Kollege Pinocchio

Rund die Hälfte der Beschäftigten flunkert im Job ab und an. Das ist beunruhigend, aber oft halb so schlimm.

Führungskräfte stehen für die Werte der Firma. Sie beeinflussen, ob Beschäftigte eher zu Ehrlichkeit oder Schummelei neigen. © Dieter Jüdt für Psychologie Heute

Der Chefin schwindelt man vor: „Die Deadline? Habe ich im Griff!“ Dem nervigen Kunden mit seinen Sonderwünschen lächelt man ins Gesicht: „Mit Ihnen zu arbeiten ist eine Freude.“ Spontan würde vermutlich jede Person von sich sagen, dass ihr auch im Berufsleben wichtig ist, die Wahrheit zu sagen. In der Realität sieht es anders aus. Die meisten Beschäftigten haben wohl schon einmal in geschickter Weise Informationen weggelassen, einer Kundin Begeisterung vorgeheuchelt oder zu anderen kleineren und größeren…

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oder zu anderen kleineren und größeren Lügen gegriffen.

Eine repräsentative Onlineumfrage von YouGov unter 1054 Berufstätigen zeigt zumindest, dass Flunkerei im beruflichen Alltag gang und gäbe ist: 45 Prozent der Befragten greifen ab und an zu kleineren Lügen, um besser dazustehen oder lästige Nachfragen von Chefs oder Kunden zu vermeiden. Gut jede fünfte Person sagt, dass sie sich im Job verstellt und sich nicht gibt, wie sie ist. Wenn die Chefin fragt, wie es geht, sagt man lieber stereotyp „gut“, als über sein wirkliches Befinden zu sprechen. Ebenfalls häufige Gründe für Schwindeleien: Misserfolge verbergen, dem oder der Vorgesetzten nach dem Mund reden, Tatsachen verheimlichen, um einer Sanktion zu entgehen.

Neben diesen Beschönigungslügen verbreiten acht Prozent der Arbeitnehmer und vier Prozent der Arbeitnehmerinnen sogar vorsätzlich Unwahrheiten. Für sie ist es in gewisser Weise Routine, dass sie ihren Vorgesetzten von Geschäftsabschlüssen und Erfolgen erzählen, die es gar nicht gibt.

Ist Lügen im Job also normal?

Ist Lügen im Job also normal? Und wenn das so ist, was genau treibt uns dazu an, dass wir gerade am Arbeitsplatz häufig die Unwahrheit sagen? Und wann wird eine kleine Unehrlichkeit eigentlich zur inakzeptablen Lüge?

Tatsächlich beginnt die Flunkerei schon im Vorstellungsgespräch: Acht von zehn Personen, die sich bewerben, schönten ihre beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Eigenschaften, stellte Klaus Melchers von der Universität Ulm in einer aktuellen Übersichtsarbeit fest. „Die große Mehrheit nutzt Faking-Taktiken in Interviews“, sagt der Arbeits- und Organisationspsychologe. Dabei kommen besondere Techniken zum Zuge. Wer etwa Image-Managing betreibt, beantwortet Fragen im Jobinterview so, dass er oder sie zielstrebiger oder leistungsbereiter erscheint, als es in Wirklichkeit zutrifft. Die Methode Storytelling macht aus der Weltreise nach dem Abitur die logische Vertiefung von interkultureller Neugier und Sprachbegeisterung, auch wenn man die meiste Zeit mit der deutschsprachigen Freundin am Strand gelegen hat. „Nur sehr wenige greifen allerdings zur echten Lüge und schreiben sich Eigenschaften oder Fähigkeiten zu, die sie in keiner Weise besitzen“, fasst Melchers die Studienlage zusammen.

Doch es gibt auch bei kleinen Unehrlichkeiten ein gravierendes Problem: Erhebungen zeigen, dass eine Schwindelei – wenn jemand damit durchkommt – dazu führen kann, dass die Person auch zukünftig immer häufiger moralische Maßstäbe vergisst und die Unwahrheit sagt, um sich besser darzustellen. Man gewöhnt sich das Schwindeln regelrecht an – und wird auch künftig darauf zurückgreifen und es innerlich rechtfertigen.

