiebt sich das Schwergewicht vom Puer auf den Senex. Das heißt, dass es irgendwann wichtiger wird, mir das anzuschauen, was ich schon erreicht habe, und damit auch zu arbeiten.

Wie verändert sich das Zeitempfinden in der Lebensmitte?

Zum einen gibt es das Phänomen der sich beschleunigenden Zeit, das ja bereits etwa ab dem dreißigsten Lebensjahr spürbar wird. Und das Zeitempfinden verändert sich insofern, dass die Zeit zum Lebensende hin immer kürzer wird und die schon gelebte Lebenszeit immer länger. Insgesamt habe ich das Empfinden, dass das Zeiterleben ein umfassenderes wird. Also weggeht von dem rein linearen Denken, dass eins aufs andere folgt, dass es immer Ursache und Wirkung gibt. Und man eher in die Lage versetzt wird, auch eine zyklische Zeitanschauung zu finden: dass Dinge wiederkommen und dass nach Krisen immer wieder eine neue Chance oder Entwicklung auftritt. Auch die Transgenerationalität ist ein zyklisches Denken, das Einzug hält, und das zu einer anderen Sicht aufs eigene Leben führen kann. Das alles ist erst möglich, wenn man ein gewisses Lebensalter erreicht hat.

Sehr interessant fand ich Ihre Interpretation des Sisyphos-Mythos: Dass es für Sisyphos diesen befreienden Moment gibt, wenn der Stein den Berg hinunterrollt und er dahinter absteigt und es als eine Zeit der Muße erlebt. Einen solchen Blick zu entwickeln, wird in jungen Jahren schwer gelingen.

Das ist aber auch die Ernte, die man einfahren kann: Dass man zur Lebensmitte beginnen kann zu sehen, was man aufgebaut hat, wer man ist. Ohne dass man gleich etwas leisten muss. Und dass die Wertschätzung so immer mehr wachsen kann. Das ist in frühen Jahren noch nicht möglich, weil der Blick sehr in die Zukunft und ins Außen gerichtet ist. Diese Blickrichtung ändert sich: Der Blick geht auch ein Stückweit nach innen.

Aber kommt man um ein Gefühl des Scheiterns und Abschiednehmens in der Lebensmitte herum?

Ich denke, bestimmte Vorstellungen werden immer enttäuscht werden. Vermutlich muss jeder ein Scheitern in bestimmten Bereichen erleben. Die meisten Momente des Scheiterns sind ja auch ganz gut überwindbar. Manche Aspekte kann man dann transformieren in das, was man den Rest von Größenwahn nennt oder einfach als Nicht-Akzeptanz der Realität bezeichnen mag. Wir brauchen alle eine innere Auszeit oder das Abtauchen in eine Fantasiewelt, das hat jeder von uns. Und das kann uns ein Stück trösten und über das Scheitern hinweghelfen.

So eine gewisse Trauerzeit scheint dann die Lebensmitte schon zu sein?

Ja. Wobei das Trauern gar nicht so laut sein muss. Ich habe Therapie-Verläufe, bei denen jemand wirklich Entwicklungsschritte macht und hinterher viel zufriedener ist als vorher. Und ich eigentlich immer das Gefühl habe, dass da viel Abschied vom Altem geleistet worden ist, ohne eine Träne. Das geflügelte Wort vom „Have a good cry“, wenn man zum Therapeuten geht, ist ein bisschen zu plastisch. Trauer kann sehr still sein, Traurigkeit ist nicht unbedingt mit Weinen verbunden, Traurigkeit ist ein tiefes Gefühl und eine Erfahrung. Und das kommt dann immer wieder und darf vielleicht etwas mehr Platz im Leben haben.

Sie schreiben auch, dass die Lebensmitte eine Zeit des nachlassenden Narzissmus ist. Warum ist das so?

Es ist zumindest die große Aufgabe der Lebensmitte. Mit dem Aufzeigen der Grenzen durch den eigenen Körper, durch die Möglichkeiten, die weniger werden, ist natürlich jeder vor die Aufgabe gestellt, sein Selbstbild anzupassen. Und wenn ich nun mit einem relativ hohen Narzissmus ausgestattet bin, so dass mein Selbstbild gar nicht stimmt und ich mich für großartiger halte, als ich bin, dann ist natürlich entweder eine ganz exorbitante Verdrängung notwendig à la Trump. Oder, wenn man das in kleinen Schritten bearbeitet und loslassen kann, ist es möglich, mit der Realität und dem Leben, wie es ist, zufriedener zu werden. Wenn das der Fall ist, dann brauche ich auch gar nicht mehr die Aussicht auf die Belohnung, dass ich der König der Welt werde.

