Herr Dr. Weinmann, Sie kritisieren das gesamte psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfesystem. Was bewegt Sie zu dieser Fundamental-kritik?
Es gibt seit Jahren ein großes Unwohlsein vieler Psychiater mit der eigenen Arbeit und ein Bewusstsein dafür, dass wir etwas ändern müssen. Denn: Was erreichen wir mit unserer Behandlung? Nehmen Sie nur mal Menschen mit Psychosen: Wie viele Betroffene arbeiten? 10 bis 20 Prozent. Eine Minderheit. Die meisten Menschen mit einer depressiven Episode erkranken erneut. Ich…
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bis 20 Prozent. Eine Minderheit. Die meisten Menschen mit einer depressiven Episode erkranken erneut. Ich habe mich in den letzten Jahren mit den Krankheits- und Behandlungsparadigmen der modernen Psychiatrie auseinandergesetzt, war an Forschungsprojekten zu Leitlinien, zur Medikamentenbehandlung und zu psychosozialen Therapien beteiligt. Was wir machen, ist manchmal kurzfristig hilfreich, aber langfristig sogar oft chronifizierend.
Ich fühle mich mit meiner Kritik keineswegs auf verlorenem Posten. Sicher, Sie haben recht, es ist gewagt, gleich ein ganzes Fachgebiet mit seinem vielgliedrigen Hilfesystem psychiatrischer, psychotherapeutischer und anderer psychosozialer Angebote zu kritisieren. Ich denke aber, es ist an der Zeit, genau das zu tun.
Sie wollen damit sagen, dass dieses ganze System den Betroffenen gar nicht wirklich hilft?
Es gibt einfach viele Punkte in der psychiatrischen Versorgung, die nicht gut laufen und bei denen wir uns etwas vormachen. Wir haben in der Psychiatrie schon immer viel Selbsttäuschung betrieben und unsere Fehler erst dann korrigiert, wenn sie zu offensichtlich waren oder Veränderungen als Fortschritte und Neuentwicklungen verkauft werden konnten.
Wir greifen bei den meisten Depressionen immer noch zum Medikamentenrezept. Wir traktieren Patienten mit wohlwollender, aber einseitiger Psychoedukation, die meist nur der Verbesserung der Krankheitseinsicht, der Sicherung der sogenannten Compliance dient, das heißt, dass die Patienten bereit sind, aktiv an der Behandlung mitzuwirken. Wir behandeln die Fehlwahrnehmungen der Patienten als inhaltlich bedeutungslose Neurotransmitterstörungen. Nicht zuletzt aufgrund von Forschungsergebnissen der Neurowissenschaften, der Psychologie, der Evolutionsbiologie und der Anthropologie müssen wir erkennen, dass wir immer wieder vom Narrativ einer wirksamen Psychiatrie ausgehen, die aber auch ganz anders aussehen könnte.
Dass ältere Studienergebnisse durch neue infrage gestellt werden und es dann zu Änderungen auf einem Wissenschaftsgebiet kommt, ist ja nun nicht so ungewöhnlich. Allem voran müssen wir uns selbst eingestehen, dass wir nicht so etwas wie eine für jeden Einzelfall zutreffende „Wahrheit“ über psychische Störungen kennen. Und wir müssen uns fragen, was wir eigentlich für die Menschen, die bei uns Hilfe suchen, erreichen.
Also gut, nehmen wir die Behandlung mit Antidepressiva, die Millionen von Menschen auch im deutschsprachigen Raum verordnet werden: Sie sagen, diese Medikamente helfen gar nicht wirklich.
Bei einem Teil der Menschen helfen diese Medikamente zunächst einmal durchaus. Allerdings sind die Wirkmechanismen im Wesentlichen unspezifisch. Das heißt: Die rein biologische Wirkung macht den geringsten Teil aus. Deshalb ist es völlig vermessen, von Antidepressiva zu sprechen. Erstens wissen wir nach wie vor gar nicht wirklich, was eine Depression ist und was die dahinterliegenden pathologischen Mechanismen sind. Zweitens wissen wir ebenfalls nicht wirklich, wie sogenannte Antidepressiva wirken.
