Der Geist aus dem Phi

Haben Tiere Bewusstsein? Ja, meint der Schlafforscher Giulio Tononi. Seiner „Phi-Theorie“ zufolge entsteht es aus durch Integration von Informationen.

Ein Kind steht vor einem Aquarium im Zoo und schaut auf einen Belugawal, der ihn bewusst ansieht und ihn anzulachen scheint
Die Differenzierung zwischen Mensch und Tier wird immer schwieriger. Vielleicht haben sogar Tiere ein Bewusstsein. © Mike Tauber/Getty Images

Christof Koch lehnt sich weit aus dem Fenster. Ganz weit! In der Manier eines Science-Fiction-Autors prophezeit er: „Das Internet oder Computersysteme könnten eines Tages bewusst werden.“ Oder „aufwachen“, wie er sagt. „Stellen Sie sich ein Computersystem vor, das dafür gebaut wurde, ein Land immer gleichmäßig gut mit Strom zu versorgen“, sagt er. Und nun stelle man sich weiter vor, dieses System hätte eine Art von subjektivem Empfinden: Wenn der Strom fließt und alle Haushalte versorgt sind, fühlt sich das…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

eine Art von subjektivem Empfinden: Wenn der Strom fließt und alle Haushalte versorgt sind, fühlt sich das gut an. Doch wenn aus irgendeinem Grund die Stromversorgung zusammenbricht, ist dem System furchtbar elend zumute, und es setzt alles daran, dass die Dinge wieder ins Lot kommen.

Diplomatensohn Christof Koch, aus Deutschland stammend, ist Hirnforscher. Viele Jahrzehnte lang arbeitete er am renommierten California Institute of Technology in Pasadena, heute forscht er am Allen Institute for Brain Science in Seattle. Sein langjähriger Mentor war Francis Crick, der zusammen mit James Watson die Struktur der DNA entdeckte, dafür den Nobelpreis erhielt und sich dann für den Rest seiner wissenschaftlichen Laufbahn der Hirn- und Bewusstseinsforschung zuwandte. Christof Koch begleitete ihn auf diesem Weg. Koch gilt heute als einer der renommiertesten Bewusstseinsforscher weltweit.

„Bewusstsein ist überall und seit Jahrmillionen“, meint der 57-Jährige und spielt auf die Tierwelt an. Er ist nicht der einzige Forscher, der nicht länger nur dem Menschen, sondern auch vielen Tieren ein subjektives Erleben zugesteht. Im vergangenen Jahr traf sich Koch im britischen Universitätsstädtchen Cambridge mit einer erlesenen Kollegenschar zu einer Konferenz, die mit einer Erklärung im Stil eines Manifests endete. Kernpunkt: „Gewichtige Belege deuten darauf hin, dass nicht nur Menschen die neurobiologischen Grundlagen besitzen, die Bewusstsein erzeugen“, sondern „auch alle Säugetiere und Vögel und viele andere Lebewesen wie etwa Tintenfische“.

Bewusstsein als subjektive Erfahrung

Manche Wissenschaftler, auch Philosophen, runzeln bei solchen Thesen noch immer die Stirn. Bewusstsein jenseits des menschlichen Gehirns scheint ihnen spekulativ. Der amerikanische Neurobiologe Jaak Panksepp hat sich von solchen oft demonstrativ vorgetragenen Bedenken nie abschrecken lassen. Seit Jahrzehnten streitet er dagegen an, dass viele seiner Kollegen Tiere als eine Art Blackbox behandeln: Innenleben unbekannt. Inzwischen kämpft Panksepp nicht länger auf verlorenem Posten. Subjektives Erleben auch bei Tieren ist in der Neurowissenschaft kein Tabuthema mehr.

Bewusstsein wird dabei verstanden im Sinne von „subjektiver Erfahrung“: irgendetwas zu fühlen oder zu empfinden – sei es die Farbe des blauen Meers, Freude, Musikgenuss oder Magenschmerzen. Unendlich viele solcher Bewusstseinszustände reihen sich in jedem Bruchteil einer Sekunde aneinander zu einem Bewusstseinsfilm. Selbst Tiere ohne Neokortex – hier werden die höchsten kognitiven Leistungen generiert – zählen nach Ansicht der Forscher zu den bewussten Lebewesen. Vielleicht sogar Insekten?

