Herr Asfour und Herr Ahmadi, seit 2013 sind Sie mit „Dialog macht Schule“ an Schulen bundesweit vertreten. Warum braucht es überhaupt schulische Projekte zur demokratischen Bewusstseinsbildung?
Siamak Ahmadi: Um stark gefestigte Weltbilder in Bewegung zu bringen, die bei Jugendlichen durch das Umfeld und die Meinungen anderer entstanden sind und nicht durch eine eigene intensive Auseinandersetzung und Recherche. Und um mit Schülerinnen und Schülern über den Kern der liberalen Demokratie, wie wir ihn…
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und Recherche. Und um mit Schülerinnen und Schülern über den Kern der liberalen Demokratie, wie wir ihn verstehen, zu sprechen. Uns beide hat die Idee fasziniert, für diese Themen in der Schule mehr Raum zu schaffen.
Hassan Asfour: Wir wollten von Anfang an politische Bildungsprojekte für sozial benachteiligte Jugendliche machen, an die man sonst nicht rankommt. Viele Jugendliche sind sehr wütend, vor allem diejenigen aus sozial benachteiligten Familien. Sie haben das Gefühl, dass von ihnen nicht viel erwartet wird und sie auch nicht besonders viel können. Außerdem sind sie oft nicht in der Lage, ihre Gefühle – und auch ihre Diskriminierungserfahrungen – gut auszudrücken. Auch dafür möchten wir ihnen einen Raum bieten. Wir möchten die lebensweltlichen Themen von Jugendlichen mit Politik und Gesellschaft verbinden.
Ahmadi: Das Problem ist, dass der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit bei unseren Schülerinnen und Schülern sehr gering ausgeprägt ist. Sie glauben nicht dran, dass es irgendwas ändern würde, wenn sie sich engagieren. Das ist ein grundlegender Unterschied zu Kindern aus anderen Milieus. Deshalb geht es bei Dialog macht Schule nie nur um politische Bildung, sondern vor allem auch um die Förderung ihrer Handlungsfähigkeit. Unser Ziel ist, aus der Ohnmacht zur Wirksamkeit zu kommen.
Sie schicken eigens dafür ausgebildete Studierende als Dialogmoderatoren in Schulklassen. Wie funktioniert Ihr Ansatz?
Asfour: Wir teilen eine Klasse in zwei Gruppen, so dass maximal 13 Schüler in einer Gruppe sind. Zwei Dialogmoderatoren, meist eine Frau und ein Mann, besuchen dann einmal in der Woche für zwei Stunden die Klassen. Und zwar über einen Zeitraum von zwei Jahren. Diese Langfristigkeit ist zentral bei uns, dadurch entstehen echte Beziehungen, und nur so funktioniert es. In der ersten Phase, der Erkundungsphase, bauen die Dialogmoderatoren das Vertrauen auf und kommen schrittweise mit den Schülern ins Gespräch über ihre Themen und Interessen. In der zweiten Phase, der Vertiefungsphase, werden die Themen eingehend besprochen. Und in der dritten Phase werden den Jugendlichen Handlungsoptionen aufgezeigt. Ziel ist, dass sie selbst aktiv werden. Und zum Abschluss erarbeiten wir ein gemeinsames Projekt.
Um welche Themen geht es in der Regel?
Ahmadi: Wir suchen immer gemeinsam nach Themen, die alle interessieren. Das ist nicht so einfach. Die Jugendlichen sind in der siebten oder achten Klasse und wissen oft überhaupt nicht, was sie interessiert. Es geht darum, ihnen zu zeigen, dass sie doch Interessen haben. Meist sind die Themen dann im Alltag der Kinder verhaftet: Identität, Geschlechterrollen, Religion, Sexualität, Muslime, der IS, das sind Sachen, die sie bewegen. Das Thema Gerechtigkeit ist auch super angesagt, Gerechtigkeit ist ja nicht nur eine kognitive Konstante, sondern für sie vor allem ein Gefühl.