Nehmen wir den Placeboeffekt: Etwas wirkt immer auch deshalb, weil jemand an die Wirkung glaubt. Wir machen uns gerne über schamanische Techniken in anderen Kulturen lustig, aber bei uns spielen dieselben Mechanismen eine Rolle. Wir haben es mit einem sehr komplexen System von psychosozialen Einflüssen und Erwartungen zu tun. Die psychiatrische Hilfe auf die Wirkung einer Chemikalie zurückzuführen ist unangemessen.
Sie sagen, der Einsatz von Psychopharmaka sei eine Legalisierung harter Drogen.
Na ja, so sage ich das ja nicht. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass Psychopharmaka auf dieselben Trägerstoffe im Gehirn wirken wie illegale Drogen und dass wir damit offenbar kein Problem haben. Natürlich unterscheiden wir gesetzlich zugelassene Medikamente von harten Drogen, aber wenn diese Drogen verboten sind, weil sie langfristig schaden, dann muss man zumindest hinzufügen, dass Neuroleptika, Antidepressiva wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und viele andere in der Psychiatrie verordnete Medikamente dies auch tun, wenn sie lange oder zu hochdosiert gegeben werden.
Und auch Psychopharmaka können insofern zu einer Art Abhängigkeit führen, als sie den Hirnstoffwechsel nachhaltig beeinflussen, was wiederum zu Gegenreaktionen und Anpassungsvorgängen im Gehirn führt, die in der Folge das Absetzen dieser Medikamente nach einem langen Gebrauch oft schwierig machen. Wir erzeugen chemisch im Gehirn ein neues Gleichgewicht, so dass es kompliziert wird, diese Einflüsse wieder runterzufahren, weil dann das Gehirn abermals irritiert reagiert. Ein Leben ohne diese Medikamente wird dann fast unmöglich, wie die Medikamentenkarrieren vieler Menschen mit Psychosen, Depressionen und bipolaren Störungen zeigen.
Medikamente können einen positiven Einfluss haben in einer Akutsituation oder in sehr verfahrenen Situationen wie in psychotischen oder schweren depressiven Zuständen, aber die langfristigen Wirkungen müssen immer mitgedacht und auch in aller Transparenz mit den Betroffenen besprochen werden. Ich persönlich glaube, dass Psychopharmaka in der zukünftigen psychiatrischen Hilfe vor allem kurzfristig zum Einsatz kommen werden. An den eigentlichen Ursachen einer Depression oder einer Psychose ändern sie nichts.
Neuerdings stehen die starken Wechselwirkungen zwischen Darm und Gehirn im Fokus der Forschung. Manche Darmexperten gehen so weit, in Aussicht zu stellen, irgendwann Erkrankungen wie die Depression über den Darm behandeln zu können.
Ich glaube nicht, dass so etwas Komplexes wie eine Depression allein über die Ernährung und das Darmmilieu erklärt und behandelt werden kann. Trotzdem belebt dieser Blick das Fachgebiet, weil wir auch diese Dimension mitdenken müssen. Ich warne aber vor Verengungen, dass der Darm oder das Immunsystem oder das Hormonsystem die Lösung bringen wird. Alles das ist immer nur ein Bestandteil.
Der Vorwurf, die gesamte Forschung zu Psychopharmaka werde von jenen betrieben, die auch den wirtschaftlichen Nutzen aus den Ergebnissen zögen, nämlich von der Pharmaindustrie, ist nicht neu. Aber viele Psychiater sind ebenfalls mit der Pharmaindustrie verknüpft, oder?
Es gibt vielfältige Verflechtungen von Verschreibern der Medikamente und von psychiatrischen Meinungsführern mit den Herstellern, ja. Das kritische Bewusstsein für diese Verflechtungen hat allerdings deutlich zugenommen. In manchen Kliniken haben leitende Psychiater zum Beispiel die Besuche von Pharmavertretern bei den einzelnen Ärzten verboten. Man kann allerdings mittlerweile schon sehen, dass sich die Industrie aus der Psychopharmaforschung herauszuziehen beginnt. Es sind seit den sogenannten atypischen Antipsychotika und den „neueren Antidepressiva“ überhaupt keine wesentlichen Neuerungen und keine neuen Wirkprinzipien in Sicht, der Produktschutz bisheriger Medikamente erlischt nach und nach, so dass sich die Gewinnmargen deutlich verringern.
