Je klüger der Mensch, desto besser der Lügner

Wir verdrehen die Wahrheit und täuschen uns selbst. Aber warum? Evolutionsbiologe Robert Trivers ist überzeugt: Wir werden dadurch zu besseren Lügnern.

Ein kluger Mann mit dunklen Haaren und Bart schaut ernst
Wenn wir lügen, müssen wir die Wahrheit verbergen oder abändern - tun wir das gut, täuschen wir uns dabei oft auch selbst. © Maskot/Getty Images

In Ihrem neuen Buch Betrug und Selbstbetrug beschreiben Sie, wie Sie sich manchmal Illusionen hingeben: Beim Spazieren mit einer jungen, attraktiven Frau sind Sie dann plötzlich schockiert, wenn Sie Ihr Spiegelbild im Schaufenster sehen. Warum haben Sie sich für attraktiver gehalten, als Sie sind?

Weil wir das fast alle tun, auch wenn wir dieses Verhalten meist nur bei anderen vermuten. Als ich einem Kollegen aus Harvard zum ersten Mal vom Thema meines Buches erzählte, sagte er prompt: wie passend.

Woher…

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Kollegen aus Harvard zum ersten Mal vom Thema meines Buches erzählte, sagte er prompt: wie passend.

Woher rührt Ihr wissenschaftliches Interesse am Selbstbetrug?

Ich habe zuerst Mathematik und Geschichte studiert und mich später der Evolutionsbiologie gewidmet. Nach einer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse habe ich mich gefragt: Welchen Sinn ergeben Projektion, Verleugnung, Verdrängung oder andere Mechanismen der Wahrheitsentstellung, die Sigmund Freud beschreibt, im Lichte der Evolution?

Einerseits hat die natürliche Selektion unser unglaubliches Sehvermögen gefördert. Wir erkennen Farben, Dimensionen und Bewegungen. Gleichzeitig haben wir die Fähigkeit, solche Informationen systematisch zu verdrehen und zu entstellen, sobald wir sie erhalten haben.

Freuds Theorie über den Einfluss des Sexualtriebs und des Unbewussten reichte Ihnen als Erklärung nicht?

Ganz und gar nicht. Vielmehr dachte ich: Wenn ich zeigen kann, dass Selbsttäuschung dazu dient, andere besser täuschen zu können, dann habe ich eine einwandfreie Erklärung, eine Funktion. Wenn ich einen Zehneuroschein entwende, ist der Vorteil des Betrugs offensichtlich. Warum aber sollte ich mich selbst täuschen und den Diebstahl vor mir verbergen?

Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Beim Lügen können wir den Blickkontakt schlechter halten. Die Stimme wird deutlich höher, und wir sprechen oft schneller. Jemand, der uns gut kennt, wird die Veränderungen bemerken. Warum also nicht die Täuschung aus dem Bewusstsein vertreiben? Dann können wir die Lüge selbst besser glauben, sie wird weniger sichtbar. Die Wahrheit bleibt verborgen, und wir können die anderen effektiver anlügen.

Evolutionsbiologen wie Richard Dawkins betonen die Wichtigkeit des Selbstbewusstseins in sozialen Situationen. Wie hängen Selbstwert und Selbstbetrug zusammen?

Es gibt viele Belege dafür, dass das Selbstwertgefühl sehr wichtig ist, etwa bei Konflikten zwischen Männern oder bei Beziehungen zwischen Mann und Frau. Ein Partner mit niedrigem Selbstbewusstsein weckt Misstrauen. Der Liebhaber fragt sich: Was weiß er oder sie über sich, das ich nicht weiß?

So hat die Evolution dazu geführt, dass wir unser Selbstbild faktenwidrig aufpolieren, um Selbstvertrauen auszustrahlen. Wir sind in unserer eigenen Wahrnehmung eine bessere Person als die, die wir eigentlich sind, auch äußerlich.

Das zeigen auch methodisch verlässliche Experimente, zum Beispiel: Eine Gruppe von Frauen oder Männern wählt unter zirka 60 Fotos diejenigen mit den schönsten Gesichtern aus. Daraus wird am Computer ein Durchschnittsgesicht gestaltet. Dies gilt als schön, weil alle Unebenheiten wegradiert sind.