Die „weißen“ und schwarzen“ Lügen

In zahlreichen Studien wurde untersucht, wie häufig Menschen generell lügen. Doch die Bandbreite der Ergebnisse variiert stark. Der Psychologe Robert S. Feldman von der University of Massachusetts fand beispielsweise heraus, dass wir schon in kurzen Unterhaltungen oft mehrfach schwindeln. Allerdings untersuchte er Gespräche, in denen die Probanden die Aufgabe hatten, sich in gutem Licht zu zeigen. In solchen Situationen tendieren wir offensichtlich dazu, die Wahrheit ein bisschen zu unseren Gunsten zu biegen. Tagebuchstudien, in denen Menschen abends reflektierten, wie häufig sie wohl an einem ganz normalen Tag die Unwahrheit gesagt hatten, kommen dagegen auf zwei Lügen täglich.

Dabei unterscheiden Psychologinnen und Psychologen grundsätzlich zwischen „weißen“ und „schwarzen Lügen“. Weiße Lügen sind all die kleineren und größeren Schwindeleien, die dazu dienen, dass wir sozial miteinander harmonieren. Zum Beispiel wenn wir der Kollegin sagen, dass wir ihren Vortrag gut fanden, obwohl sie sterbenslangweilig referiert hat. „Hinter jeder Lüge steht ein Konflikt“, sagt Regine Heiland. Die Diplompsychologin arbeitet seit 30 Jahren als Kommunikationstrainerin für das Schulz-von-Thun-Institut in Hamburg. Sie hilft Teams und Führungskräften aus dem Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitsbereich, zu einem ehrlichen Austausch zu finden. Der Weg dorthin führt über die Selbstreflexion.

Lies for love

Hinter dem unehrlichen Feedback an die Kollegin versteckt sich beispielsweise die Frage: Möchte ich die Kollegin in diesem Moment fachlich kritisieren oder emotional aufbauen? Oftmals geben wir in diesem Konflikt dem Wunsch nach einem guten Miteinander Vorrang: „Einer der häufigsten Gründe, warum Menschen lügen, ist, dass sie andere nicht verletzen möchten“, erklärt Heiland unsere Motivation für weiße Lügen, die man deshalb auch lies for love nennt, Lügen aus Liebe.

Als „schwarze Lügen“ gelten dagegen die Unwahrheiten, die Menschen absichtsvoll äußern, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, in der Regel auf Kosten anderer. „Allerdings kommt man mit purem Schwarz-Weiß-Denken nicht weit“, sagt Heiland. Es gebe viele Graustufen zwischen Wahrheit und Lüge: die Über- oder Untertreibung, das Verschweigen von Informationen. Und je nach Blickwinkel kann eine Lüge weiß oder schwarz sein. Es wäre beispielsweise eine weiße Lüge, wenn die Chefin dem Team die bevorstehende Umstrukturierung eine Woche lang verschweigt, vielleicht sogar auf Nachfragen verneint, dass sie Genaueres wisse – weil sie weiß, dass es eine offizielle Ansage dazu geben und eine solche geordnete Kommunikation weniger Unsicherheiten schüren wird. Andererseits hat sie vielleicht auch schon gekündigt und überlässt lieber ihrer Nachfolgerin die unangenehme Neuorganisation.

Einzeln betrachtet mögen manche Unwahrheiten harmlos erscheinen. Doch immer wenn Firmen in große Betrugsskandale verwickelt sind – etwa der VW-Diesel-Skandal oder jener um den Zahlungsdienstleister Wirecard –, zeigt sich, dass hinter dem Desaster ein riesiges Lügengebäude steckt, an dem sehr viele Beschäftigte aller Hierarchie-Ebenen mit großen und kleinen Schwindeleien mitgebaut haben.