Aber was wäre denn zu tun, um Therapie im weitesten Sinn besser zu machen?
Wir müssen erst einmal unsere Selbsttäuschungen erkennen und uns vor ihnen zu schützen lernen. Wir wissen, und auch das ist längst evident, dass Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen ganz stark von sozialen Faktoren abhängen. Gesellschaften, die sozioökonomisch weniger ungleich sind, haben auch weniger psychische Erkrankungen und weniger Drogenkonsum. Warum ist das so? Menschen werden dort krank, wo sie leben, arbeiten, erzogen werden. Wir können in einem psychiatrischen Hilfesystem solche Bedingungen nicht einfach ausklammern. Ungleichheit in einer Gesellschaft macht die Ausgeschlossenen krank. Mangelnde soziale Teilhabe und Arbeitslosigkeit machen krank. Individualisierung, Konkurrenz- und Selbstoptimierungsdruck können krank machen – und zwar in allen sozialen Schichten! Mittels epidemiologischer Daten müssen wir uns so etwas viel gründlicher anschauen.
Wo sehen Sie im psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfesystem die Kooperationspartner für all solche Veränderungen?
Ehrlich gesagt sehe ich die in den von psychischen Beeinträchtigungen Betroffenen, zum Beispiel da, wo sie sich in Selbsthilfeinitiativen zusammengeschlossen haben. Diese Gruppen und Organisationen sind die Ergänzung zu unseren beruflichen Verbänden. Die Betroffenen, die wir im psychiatrischen System ja „die Psychiatrieerfahrenen“ nennen, müssen viel stärker einbezogen werden, und zwar auf allen Arbeitsfeldern, auch in der Forschung, indem wir viel mehr qualitative Untersuchungen machen, bei denen sie uns beraten. Es existieren inzwischen in einzelnen Kliniken sogenannte Genesungsbegleiter oder „Peerberater“, das sind Psychiatrieerfahrene, die gleichwertig in Arbeitsteams einbezogen werden. Das müssen wir forcieren und gut beforschen. Die Betroffenen selbst müssen unsere Kooperationspartner werden.
Und natürlich müssen sich auch alle relevanten Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde stärker bewegen. Übrigens auch die Träger psychosozialer Einrichtungen und Angebote, denn viele psychisch erkrankte Menschen bleiben zu lange in isolierten Hilfestrukturen wie den Werkstätten für behinderte Menschen, in psychiatrischen Wohnheimen oder Tagesstätten stecken, statt dass wir sie zurück in die soziale und gesellschaftliche Teilhabe begleiten. Wir haben letztlich viel Geld im System, geben das aber zu stark für langfristige „Versorgung“ aus.
Und was sollen nun Menschen tun, die jahrelang mit Medikamenten behandelt worden sind?
Sie sollten zu ihren Behandlern gehen und fragen, wozu diese Medikamente eigentlich genau gut sind und welche anderen Behandlungsmöglichkeiten es noch gibt. Auf keinen Fall sollte man Medikamente einfach absetzen, denn obwohl das manchmal gelingt, würde es das Gehirn bei vielen Personen nur neuerlich schwer verstören. Vielen Menschen haben beispielsweise die Antidepressiva kein Mehr an Lebensqualität gebracht, andere gewinnen mit Medikamenten Lebensqualität, das muss letztlich jeder selbst entscheiden. Psychiater und Psychologen sollten psychisch erkrankte Menschen begleiten und mit ihnen zu einer gemeinsamen Abwägung kommen, bei der beide sich informiert austauschen und der Helfer den individuell gewählten Weg des Betroffenen stabilisieren hilft. Es ist eine viel stärkere Individualisierung von Therapie nötig.
Stefan Weinmann ist Oberarzt im Vivantes-Klinikum Am Urban in Berlin. Sein Buch Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets ist soeben im Psychiatrie-Verlag erschienen.