Die Krise zu unserer Lebensmitte hat uns Elliott Jaques eingebrockt. Der kanadische Psychoanalytiker entwickelte die Theorie von den heiklen mittleren Jahren und führte dafür den Begriff Midlife-Crisis ein. Das war schon in den 1950ern.
Seit damals gibt es zahlreiche Untersuchungen zu dem Phänomen – oftmals mit widersprüchlichen Ergebnissen. Einige Studien legen nahe, dass die Lebensmitte alles andere als eine Zeit des Trübsals ist. Zudem dokumentierten Forscherinnen und Forscher: Viele Menschen zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr besitzen Charakterstärken, die sie von anderen Altersgruppen absetzen. Dadurch verfügen sie über eine Reihe von Ressourcen, die ihnen auch in schwierigen Situationen wie etwa dem Tod eines Angehörigen helfen können. Die Stärken zeigen sich in mindestens fünf Domänen:
1 Persönlichkeit
Eine Studie begleitete mehr als 2000 Amerikaner und Amerikanerinnen über neun Jahre. Die Freiwilligen waren bei Studienbeginn 41 Jahre alt und sollten regelmäßig Fragebögen ausfüllen. Im Laufe dieses knappen Lebensjahrzehnts wurden die meisten von ihnen weniger neurotisch, also im Alltag belastbarer – und selbstbewusster dazu. Dabei hatte die Mehrheit der Befragten den Eindruck, sie hätten sich gar nicht verändert. Doch die Forschenden konnten anhand der wiederholten Fragebögen deutliche Unterschiede feststellen.
In einer weiteren, noch umfangreicheren Studie standen die Angaben von knapp 165000 Menschen zur Verfügung. Das Besondere hier: Die Teilnehmenden umfassten alle Altersgruppen, von Knirps bis Urgroßmutter, von 4 bis 94 Jahren. Dabei kam heraus, dass die Menschen im Alter von 60 Jahren am selbstbewusstesten waren. Waren sie vielleicht bloß gestärkt aus der Midlife-Crisis hervorgegangen? Das schien nicht der Fall. „Das Selbstbewusstsein stieg in den mittleren Jahren graduell an“, berichteten die Forschenden um Ulrich Orth. Eine vorübergehende, gar dramatische Einbuße an Selbstbewusstsein, wie sie infolge der Midlife-Crisis zu erwarten wäre, konnte das Team nicht feststellen.
2 Unabhängigkeit
Eine amerikanische Studie mit Frauen im Alter von 43 bis 52 Jahren ergab, dass sie im Laufe der Jahre weniger abhängig und selbstkritisch, dafür aber selbstbewusster, verantwortungsvoller und entscheidungsfreudiger wurden. Das galt sowohl für ledige als auch für verheiratete und geschiedene Teilnehmerinnen. Laut den Forschenden lag dies an der Art, wie die Frauen mit Herausforderungen umgingen: „Sie begegnen Problemen reflektiert und analytisch und weisen Toleranz gegenüber Ungewissheit auf“, so Ravenna Helson und Paul Fink.
Ähnlich Positives ergab eine britische Untersuchung: Frauen im Alter von 50 bis 65 Jahren waren zufriedener mit ihrem Alter, ihren Beziehungen und ihrem Selbstbewusstsein als Frauen in ihren 20ern. Diese Untersuchung umfasste 1000 Frauen im Alter von 50 bis 65 und gleich viele, die zwischen 20 und 30 Jahre alt waren. „Trotz ihrer positiven Einstellung sind die älteren Frauen der Meinung, dass ihre Altersgruppe von unserer Gesellschaft falsch wahrgenommen wird, und zwei Drittel fühlen sich von den Medien falsch dargestellt und missverstanden“, heißt es am Ende der Studie.
3 Empathie
Suchen Sie jemanden, der Ihren Schmerz nachempfinden kann? Dann sprechen Sie mit Frauen in ihren 50ern. Laut einer amerikanischen Studie mit mehr als 75000 Erwachsenen sind Frauen in dieser Altersgruppe empathischer als gleichaltrige Männer und als jüngere oder ältere Menschen. Beim Vergleich der Fragebögen fiel auf, dass die Teilnehmerinnen in dieser Altersgruppe eher bereit waren, sich emotional auf die Erfahrungen ihrer Mitmenschen einzulassen, und sich mehr Mühe gaben, ihr Gegenüber zu verstehen, so das wissenschaftliche Team von Ed O’Brien.