Dass ein basales Bewusstsein auch aus völlig anders aufgebauten Gehirnen erwachsen kann, erscheint vielen als besonders bemerkenswert. Koch findet nichts dabei: „Die Hirnstruktur ist für die Entstehung bewusster Eindrücke zwar wichtig, aber nicht allein ausschlaggebend.“ Man weiß schließlich, dass auch beim Menschen am bewussten Erleben nicht allein die Großhirnrinde beteiligt ist, sondern auch ältere Regionen wie bestimmte Kerne des Hirnstamms eine unverzichtbare Rolle spielen.

Bewusstsein als Reduktion von Unsicherheit

Für Giulio Tononi ist Bewusstsein nicht einmal notwendigerweise an ein Gehirn oder an Nervenzellen gebunden. Der italienischstämmige Professor für Psychiatrie an der amerikanischen University of Wisconsin hat in seinem Buch Phi – A Voyage from the Brain to the Soul eine Bewusstseinstheorie entwickelt, die allein auf der Verarbeitung von Information beruht. Koch hält große Stücke auf diese Theorie.

Als Schlafforscher, so Tononi, habe er sich schon immer gefragt, warum im Tiefschlaf unser Bewusstsein komplett verschwindet und im Traumschlaf zumindest einigermaßen zurückkehrt. Und dann verblüfften ihn Patienten mit Epilepsie, die bei einem Anfall ihr Bewusstsein verloren. Während dieser Attacken synchronisierten sich ihre Hirnwellen. Das heißt, dass sich ihre Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen gleichzeitig entluden. Das wiederum widerspricht einer gängigen Theorie, die just das Entstehen von Bewusstsein – nicht dessen Verlust – mit der Synchronisation von Neuronen erklärt. Demnach müssten Epileptiker bei ihren Attacken hyperbewusst sein. Stattdessen wurden sie bewusstlos. Warum?

Den Schlüssel zur Lösung glaubte Tononi bei Claude Shannon zu entdecken, einem längst verstorbenen Mathematiker, der Mitte des 20. Jahrhunderts die Informationstheorie begründete und einen Gedanken in die Welt setzte, der so trivial wie verblüffend erscheint. Der Mann verkündete, eine Information werde umso bedeutender, je mehr Unsicherheit sie reduziert. Was heißt das? „Stellen Sie sich eine Fotodiode vor, die sich immer dann einschaltet, wenn sie Licht registriert“, sagt Tononi. Der Verlust an Unsicherheit ist gering, denn eine Fotodiode kann nur zwischen zwei Zuständen unterscheiden: hell und dunkel. Sie differenziert nicht einmal verschiedene Arten des Lichts.

Auswahl einer Information aus Trillionen von Optionen

„Nun stellen Sie sich vor, Sie wachen frühmorgens auf und sind sich plötzlich kurz bewusst, wie dunkel es noch ist.“ In diesem bewussten Moment sinkt die Unsicherheit enorm, rein informationstheoretisch gesehen. Wenn schon ein so simpler Eindruck wie „dunkel“ einen solch hilfreichen Effekt hat, um wie viel stärker ist dann die Reduktion von Unsicherheit, die uns komplexe bewusste Wahrnehmungen bescheren, wie unser Gehirn sie uns zigfach in jeder Sekunde zur Verfügung stellt! Jeder einzelne dieser Bewusstseinseindrücke unterscheidet sich von jedem anderen vorher oder nachher. Er bleibt einmalig. „Damit ist er einer der informationshaltigsten Dinge überhaupt“, unterstreicht Tononi. Bevor er sozusagen festgehalten wird, wählt das System Gehirn aus unendlich vielen Daten aus: Es kann beispielsweise die Szenerie im linken Gesichtsfeld verarbeiten oder im rechten. Es ruft gleichzeitig womöglich Informationen ab, die es bereits im unbewussten Gedächtnis abgelegt hat. Unser Nervensystem schöpft aus Trillionen solcher Optionen.

„Aber es entscheidet sich in jedem Moment immer nur für eine der vielen Optionen, und gerade deshalb ist es hochinformativ und gewinnt Bedeutung“, erklärt Tononi. Abhängig davon variiert die Information der Nervenzellen in verschiedenen Hirnregionen, die einen Bewusstseinseindruck erzeugen. Hirnforscher wissen inzwischen, dass an jedem Bewusstseinseindruck in jedem Sekundenbruchteil verschiedene Hirnregionen beteiligt sind. Aber immer unterschiedliche und manche mehr, manche weniger. Die Kapazität eines Systems, Informationen zu verarbeiten, zu speichern, abzurufen und aus fast unendlich vielen Möglichkeiten eine zu wählen, ist laut Tononi die erste wichtige Voraussetzung, damit Bewusstsein entstehen kann. Je mehr Daten in den einzelnen Hirnregionen da sind, desto besser.

