Binge-Eating ist das Verschlingen von großen Mengen an Lebensmitteln innerhalb kürzester Zeit, jedoch ohne Erbrechen. Dies könne ein „hungriges Selbst“ symbolisieren, mutmaßt nun der US-amerikanische Psychoanalytiker und Psychologieprofessor Tom Wooldridge in einem Paper. Darin präsentiert er ein Fallbeispiel: Seine Patientin, die regelmäßig massive Binge-Eating-Episoden hatte, kam stark übergewichtig in die Therapie, um abzunehmen.
Über ihre Kindheit berichtete sie teilnahmslos: Ihre Mutter, die die Auswanderung aus der asiatischen Heimat nicht verkraftet hatte, sei unberechenbar gewesen. Sie schrie, kritisierte und schlug täglich ohne erkennbaren Anlass. Auf diese Weise habe sie das Kind benutzt, um ihr eigenes narzisstisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, so die Einschätzung von Tom Wooldridge.
Die Tochter verstand das nicht. Ihre eigenen, ihr nicht bewussten Bedürfnisse nach Leben und Zuwendung seien beim Binge-Eating immer von neuem mit Wucht hervorgebrochen. Nach dem Verschlingen der Lebensmittel hörte sie eine Stimme in sich, die ihr sagte: „Du dumme Bitch, was hast du gemacht?“ Wooldridge schreibt: Es sei wie ein sadistischer Teil ihres Selbst, der ihr die Essattacken verbot.
Diese seien für die Patientin die einzige Möglichkeit gewesen, ihre vitale aggressive Energie auszudrücken. Im Lauf der Therapie sei es ihr gelungen, ihre Wut auf den Therapeuten zu richten, im Verlauf auch ihren Zorn auf die Mutter. Später gelang es ihr, mithilfe eines Ernährungsexperten abzunehmen. Essattacken traten nur noch selten auf, berichtet Wooldridge.
Tom Wooldridge: Binge eating disorder: The subjugation of the “hungry self”. Psychoanalytic Psychology, 2022. DOI: 10.1037/pap0000408