Männer lügen häufiger

Doch wovon hängt es ab, ob Menschen im beruflichen Zusammenhang eher verantwortungsbewusst und ehrlich agieren oder aber zu ihrem eigenen Vorteil lügen? Zum einen scheint es tatsächlich ehrlichere und weniger ehrliche Zeitgenossen zu geben. „Es gibt Menschen, bei denen die Persönlichkeitseigenschaft der Ehrlichkeit sehr ausgeprägt ist“, erklärt Psychologe Philipp Gerlach, Professor für allgemeine und Sozialpsychologie an der Hochschule Fresenius in Hamburg. Auch lügen Männer etwas häufiger als Frauen und jüngere Menschen eher als ältere, erklärt Gerlach, der 2019 eine systematische Übersicht zur Lügenforschung publizierte, in der die Daten von 565 Experimenten mit 44000 Teilnehmenden ausgewertet wurden. Damit lieferte er – damals noch in seiner Funktion als Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung – die bisher größte Übersichtsarbeit zu dem Thema. Mittlerweile ergänzt die Persönlichkeitseigenschaft „Ehrlichkeit und Menschlichkeit“ sogar als sechste Dimension die Big Five der Persönlichkeitspsychologie. Die Big Five gelten seit Jahrzehnten als die fünf großen Persönlichkeitszüge, die das Wesen eines Menschen beschreiben.

„Auch das soziale Umfeld und die Lebenssituation spielen eine große Rolle für die Frage, ob man eher ehrlich ist oder eher lügt“, sagt Philipp Gerlach. In Lügenexperimenten sind Probanden beispielsweise eher unehrlich, wenn die Studienleitung vorher erzählt, dass in der vorherigen Gruppe viele Teilnehmer betrogen hätten. „Wenn alle anderen lügen, bin ich selbst auch eher bereit dazu“, erklärt Gerlach das Phänomen. Diese Erkenntnis lässt sich offensichtlich auch auf ­Firmen und ganze Wirtschaftssysteme übertragen, schätzt der Psychologe.

Überraschend dabei: Ob man lügt oder nicht, hat nicht direkt mit der Höhe des persönlichen Gewinns zu tun, den man sich davon verspricht. „Experimente zeigen, dass die Menschen bei bestimmten Spielen nicht häufiger lügen, wenn der Gewinnanreiz größer wird“, sagt Psychologe Gerlach. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Menschen intuitiv davon ausgehen, dass ein höherer Gewinn auch mit einem höheren Risiko einhergeht. „Menschen nutzen kluge Faustregeln für ihre Entscheidungen“, erklärt Gerlach. Eine solche sinnvolle Verallgemeinerung, die sich aus dem Erfahrungswissen speist, ist, dass die Sicherheitsbarrieren mit dem Wert der Dinge steigen: Eine Bank ist besser gegen Diebstahl abgesichert als ein Wohnhaus – die Gefahr, erwischt und bestraft zu werden, viel höher. Deshalb schrecken die allermeisten Menschen davor zurück, eine Bank zu überfallen. Schon weniger Menschen scheuen sich, in ein Haus einzubrechen, um Geld zu stehlen. Und sehr viele werden 100 Euro, die sie auf der Straße finden, einfach einstecken. Dazu kommt laut Gerlach ein weiteres psychologisches Phänomen: „Mit der Zunahme des unehrlich erhaltenen Vorteils wächst auch das schlechte Gewissen.“ Wir gebieten uns also in gewisser Weise selbst Einhalt, unfair oder unlauter zu handeln.

Die psychologische Sicherheit

Im Unternehmen steht die direkte Führungskraft für die Werte der Firma. Insofern beeinflusst sie auch stark, ob die Beschäftigten eher zu Ehrlichkeit oder Schummelei neigen. Das zeigen Untersuchungen zur psychological safety. Die „psychologische Sicherheit“ beschreibt, inwiefern Mitarbeitende einer Firma keine Angst vor negativen Folgen haben müssen, wenn sie ehrlich sind, kritische Dinge ansprechen oder einen Fehler zugeben. In so einem Umfeld können sich Beschäftigte trauen, ihre Arbeit so zu tätigen, wie sie es richtig finden. Sie können in Meetings Zweifel äußern oder zugeben, dass etwas schiefläuft, ohne dass sie beispielsweise vonseiten der Führungskraft mit persönlicher Kritik oder Zweifeln an ihrer Kompetenz rechnen müssen.

Nicht verwunderlich also: Das Ausmaß der psychologischen Sicherheit ist eng verknüpft mit hohem ehrlichem Engagement für die Arbeit. Eine Führungskraft, der es gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Beschäftigten aufzubauen, schafft die Basis für das Gefühl von psychologischer Sicherheit. „Psychologische Sicherheit und positive Führungsbeziehungen stehen in direktem Zusammenhang. Das zeigt, wie wichtig die Rolle der direkten Führungskraft bei der Gestaltung des Arbeitskontextes ist“, folgert Lance Frazier von der Creighton University in den USA in einer Übersichtsarbeit.