Bewusstsein = Information + Integration

Die reine Menge der Information allein macht allerdings keinen bewussten Eindruck. Wahllos eine Milliarde Fotodioden beispielsweise in eine Digitalkamera zu stecken reicht zwar aus, um ein Foto zu machen. Doch die von jeder Diode gelieferte Information ist losgelöst von den Informationen aller anderen. „Um Bewusstsein zu erzeugen, muss ein System wie etwa unser Gehirn die Informationen in einer ganz bestimmten Weise integrieren“, sagt der Professor aus Wisconsin.

Deshalb erleben wir jeden Bewusstseinseindruck als Ganzes, das nicht in seine Einzelteile zu zerlegen ist. Betrachten wir etwa eine Vase, sehen wir ihre Form, ihre Farbe, ihre Größe „holistisch“, als untrennbare Einheit. Wir sehen den Raum, in dem sie steht. Und so weiter. Alle entsprechenden Informationen in den unterschiedlichen Hirnregionen müssen mithin zusammengefügt werden, die jeweils beteiligten Hirnregionen miteinander kommunizieren. So entsteht in jedem Sekundenbruchteil eine einzigartige Geometrie von Nervenzellverbindungen.

Diese Integration der Daten führt zu einem Informationsgewinn, „einem bestimmten enegiereichen Zustand“ (Koch), der letztlich zu einer bewussten Erfahrung führt. Der Geist kommt in die Maschine – jedenfalls nach den Vorstellungen der beiden Neurowissenschaftler. Das Ergebnis – Bewusstsein – ist sprichwörtlich mehr als die Summe seiner Teile. Der „subjektive Erlebnisgehalt jedes Bewusstseinseindrucks lässt sich durch die Geometrie der jeweils beteiligten Hirnregionen in jedem einzelnen Moment erklären“, erläutert Koch.

Bewusstsein als Fähigkeit zur Integration

Tononi nennt den Informationsgewinn Phi. Phi lässt sich messen, ausgedrückt in Bits. „Je mehr integrierte Information ein System besitzt, desto bewusster wird es“, sagt er. Besteht das Netzwerk aus isolierten Komponenten, geht Phi gegen null, weil der Informationsaustausch fehlt. Die Komponenten wahllos zu verlinken bringt nur wenig Phi. Phi steigt am stärksten, wenn man einzelne Teile zu „Clustern“ vernetzt und dann die Cluster untereinander, am besten mit schier unendlich erscheinenden Verbindungen. „Kein Zufall“, meint Tononi, „dass unser Gehirn genau diesem Prinzip folgt.“ Bei epileptischen Anfällen sinkt Phi, weil die Nervenzellen synchronisiert feuern. Das System ist jetzt hochintegriert, doch die Zahl der möglichen Bewusstseinszustände fällt dramatisch. Anders im Tiefschlaf oder in der Narkose, wo das Gehirn die Informationen nicht mehr integriert – auch dies hat ein Ausbleiben bewussten Erlebens zur Folge.

Einen ersten experimentellen Hinweis für die Theorie glaubt Tononi mit seiner Arbeitsgruppe bereits erbracht zu haben. Auf die Schädel von Probanden haben die Forscher kleine Magnetspulen gesetzt. Von außen schickten sie kurze magnetische Pulse ins Gehirn. Die Nervenzellen der jeweils stimulierten Hirnregionen entluden sich daraufhin elektrisch und sendeten Signale zu Neuronen anderer Hirnareale, die ebenfalls feuerten. Bei wachen, mithin bewussten Probanden verteilte sich die Aktivität in etwa 300 Millisekunden in die betroffenen Hirnteile. Bei narkotisierten Menschen ohne Bewusstsein verlief das Signal hingegen schon nach gut 100 Millisekunden im Sande. Sobald die Wirkung des Narkosemittels nachließ, verteilte sich das Signal wieder normal.

„Dieses Signal steht für die Fähigkeit zur Integration“, meint Tononi, der wie Koch davon überzeugt ist, dass Bewusstsein in unserem Universum eine „fundamentale Eigenschaft“ ist – wie Masse oder Ladung.