Asfour: Ein Thema kann bei einer bekannten Schauspielerin anfangen und bei Geschlechterbildern enden. Wir diskutieren über die Schauspielerin und kommen so zur Frage, was eigentlich Weiblichkeit oder Männlichkeit bedeutet. Daraus dann ein Projekt zu machen, die Sicht der Schüler darzustellen, damit sie lernen, hey, wir haben auch was dazu zu sagen, das ist unser Ziel.
Warum können nicht Lehrer diese Aufgabe übernehmen?
Ahmadi: Wir haben uns früh überlegt, wer am besten Zugang schaffen kann zu den Schülern. Und das sind nicht unbedingt die Lehrer, auch wenn die für viele Schüler eine wichtige Rolle spielen. Lehrer haben einerseits ein enormes Pensum und müssen so schon sehr viele Aufgaben erfüllen. Und andererseits stellen sie für die Schüler eine große Projektionsfläche dar. Viele Kinder arbeiten sich regelrecht ab an ihren Lehrern.
Asfour: In den Lehrer-Schüler-Rollen ist man oft nicht frei genug. Mir hat früher in der Schule der Nahostkonflikt zum Beispiel große Probleme bereitet, da hat es regelmäßig geknallt, obwohl ich eigentlich eine recht gute Beziehung zu den Lehrern hatte. Ich hätte mir als Schüler gewünscht, darüber mehr ins Gespräch zu kommen. Und zwar so, dass man nicht gleich aneinandergerät und die Türen zu sind.
Ahmadi: Wenn man das Gefühl hat, etwas nicht sagen zu dürfen, wird man vehementer oder radikaler in seinen Äußerungen. Wir hören uns radikale Thesen erst mal an und fragen: Was verstehst du unter diesen Dingen? Hast du schon mal Erfahrungen in diesem Bereich gemacht? Da merkt man relativ schnell, dass bei den Schülern meist nicht viel Wissen da ist als Grundlage einer differenzierten Diskussion. Und diesen niedrigschwelligen Zugang aufzubauen und die Reflexion dann zu vertiefen, das ist einer der Kernaspekte, die wir verfolgen.
Viele Ihrer Dialogmoderatoren haben eigene Einwanderungsgeschichten. Erleichtert das die Identifizierung?
Asfour: Das macht wirklich eine ganze Menge aus. Heute haben wir an den Schulen eine sehr homogene Lehrerschaft und eine sehr heterogene Schülerschaft. Die Lehrer sind in der Regel ohne Migrationshintergrund und haben die Diskriminierungserfahrungen ihrer Schüler meist nicht gemacht. Die Schüler denken sich: Was weiß der denn über meine Lebenswelt? Der hat doch keine Ahnung, was Rassismus ist. Wir erzählen natürlich auch unsere eigenen Geschichten. Je besser das Vertrauensverhältnis ist, desto besser kommen die Dialogmoderatoren ins Gespräch.
Ahmadi: Die Schüler sind aber oft von uns irritiert. Die fragen uns dann: Warum sprecht ihr so gut Deutsch? Wie kommt es, dass ihr so schlau seid, ihr seid doch Araber und Türken? Woher wisst ihr so viel? Wenn das das Bild von Migrantinnen und Migranten in ihrem Umfeld ist, dann wissen wir, okay, da müssen wir ansetzen. Dann erzählen wir von uns und sagen, das ist unsere Geschichte, und trotzdem haben wir es geschafft. Du hast eine Chance und eine Wahl. Das wird nicht leicht, aber es ist zu machen. Und nicht jeder muss gleich studieren.
Asfour: Das Berufsziel Hartz IV hatten wir auch schon als Thema. Manche bekommen in ihrem Umfeld vorgelebt, dass man mit Hartz IV und nebenbei jobben über die Runden kommt. Wir sagen dann: Das ist nicht der Weg, den ihr einschlagen müsst, ihr lebt hier, ihr könnt auch etwas ganz anderes machen.
Eines Ihrer erklärten Ziele ist, die Reflexionsfähigkeit der Schüler zu stärken. Wie geht das genau?