Der amerikanische Organisationsberater Ron Carucci zeigte in der Auswertung von über 3000 Interviews mit Beschäftigten aus 210 Organisationen, welche Firmenstrukturen Lügen den Weg bereiten. Er fand vier Faktoren: wenn die Beschäftigten die Beurteilungen durch ihre Chefs als ungerecht empfinden; wenn keine ehrlichen Gespräche mit Vorgesetzten möglich sind; wenn Rivalitäten zwischen verschiedenen Abteilungen herrschen; wenn die Firma sich nach außen ganz anders gibt, als es aus der Innensicht aussieht. Auch hier wird deutlich, dass unser Wille, ehrlich zu sein und für die Wahrheit einzustehen, sehr stark von unserem Umfeld abhängt.

Der Kriminologe und Aggressionsforscher Jens Weidner von der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg hat in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft eine immer größere Akzeptanz der Optimierungslüge beobachtet, aber auch der Tendenz, überzogene Erfolgsgeschichten und eigene Wahrheiten zu kreieren. Das Start-up erzählt schon nach ein paar Wochen am Markt von der grandiosen Erfolgsgeschichte, und in der Bewerbung wird aus dem Praktikum schnell eine Projektleitung. Einen Motor für dieses Phänomen sieht er in der negativen Vorbildfunktion von Machtträgern in Wirtschaft und Politik: „Wenn die Menschen sehen, dass die Mächtigen sich mit haarsträubenden Lügen Vorteile verschaffen, sagen sich viele: Das kann ich auch.“ Die neuen Kommunikationskanäle wie soziale Medien machen es dabei leichter, Unwahrheiten als glaubhaft zu etablieren. „Jede Lüge, die man mehrmals hört, gewinnt an gefühltem Wahrheitsgehalt“, erklärt Weidner. Effiziente Öffentlichkeitsarbeit kann so zum Werkzeug der Lügner werden.

Wie schützt man sich davor, nicht von der Lügerei des Umfeldes angesteckt zu werden? „Sich den eigenen Wertemaßstab immer wieder bewusstzumachen ist wichtig“, sagt Psychologin Regine Heiland.

Teufelchen links, Engelchen rechts

Für die meisten Menschen gehört Ehrlichkeit untrennbar zu ihrem Bild von sich selbst. Daher das schlechte Gewissen, wenn man gegen diesen Wert verstößt. Der Psychologe Dan Ariely von der Duke University in den USA zeigte in einer Studie, was die Menschen von Unehrlichkeit abhält: Wenn die Probandinnen und Probanden vor einem Experiment ihr Selbstkonzept der Ehrlichkeit aktivierten, etwa indem sie die Zehn Gebote aufschrieben, spielten sie ehrlicher. Die Vergleichsgruppe sollte die zehn letzten Bücher nennen, die sie gelesen hatten. Letztere betrogen in dem Maße, das man aus solchen Experimenten kennt. Die Gruppe, die die Zehn Gebote notiert hatte, agierte dagegen überdurchschnittlich ehrlich. Offensichtlich hatte die Reflexion über gesellschaftliche Normen wie „Du sollst nicht stehlen“ davon abgehalten, unehrlich zu handeln. „Es muss kein religiöser Kodex sein, um die Menschen an ihre Werte zu erinnern“, erklärt Lügenforscher Philipp Gerlach. „Auch ein beruflicher Ehrenkodex, das Gelübde der Universität oder das Erinnern von gesellschaftlich wichtigen Werten hat einen solchen Effekt.“

Die zentrale Frage ist laut Heiland: „Kann ich mir selbst im Spiegel ins Gesicht sehen?“ Die Frage ist oftmals gar nicht so leicht zu beantworten, da wir häufig widerstrebende Gedanken und Gefühle erleben. Umgangssprachlich reden wir zum Beispiel vom Teufelchen und vom Engelchen, die einem auf der Schulter sitzen. Das Teufelchen drängt uns, den eigenen Vorteil zu nutzen. Das Engelchen mahnt, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Kommunikationspsychologin Heiland arbeitet mit einem vergleichbaren Konstrukt, dem ­„inneren Team“, das diesen inneren Dialog sichtbar machen soll. „Wenn man im inneren Team guckt, gibt es immer ein Teammitglied, das den eigenen Vorteil attraktiv findet und verführbar ist, zu lügen.