Evolution aus dem Computer

„Wir sind noch weit davon entfernt, Phi in komplexen Systemen zu messen“, erklärt Koch, „und die Theorie ist natürlich nicht perfekt, aber sie geht in die richtige Richtung.“ Untersucht hat sie Tononis Team bislang nur im Computer mit einem simulierten Lebewesen aus kleinen Informationsnetzwerken, das er Animat getauft hat. Die Forscher haben die animierten Tierchen ausgestattet mit Sensoren, die Informationen aus der „Umwelt“ empfangen, und mit kleinen Beinen. Dann schickten sie ihre Zöglinge in eine Art Irrgarten, wo sie aus Versuch und Irrtum lernten und sich über 50 00 Generationen im Labyrinth hinweg weiterentwickeln konnten – wie in der natürlichen Evolution.

Zu Beginn verliefen sich die Animats unentwegt. Um Generation 14 00 herum verbesserten sie sich langsam. Parallel stieg Phi nach den Berechnungen der Wissenschaftler, die Kommunikation der einzelnen Netzwerke wuchs und wuchs. Generation 49 00 navigierte dann zielsicher durch den Irrgarten, „mit bemerkenswertem Phi“, wie Tononi betont und anfügt: „Dafür wurde das Bewusstsein in der Evolution gemacht, um sich in einer immer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden. Das Bewusstsein erlaubt uns, die Vergangenheit zu verstehen und die Zukunft vorherzusagen.“

Der Italiener aus Wisconsin und der deutschstämmige Kalifornier kooperieren inzwischen, um Phi in einem vergleichsweise simplen Tier auf die Schliche zu kommen, dem Wurm Caenorhabditis elegans mit seinen genau 302 Nervenzellen. „Gut möglich, dass auch dieser primitive Organismus ein ganz dumpfes Bewusstsein hat“, sagt Koch forsch und kommt wieder auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen: die Frage nach Phi jenseits der belebten Welt. Sollte sich eines Tages wirklich herausstellen, dass sich das Bewusstsein auch nur ansatzweise informationstheoretisch erklären ließe, „dann spielt es keine Rolle, ob ein System nun aus Nervenzellen oder aus Transistoren und Kupferdrähten besteht. Wichtig ist nur, dass es sehr informationshaltig und integrativ ist.“ Komplex genug sei das Internet schon heute, nur mangele es noch an der nötigen „Architektur“.

Literatur

  • Christof Koch: Bewusstsein. Bekenntnisse eines Hirnforschers. Springer, Heidelberg 2013

Das „Phi“

Seit Ewigkeiten brüten Philosophen und neuerdings auch Hirnforscher und Psychologen über dem Rätsel, warum die Natur neben der äußeren Welt auch eine innere Welt geschaffen hat: unser subjektives Erleben, in dem sich die Außenwelt auf irgendeine Weise „spiegelt“. Wir Menschen besitzen eine solche Binnenwelt, wahrscheinlich aber auch viele andere Lebewesen. Irgendwie, so viel ist klar, bringt das Gehirn die bewusste Welt hervor. Doch da stehen wir schon vor dem nächsten Rätsel: Längst nicht alles, was im Gehirn vor sich geht, ist bewusst. Was unterscheidet im Einheitsgeratter der Neuronen bewusste von unbewussten Prozessen? Giulio Tononis Lösung lautet: Phi. Unter Phi versteht er den Grad, in dem Informationen zu einem organisierten Ganzen integriert werden. Je mehr Phi eine solche Informationsintegration – im Gehirn, aber vielleicht auch auf einem Computer oder sonst wo – vorweisen kann, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Prozess mit Bewusstsein einhergeht.

Die Binnenwelt der Bienen

Leidenschaftlich erzählt Christof Koch von Versuchen mit Bienen. Bewusstsein bei Bienen! Die Tiere wurden in eine am Anfang rot markierte Röhre geschickt, die sich in zwei Röhren aufgabelte – die eine wieder rot bemalt, die andere andersfarbig. Und die sich dann wieder nach dem gleichen Muster aufgabelte. Immer wählten die Insekten den rot markierten Weg. Weil sie den Eindruck „rot“ irgendwie erlebten und empfanden? Trotz ihres primitiven Nervensystems?

Der Computer erwacht

In der Welt der Science-Fiction zählen denkende und fühlende künstliche Intelligenzen schon lange zum Stammpersonal. In den Terminator–Filmen beispielsweise ist das Computersystem des US-Militärs längst erwacht, um seinen Erfinder, den Homo sapiens, zu bekämpfen und zu vernichten. Und in der Romantrilogie Wake, Watch und Wonder des kanadischen Schriftstellers Robert Sawyer fühlt und empfindet das Internet mit seinem Webmind, dem Geist, der aus dem Netz erwächst. Ganz bewusst.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2014: Geheimnisse