Das Bild einer Testperson wird dann einerseits mit diesem Foto verschönert – zu 20, 30 oder 40 Prozent – und andererseits mit verzerrten Gesichtern verschlimmbessert. Wenn die Testperson nun aufgefordert wird, ihr Gesicht aus dem Stapel auszusuchen, entscheidet sie sich nicht für das authentische Abbild, sondern für das um 20 Prozent verschönerte Bild.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Tiere täuschen, Sie nennen Mimikry bei Schmetterlingen, falsche Alarmrufe bei Vögeln oder Tarnung bei Kraken. Ist das auch Selbstbetrug?

Es ist schwierig, Selbsttäuschung bei Tieren festzustellen, gerade weil sie nicht sprechen. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Selbsterhöhung etwas Biologisches und Vorsprachliches ist. Nehmen Sie Tiere, die Konflikte körperlich austragen: Ein falsches, übertriebenes Selbstvertrauen kann helfen, den Gegner zu beeindrucken. Wenn ein Tier von der eigenen Selbsterhöhung überzeugt ist, bezwingt es Konkurrenten wahrscheinlich leichter.

Aus Experimenten wissen wir auch, dass Affen – wie Menschen – zu beständigen Urteilen neigen, sich widerspruchsfrei verhalten. Lehnt ein Affe einmal eine rote Schokolinse ab, wird er dieses Verhalten auch später beibehalten. Er handelt so, als sei seine frühere Entscheidung durch eine stichhaltige Logik begründet – auch wenn sie offenkundig zufällig war. Es gibt gute Gründe, zu vermuten, dass eine Illusion der Widerspruchsfreiheit andere beeindrucken soll.

Gibt es Menschen oder Spezies, die sich von diesem Spiel aus Betrug und Selbstbetrug fernhalten oder nicht in der Lage sind, mitzuspielen?

Vielleicht, aber sie haben weniger Überlebenschancen. Wir können bei diesem Sachverhalt nicht absolut argumentieren. Selbstverständlich gibt es Menschen, die nicht selbstbewusst sind. Und vermutlich neigen Spezies, die wenig mit anderen interagieren, weniger zur Täuschung – Pflanzen zum Beispiel.

Wir wissen heute aber, dass Pflanzen mit der Umwelt eine viel größere Wechselwirkung haben, als wir früher vermutet hatten. Eine Pflanze kann einen Duft verströmen, der die anderen vor möglichen Insekten warnt.

Dass intelligente Menschen vor bewusstem Selbstbetrug nicht gefeit sind, ist plausibel. Dass sie jedoch zur Selbsttäuschung neigen, wie Sie es im Buch suggerieren, ist etwas verwunderlich …

… vor allem für Akademiker und Intellektuelle, die angeblich keine Illusionen haben und glauben, die Realität ganz nüchtern zu sehen! Meine Hypothese ist: Je klüger die Menschen, desto größer ihre Fähigkeit, zu lügen und sich selbst zu betrügen. Der Zusammenhang zwischen Intelligenz und der Bandbreite und Qualität der zur Schau gestellten Falschheit ist eindeutig nachweisbar.

Klügere Vierjährige lügen häufiger als Gleichaltrige, die weniger begabt sind. Wir wissen außerdem, dass sich die Fähigkeit zu lügen bei Kindern zwischen sechs Monaten und sechs Jahren stetig entwickelt. Es beginnt damit, dass das Baby schreit, obwohl alles in Ordnung ist, nur weil es von seiner Mutter in den Arm genommen werden will.

Und bei Klein- und Menschenaffen ist sehr gut belegt: Je größer das Gehirn, desto häufiger greifen sie auf taktische Täuschung zurück. Das sagt uns nichts über die Neigung zur Selbstlüge, aber lässt zumindest die Tür für eine neue Diskussion offen.

Sind Betrug und Selbstbetrug eine Folge von Machtausübung?

Menschen, die Macht haben oder zumindest das Gefühl der Macht in sich verspüren, neigen dazu, selbstorientiert zu sein. Sie achten weniger auf andere. In Testsituationen erkennt oder erinnert der Mächtige die Gesichter anderer Menschen schlechter. Macht ist also eine Art Blindheit. Macht fördert Selbstbetrug, da Mächtige die Rückmeldungen ihrer Mitmenschen nicht richtig wahrnehmen.

Bei Politikern zum Beispiel?

Politiker behaupten oft, dass sie an ihren eigenen Quatsch glauben. Sie vermitteln so den Eindruck, authentisch zu sein.

In der Plagiatsaffäre um den ehemaligen deutschen Wirtschafts- und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wurde dieser als Betrüger dargestellt. Er selbst beteuerte wochenlang seine Unschuld. Betrug oder Selbstbetrug?