Diesseits des Atlantiks dokumentierte eine britische Studie Ähnliches, aber hier ging es allein um die kognitive Empathie, also die Fähigkeit, rational nachzuverfolgen, wie andere Menschen denken und empfinden. (Im Gegensatz zur kognitiven geht es bei der emotionalen Empathie einzig um das Spüren der Gefühle einer anderen Person.) „Wir haben festgestellt, dass die kognitive Empathiefähigkeit im Alter zwischen 35 und 55 Jahren auf ihrem Höhepunkt ist“, berichtet das britische Forschungsteam um Liam Dorris. An dieser Untersuchung hatten mehr als 4500 Freiwillige teilgenommen.
4 Kreativität
„Die Lebensmitte ist für viele Menschen mit kreativen Tätigkeiten eine Zeit höchster Produktivität“, so die kanadische Psychologin Ann Douglas, die Einfallsreichtum im mittleren Alter erforscht. Das Gehirn sei gerade in der Lebensmitte gut darin, Verbindungen herzustellen, Muster zu erkennen und Probleme zu lösen. Das liegt unter anderem auch an dem Wissensschatz, den Menschen in diesem Alter den Jüngeren voraushaben. Sie haben mehr Bücher gelesen, mehr Filme gesehen, mehr Musik gehört – schlicht mehr Input und Anstoß bekommen, mit dem sie nun kreativ arbeiten können.
Der Psychologe Dean Simonton hat Kreativität in einem größeren Kontext untersucht und herausgefunden, dass Dichter und Dichterinnen ebenso wie Physikerinnen und Physiker ihre besten Arbeiten in ihren späten 20ern produzieren, während die Geologinnen und Geologen sowie Historiker und Historikerinnen ihre Meisterwerke erst im mittleren Alter vollbringen. Wer statt Dichtung Romane verfasst, muss sich ebenfalls länger gedulden und hat im Schnitt erst mit 45 und später den kreativen Höhepunkt des Schaffens erklommen.
5 Geduld
Personen mittleren Alters sind in westeuropäischen und englischsprachigen Ländern am geduldigsten (oder am wenigsten ungeduldig), verglichen mit jungen und älteren Menschen. Zu dieser Schlussfolgerung gelangte ein deutsch-amerikanisches Forschungsteam, welches Daten aus dem Global Preference Survey heranzog, einem riesigen Datensatz aus Umfragen. Vielleicht ist eben diese Geduld die Erklärung – und das Geheimnis – für Zufriedenheit, die andere Forschende bei der mittleren Altersgruppe beobachteten.
So berichten beispielsweise die Forscherinnen Susan Charles und Laura Carstensen: Die meisten positiven und die wenigsten negativen Emotionen erleben Menschen zwischen 55 und 70 Jahren. Auch die allgemeine Lebenszufriedenheit, in die neben Emotionen wie Glück oder Traurigkeit auch die kognitive Bewertung der eigenen Lebensumstände einfließt, stieg in dem Lebensjahrzehnt ab fünfzig.
Quellen
Paul Costa Jr., Jeffrey Herbst, Robert McCrae, Ilene Siegler: Personality at Midlife: Stability, Intrinsic Maturation, and Response to Life Events. Assessment, 7/4, 2000. https://doi.org/10.1177/107319110000700405
Ulrich Orth, Ruth Erol, Eva Luciano: Development of self-esteem from age 4 to 94 years: A meta-analysis of longitudinal studies. Psychological Bulletin, 144/10, 2018. https://psycnet.apa.org/fulltext/2018-33338-001.html
Ravenna Helson und Paul Fink: Personality Change in Women From the Early 40s to the Early 50s. Psychology and Aging, 7/1, 1992. DOI:10.1037/0882-7974.7.1.46
Ed O’Brien, Sara Konrath, Daniel Grühn, Anna Linda Hagen: Empathic Concern and Perspective Taking: Linear and Quadratic Effects of Age Across the Adult Life Span. The Journals of Gerontology: Series B, 68/2, 2013. https://doi.org/10.1093/geronb/gbs055
Liam Dorris, David Young, Jill Barlow, Karl Byrne, Robin Hoyle: Cognitive empathy across the lifespan. Developmental Medicine & Child Neurology, 2022. https://doi.org/10.1111/dmcn.15263
Ann Douglas: Navigating The Messy Middle. A Fiercely Honest and Wildly Encouraging Guide for Midlife Women. Douglas & McIntyre, 2023
Dean Simonton: Origins of Genius. Darwinian Perspectives on Creativity. Oxford University Press, 1999
Armin Falk, Anke Becker, Thomas Dohmen, Benjamin Enke, David Huffman, Uwe Sunde: Global Evidence on Economic Preferences, The Quarterly Journal of Economics, 133/4, 2018. https://doi.org/10.1093/qje/qjy013
Susan Charles, Laura Carstensen: Social and Emotional Aging. Annual Review of Psychology, 61, 2009. DOI: 10.1146/annurev.psych.093008.100448