Asfour: Wir geben den Jugendlichen viel Raum für ihre Gefühle und Themen. Das ist der dialogische Modus. Anschließend gehen wir auf die Sachebene, in den argumentativen Modus. Da wollen wir dann gewisse Konzepte, die die Jugendlichen haben, auf den Prüfstand stellen. Und sie dabei unterstützen zu erkennen, dass das, was sie erzählen, ihre Meinung ist, aber möglicherweise kein Argument. Das sind zwei ganz verschiedene Modi.
Ahmadi: Ein Beispiel ist die Flüchtlingskrise. Viele Schüler hat das sehr umgetrieben. Sie sagen: Jetzt kommen die Flüchtlinge, was wollen die überhaupt hier, die sollen bleiben, wo sie sind. Sie erleben eine Art Aufwertungsgefühl, weil sie endlich mal nicht diejenigen sind, die diskriminiert werden. Und können überhaupt nicht sehen, dass ihre Eltern früher in einer ähnlichen Situation waren. Wir thematisieren dann, dass Menschen immer wieder in einfachen Kategorien denken und man da irre aufpassen muss. Wenn die Weltbilder sehr gefestigt sind, laden wir authentische Akteure in die Dialoggruppen ein: Wir hatten schon Flüchtlinge oder Homosexuelle oder Transgendermenschen zu Gast. Wenn jemand mit seiner konkreten Lebensgeschichte kommt, setzen die Schüler sich damit auseinander und hinterfragen ihre vorherigen Meinungen.
Asfour: Auch was im Alltäglichen passiert, wird von uns reflektiert und politisiert. Konflikte in der Gruppe zum Beispiel haben immer Vorrang vor anderen Themen. Das schult die Konfliktfähigkeit und ist wiederum Demokratietraining. Wir besprechen dann: Wer hat was gemacht, und wie wollen wir damit umgehen? Wie würde es dir damit gehen, wenn du so behandelt wirst? Dieses Gefühl nachzuempfinden und auch zu versprachlichen ist schon schwer genug für viele unserer Jugendlichen, weil sie oft nicht die Worte dafür haben.
Ahmadi: Ein ganz elementarer Punkt der demokratischen Bewusstseinsbildung bei uns ist auch, den Schülern den Kern der liberalen Demokratie näherzubringen und als Lebensform erfahrbar zu machen. Beim Thema Erdogan etwa sagen die Schüler immer wieder: Der wurde doch demokratisch gewählt, warum ist er jetzt kein Demokrat? Wir sagen: Der primäre Kern der Demokratie sind nicht die Wahlen, sondern der Schutz der Freiheit und Würde des Menschen. Wer bei seinen Feinden die Todesstrafe anwenden will, achtet nicht die individuelle Würde des Menschen. Das brechen wir dann herunter auf die konkrete Lebenswelt der Schüler. Auch Minderheitenschutz ist Teil der Demokratie. Wir machen immer wieder Rollenspiele mit den Schülern, weil dieses Bewusstsein oft nicht vorhanden ist.
Gibt es manchmal Konflikte in den Dialoggruppen?
Ahmadi: Klar. Wir fordern die Schüler ja heraus und leiten sie zum selbstkritischen Denken an. Sie sollen nicht in der Opferrolle verharren. Wenn sie sagen, meine Lehrer sind Rassisten und behandeln mich ungerecht, weil ich aus der Türkei komme, dann hinterfragen wir das. Unser Vorteil ist nämlich, dass sie uns Diskriminierung nicht vorwerfen können. Sie müssen dann genau überlegen, was eigentlich passiert ist, und ihren Anteil daran beleuchten. Selbstkritisches Denken konnotieren wir positiv. Dinge zu hinterfragen ist gut, sagen wir immer wieder, es erlaubt euch, selbst zu entscheiden, wie ihr leben wollt. Das muss in der Pubertät allerdings immer wieder geübt werden.
Asfour: Wir versuchen ihnen auch klarzumachen, dass sie Brückenkinder sind, dass sie Potenziale in zwei Kulturen und zwei Sprachen haben, damit sie einen Sinn darin sehen, beide Sprachen zu entwickeln. Auch da geht es wieder um Selbstwirksamkeit und Teilhabe, darum, besser kommunizieren und argumentieren zu lernen, um Verantwortung für sich selbst übernehmen zu können. Wir müssen den Schülern aber immer wieder klarmachen: Ihr seid verantwortlich für eure Gefühle. Auf der gesellschaftlichen Ebene seid ihr nicht verantwortlich für vieles, das schiefläuft, aber wenn ihr sauer seid oder Angst habt, müsst ihr das zumindest reflektieren.