Ich finde solche Fälle spannend. Sie zeigen den sehr schmalen Grat zwischen bewusster Täuschung und unbewusster Selbsttäuschung auf. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Mischung aus beidem. Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist der Fall Lance Armstrong.

Ein klarer Fall von Betrug …

Lance Armstrong ist gewiss ein ungeheuerlicher Lügner. Er hat nicht nur Doping betrieben, sondern diejenigen beschimpft, die Verdacht gegen ihn geschöpft hatten. Dass er sich des Ganzen nicht bewusst war, ist kategorisch auszuschließen, zumal er sein Doping mit Kalkül an die Kontrolltermine anpasste.

Trotzdem – als Lance Armstrong im amerikanischen Fernsehen im Januar 2013 ein Interview gab, merkte man: Es steckt eine Logik dahinter. Er hat alles rationalisiert, indem er sagte, er habe sich wie alle anderen im Radsport verhalten. Außerdem verwies er auf seine Krebserkrankung, bei der ihm ein Hoden entfernt wurde. Diesen Verlust habe er kompensieren müssen, indem er Testosteron schluckte. Er beschwor so eine Art interne Folgerichtigkeit herauf, die sein Verhalten rechtfertigte.

Kann man Selbsttäuschung, egal ob durch Rationalisierung oder Verdrängung, als Entschuldigung betrachten?

Ich würde in die andere Richtung argumentieren. Bei einer bewussten Täuschung wird nur einer belogen, bei einer Selbsttäuschung sind es mindestens zwei Personen. Zum Beispiel wurde während des Vietnamkrieges in den USA darüber diskutiert, ob die Soldaten, die die Folgen von Napalm nicht kannten, unschuldiger waren als ihre Kameraden. Das glaube ich nicht.

Ein häufiger Einwand gegen die Evolutionsbiologie und ihre Erklärungen des Verhaltens lautet: Was bleibt von unserem freien Willen übrig, wenn wir nur den Gesetzen der Selektion und der Evolution gehorchen?

Viele werfen uns Determinismus vor. Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit Biologie befasst. Laufe ich deswegen wie ein Automat herum und habe das Gefühl, mein Verhalten sei durch meine Gene durch und durch vorherbestimmt? Nein! Das ist Unsinn!

Ich muss einen Freund aus Harvard zitieren, der ein brillanter Genforscher ist. Er sagte mir: Meine Gene machen sich nichts aus mir, und mir wiederum sind meine Gene egal. Ich kann einen evolutionären Vorteil in einer Handlung sehen und dennoch diese aus moralischen Gründen verabscheuen. Übrigens glaube ich, dass wir uns weiterentwickelt haben, fähig sind, unser Verhalten kritisch zu überprüfen und neue Optionen zu suchen.

Die Option, nicht zu lügen und uns selbst nicht zu belügen, gibt es also durchaus?

Natürlich, nicht alles läuft auf Betrug oder Selbstbetrug hinaus. So pessimistisch, wie es klingen mag, bin ich nicht. Die Wahrheit sollte am Ende schon Vorrang haben.

Wie effektiv ist Erziehung, wenn es um Betrug und Selbstbetrug geht? Welche Rolle spielen dabei die Eltern und die Gesellschaft – die Schule, die Religion, die Medien?

Ich versuche, Täuschung und Selbsttäuschung auf der Ebene des einzelnen Menschen zu analysieren. Es fällt mir schwer, allgemein über die Gesellschaft zu reden. Abgesehen davon versuche ich schon meinem jüngsten Sohn beizubringen, dass Lügen schlecht ist, und bin froh, wenn er sich mir gegenüber ehrlich verhält.

Was Religion angeht, ist die Lage sehr komplex. Selbsttäuschung wird von den meisten Religionen bekämpft, aber Religionen trennen uns – zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Katholiken und Protestanten und so weiter. Die Anfeindungen gegenüber anderen religiösen Gruppen bieten Anlässe für Betrug und Selbstbetrug.

Ob die heutigen Medien, insbesondere das Internet, unsere Tendenz zur Täuschung und Selbsttäuschung verstärken, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.

Robert Trivers, geboren 1943, ist Professor für Anthropologie und Biologie an der Rutgers University in New Jersey. Vor kurzem erschien auf Deutsch sein Buch Betrug und Selbstbetrug. Wie wir uns selbst und andere erfolgreich belügen. Ullstein, Berlin 2013.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2013: Der Saboteur in uns