Gibt es Persönlichkeitstypen, die die Frage nach dem „Was ist noch ungelebt?“ besonders hart trifft?

Ich denke, dass es besonders schwierig für diejenigen ist, die in ihrer Kindheit schwer traumatisiert wurden. Die tatsächlich nicht viele Möglichkeiten hatten, sich positiv zu entwickeln, und die natürlich auch nicht so viele Ressourcen haben, um ihr Leben noch entscheidend zu verändern. Wenn diese Menschen in der Lebensmitte merken, dass sie sich doch noch anders orientieren wollen, dann haben sie manchmal gar nicht mehr die Möglichkeit dazu, von den finanziellen Möglichkeiten her, von der Ausbildung her, von den Abhängigkeiten her, in denen sie möglicher Weise stecken. Das ist, glaube ich, das allerschwierigste.

Würden Sie sagen, dass Glück und beruflicher Erfolg den richtigen Umgang mit der Lebensmitte auch behindern können?

Ja, ich denke, dass ein großer beruflicher Erfolg dazu verführt, sich zu sehr auf die narzisstische, auf die konsumistische Ecke zurückzuziehen und seine Lebenszufriedenheit aus dem Äußerem abzuleiten. Dann merken Menschen manchmal erst relativ spät, dass ihnen etwas fehlt, dass die innere Entwicklung nicht mitgekommen ist, weil sie sich so lange haben ablenken können durch ihre Aktivitäten und Hobbys. Dann ist es manchmal schwierig, sein Leben aufs Neue auszurichten. Aber natürlich hat dieser Mensch wiederum den Vorteil, dass er den Rücken finanziell frei hat. Wenn ich mich als Frau von meinem Ehemann trennen möchte und – ungerechter Weise – als Frau weniger erwerbstätig oder schlechter bezahlt war als mein Mann, dann ist das ein risikoreicheres Unternehmen, als wenn ich finanzielle Polster habe. Die Frauen haben es von dieser Seite her schwerer, die Männer haben es von der anderen Seite her schwerer: Weil ihnen gar nicht erst einfällt, in sich zu gehen, weil sie so viel äußere Belohnung finden.

Wie verändern sich denn im besten Fall meine Beziehungen, wenn ich mit der Krise in der Lebensmitte gut umgehe?

Ich glaube, man kann geduldiger werden, mit dem Partner, mit den anderen. Man wird nachsichtiger, man wird toleranter. Was nicht heißt, dass einem alles gleichgültig wird. Aber man bemerkt mehr, dass man seine Ziele auch oder vielleicht sogar eher erreicht, wenn man keine so fixen Vorstellungen hat, wohin der Weg gehen soll. Wenn ich also nicht mehr versuche, den anderen zu ändern, dann ändert er sich vielleicht von ganz alleine und muss nicht in den Widerstand gehen.

Ich war erstaunt, bei Ihnen zu lesen, dass die Aufgabe der Gemeinschaft eine ist, die man in der Lebensmitte angehen kann, also mehr für andere da zu sein. Ich habe die Lebensmitte bislang eher als einen Prozess gesehen, bei dem sich der Blick nach innen richtet, weniger auf andere Menschen.

Ja, es ist manchmal schade, weil das manche Menschen etwas fernhält von C. G. Jung. Sie denken: Das ist nur so ein „Ich mit mir selbst, fern der Welt“-Ansatz, der fast in den Geruch der Esoterik gerät. Dabei meint es, dass die Veränderung in der Lebensmitte im günstigen Fall dazu führt, dass man sich nicht nur mit sich selber verbundener fühlt, sondern eben auch gleichzeitig mit der Gemeinschaft. C. G. Jung hat gesagt: Es ist im Prinzip dasselbe, außen wie innen. Also je mehr ich mit mir selber verbunden bin, desto mehr kann ich teilhaben an der Gemeinschaft und kann ihr auch etwas geben und das nützt dann allen – das ist im Prinzip eine Bewegung.

Volker Münch ist Diplompsychologe, Psychoanalytiker und Dozent am C.G. Jung-Institut München. Sein Buch Krise in der Lebensmitte. Perspektiven der analytischen Psychologie für Psychotherapie und Beratung erschien 2016 bei Springer

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