Hat Ihr Ansatz eine beobachtbare Wirkung?
Ahmadi: Als Feedback bekommen wir von den Schülern oft zu hören: Wenn ich mir eine Meinung bilde, versuche ich jetzt erst, über mehrere Aspekte nachzudenken. Und dann überlege ich, welche Meinung hatte ich vorher und welche habe ich jetzt. Das sind Dinge, die aber sehr viel Zeit brauchen.
Asfour: Wir haben eine Erhebung gemacht und festgestellt, dass sich aus Sicht der Lehrkräfte vor allem das Klassenklima und die soziale Interaktion verbessert haben. Aus Sicht der Schüler ist das Interesse an politischen Themen gestiegen. Sie gucken mehr Nachrichten. Wir müssen aber noch mehr evaluieren, dafür versuchen wir gerade Fördermittel zu gewinnen.
Wie bilden Sie Ihre Dialogmoderatoren aus? Es scheint eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe für junge Studierende zu sein, zwei bis drei Jahre lang politische Bildung mit Jugendlichen aus schwierigen Stadtteilen zu betreiben.
Ahmadi: Die Qualifizierung zu Dialogmoderatoren ist auch ziemlich umfangreich, sie dauert zwei Jahre inklusive Hospitationen und Weiterbildungen. Wir haben viele Elemente der Selbsterfahrung und Selbstreflexion, Aufstellungen aus dem Psychodrama, Modelle von Schulz von Thun und so weiter. Über die letzten acht Jahre haben wir aber gelernt, dass letztendlich Menschen andere Menschen bewegen und weniger die Methoden. Die erfolgreichsten Dialogmoderatoren sind diejenigen, die ihre eigenen Grenzen kennen und authentisch sind und gut mit ihrem Tandempartner zusammenarbeiten. Gute politische Bildung muss also auch immer Persönlichkeitsbildung sein.
Wie entsteht der Kontakt zu den Schulen?
Asfour: Am Anfang haben wir noch stark die Schulen selbst angesprochen, inzwischen läuft vieles von selbst. Auf jeden Fall ist das Prinzip der Freiwilligkeit sehr wichtig. Die Lehrer müssen das wirklich wollen und unterstützen, dann klappt das auch. In Berlin sind wir stark an den Ethikunterricht angedockt, wir arbeiten aber auch an vielen Schulen mit verpflichtenden AGs, je nachdem was wir mit der Schule ausmachen. Wir sehen die Schüler und Schülerinnen bis zu 34-mal im Jahr, das ist schon nicht wenig.
Bei der Bundestagswahl haben jüngst rechtspopulistische Parteien an Auftrieb gewonnen. Macht das das Thema politische Bildung in Schulen noch relevanter als bislang?
Ahmadi: Ehrlich gesagt machen die Rechtspopulisten mir nicht so viele Sorgen. Eine Einwanderungsgesellschaft ist immer geprägt von Konflikten, und darin steckt auch Potenzial für positive Veränderung. Am Ende einer gelungenen Einwanderungsgesellschaft steht für mich also nicht unbedingt mehr Harmonie. Problematischer finde ich das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Wir haben auf der einen Seite die jungen Leute, die wenig Bildung und wenig Chancen haben. Und andererseits die hochgebildeten jungen Menschen, die überall auf der Welt zu Hause sind. Da sollten wir meines Erachtens mehr tun. Gerade den sozial benachteiligten Schülern müssen wir mehr Wege der Reifung und Selbstermächtigung ermöglichen. PH
Hassan Asfour (re), deutsch-libanesischer Kommunikationswissenschaftler, und Siamak Ahmadi (li), deutsch-iranischer Psychologe, gründeten das Projekt „Dialog macht Schule“. Mittlerweile ist das Bildungsprogramm an Schulen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Hannover und Stuttgart vertreten