Es gibt aber genauso eines, das die ­Situation eher moralisch bewertet und für das Wohl der Allgemeinheit plädiert“, erklärt sie. „Und es gibt eines, das sich anpassen möchte. Dieses ist empfänglich für das Umfeld, das Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit als Standard vorgibt.“ Sehr sichtbar war diese vielfältige innere Abstimmung, die zu einem konkreten Verhalten führte, bei den Coronasoforthilfen für Selbständige. Manche beantragten sofort alle Hilfen – ungeachtet dessen, ob sie wirklich in existenzieller Not waren. Andere überlegten tagelang, ob ihre Lage den Antrag rechtfertige. Einige gaben das Geld sogar einige Wochen später wieder zurück.

Der Unternehmer und Organisationsberater Martin Permantier unterstützt Führungskräfte dabei, eine reifere innere Haltung zu entwickeln – und damit immuner gegen die Verführung zur Unehrlichkeit zu werden. „Mit sich selbst ehrlich zu sein fällt vielen Führungskräften gar nicht so leicht“, stellt Permantier fest, der das Buch Haltung entscheidet veröffentlicht hat. Der Grund: Sie sind zu sehr auf ihre Leistungsziele fixiert, hegen eine Art Kampfmodus. „Eine reife Haltung dagegen bedeutet eine gewisse innere Gelassenheit, auch in fordernden Situationen. Sie ermöglicht, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und schwierige Gefühle wie Unsicherheit oder eine Niederlage auszuhalten“, erklärt der Organisationsberater. „Menschen, die eine gewisse Reife haben, müssen solche vermeintlichen Schwächen nicht mit Lügen oder Tricksereien kaschieren.“ Sie können ehrlich dazu stehen. Letztlich gilt dies für Führungskräfte genauso wie für Mitarbeitende, ist Permantier überzeugt. Damit wäre die persönliche Entwicklung der Weg zu mehr Ehrlichkeit im Beruf.

Warum lügen wir?

Soziale Wesen flunkern Die Fähigkeit zu lügen ist den komplexen Kommunikationsfähigkeiten des Menschen zuzuschreiben. Das ausgeprägte Sozialleben der Menschen gilt als Grund für die enorme Hirn- und Sprachentwicklung und die Bildung der Empathie. Und es war auch Motor für die Entwicklung der Fähigkeit, über die Vergangenheit nachzudenken und in Gedanken Zukunftsszenarien zu entwickeln. Die Gabe, in alternativen Wirklichkeiten zu denken und dabei im Blick zu haben, was die anderen wissen können, macht Lügen erst möglich. Auch Menschenaffen sind in der Lage zu lügen, zum Beispiel indem sie ihre Artgenossen willentlich auf falsche Fährten locken, um eine gute Nahrungsquelle für sich allein zu haben.

Die Wahrheit ist anstrengend Lüge und Wahrheit scheinen – zumindest im Gehirn – näher beieinanderzuliegen, als man denken würde. Wenn wir einem von beiden den Vortritt geben, ist dies in der Regel das Ergebnis eines Prozesses der Abwägung. Wirtschaftspsychologen fanden heraus, dass Menschen für eine ehrliche Antwort länger brauchen als für eine Lüge. Ehrlichkeit benötigt offensichtlich Zeit.

Unwahre Post

E-Mails machen das Schwindeln leichter und wahrscheinlicher als eine reale Begegnung.

Wir fallen darauf rein

Oftmals lügen wir, um das Sozialleben zu verbessern, oder auch, um unsere Mitmenschen zu schützen. Vielleicht entspringt dies dem, dass Menschen keine besonders guten Fähigkeiten ausgebildet haben, Lügen zu erkennen. In Experimenten liegt die Rate nicht über 50 Prozent – sie entspricht also dem Zufall. Ausgebildete Profis erkennen es etwas häufiger, wenn jemand die Unwahrheit sagt.

Quellen

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YouGov Deutschland, Lügen im Job. Glassdoor Inc., Kalifornien 2020

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2021: Sich von Schuldgefühlen befreien