„Das kann ich gut verstehen!“

Psychotherapeut Andreas Knuf erklärt, warum das oft nicht stimmt. Und wie wir uns selbst genauer kennenlernen – um andere besser zu begreifen.

Wer sich selbst kennt, wer weiß, was ihn ärgert oder ängstigt, der kann auch andere besser verstehen. © Lana Isabella // Getty Images

Herr Knuf, Sie sagen, dass man sich als Therapeutin oder Therapeut selbst kennen muss, um andere zu verstehen. Was heißt das für Sie: sich selbst kennen?

Sich selbst kennen bedeutet, seine Besonderheiten, seine Charakterstruktur, die eigenen typischen emotionalen Reaktionen, die typischen eingefahrenen Reaktionsmuster zu kennen. Aber auch heikle Dinge über sich zu wissen: Was macht mich schnell ärgerlich, wo springt bei mir der Autopilot an, so dass ich automatisiert in eine Handlung hineingehe? Von diesen Aspekten gibt es natürlich eine ganze Menge.

Sie sagen: 80 Prozent von dem, was eine Patientin oder ein Patient mir erzählen, kann ich nachvollziehen, 20 Prozent nicht. Was ist für Sie schwer nachvollziehbar?

Ein Bereich sind schwere psychische Erkrankungen. Bei denen ist es nicht so leicht, auf eigene ähnliche Erfahrungen zurückzugreifen. In einer Psychose eine Stimme zu hören ist zum Beispiel etwas anderes als ein sich aufdrängender Gedanke. Solche Dinge kann ich nicht aus eigenem Erleben nachfühlen, und es ist gut, das auch zu kommunizieren, also zu sagen: „Das kann ich mir gerade überhaupt nicht vorstellen, vielleicht erzählen Sie mir noch ein bisschen mehr darüber.“ Und nicht zu sagen: „Das kann ich gut verstehen.“

Ein anderer heikler Bereich ist, wenn Wertvorstellungen sehr unterschiedlich sind. Wenn ich als Behandler komplett andere Werte habe als der Klient, ist das eine Herausforderung. Ich kann ja nicht mit Verachtung auf das reagieren, was dem Patienten etwas bedeutet. Und es bringt auch nichts, wenn ich mir auf die Zunge beiße, nichts sage, mich aber innerlich aufrege – denn ich brauche ja eine emphatische Grundhaltung dem Klienten gegenüber.

Können Sie mir ein Beispiel dafür geben, wie solch eine Wertekollision zwischen Behandler und Patientin oder Patient aussehen kann?

Wenn ich zum Beispiel einen Klienten hätte, dem es sehr wichtig ist, in kürzester Zeit sehr viel Geld zu verdienen. Und dieses Geld dann in regelmäßigen Urlauben in Dubai wieder auszugeben. Ich bin jemand, dem Geld nicht so wichtig ist, der ein gewisses Ökobewusstsein hat und der denkt: Einmal kann man ja vielleicht nach Dubai fliegen. Aber doch nicht drei Mal im Jahr?

Wie gehen Sie mit einem solchen Konflikt um?

Auf der einen Seite muss ich mich in den Kosmos des Patienten hineinbegeben, um aus diesem Kosmos heraus sein Verhalten besser verstehen zu können. Es kann zum Beispiel sein, dass er einen emotionalen Mangel in der Kindheit erlebt hat: Materiell war immer alles da, die Eltern waren beide erfolgreich im Beruf, aber der Patient war früh ein Schlüsselkind. Und dieser emotionale Mangel manifestiert sich heute in seinem starken Verlangen nach materiellen Dingen. Wenn ich diese Brücke schlagen kann, ist es leichter für mich. Denn wenn ich eine Diskussion darüber mit ihm führe, wie oft man im Jahr nach Dubai fliegen sollte, dann wird es schwierig, dann sind wir nicht mehr bei dem, was meine Aufgabe ist.

Auf der anderen Seite muss ich meine eigene Reaktion verstehen: Ich bin zwar Verhaltenstherapeut, aber ich habe für mich selber auch 250 Stunden Psychoanalyse absolviert. Dennoch darf man sich das nicht so vorstellen, als hätte ich einmal alles bearbeitet, mich einmal richtig kennengelernt und wäre mir jetzt permanent über alles bewusst. Der größere Teil der Arbeit findet in der Gegenwart statt. Und das heißt, dass ich erst einmal wahrnehme: Ich bin gereizt. Und dieses Gefühl kann ich dann erforschen. Warum bin ich gereizt? Widersprechen diese Dubai-Urlaube meinen Werten? Oder bin ich vielleicht nur neidisch und möchte eigentlich selbst mal dorthin fliegen? Ich sollte mich genau beobachten, ehrlich hingucken. Das nennt man in der Achtsamkeitsarbeit inquiry, innere Selbsterforschung.

Ist das nicht auch die Aufgabe einer Supervisorin oder eines Supervisors, die einen auf die eigenen Widersprüche hinweisen?

Früher habe ich immer gedacht: Der Supervisor kann alles sehen und durchschauen. Aber jetzt arbeite ich selbst als Supervisor und merke: Es stimmt einfach nicht, er sieht nicht alles. Wenn der Klient zum Beispiel blinde Flecken hat, bestimmte Themen, die für ihn nicht wahrnehmbar sind, dann sind sie in der Folge auch nicht kommunizierbar. Also wenn jemand beispielsweise die Emotion Angst nicht wahrnimmt, sie verdrängt, dann kann er auch nicht sagen: „Ich habe Angst.“ Dann kann es sein, dass ein Supervisor bestimmte Hinweise dafür hat, dass bei dem anderen ein Angstgefühl dahinter stecken könnte. Es kann aber auch sein, dass überhaupt nichts nach außen dringt. Ich bin da inzwischen deutlich bescheidener geworden und kommuniziere das auch. Ich sage: Das müssen wir hier zusammen machen. Es ist nicht so, dass jetzt einer mit einer Brille in Sie hineinguckt und alles sieht.

Um meine eigenen Reaktionen zu verstehen, kann ich also jemanden zu Rate ziehen, der mir hilft. Aber recht viel kann ich auch selbst entschlüsseln.

Sie haben gesagt: Man muss sich sehr genau beobachten. Das hieße aber doch auch, dass man ein sehr feines Sensorium für die eigenen Gefühlsdifferenzen entwickeln muss. Dass es nicht reicht zu sagen: Ich bin ärgerlich. Oder: Ich bin traurig. Sondern dass man eine sehr präzise Gefühlspalette benötigt, um seine eigenen Gefühle zu beschreiben, oder?

Ja, das ist genau der Punkt – und die Herausforderung. Wenn ein Gefühl eine gewisse Intensität erreicht hat, ist es für jeden möglich, es zu fühlen. Da ist der Ärger einfach da, man ist sauer. Dann ist es aber oft schon zu spät, dann muss ich sehr viel arbeiten, um wieder davon wegzukommen.

Ich muss ein feines Sensorium dafür entwickeln, wann die emotionale Welle anflutet. Gerade am Anfang ist es schwierig, Gefühle leichter oder milderer Ausprägung zu fassen. Wir merken eine Unruhe oder eine leichte Gereiztheit. Diese muss man wahrnehmen und in sich hineinspüren und sich fragen: Was ist das genau? Ein Beispiel: Ich gucke in den Terminkalender und sehe: Um 11 Uhr habe ich den Termin mit Frau Müller – und irgendwie will ich nicht. Ich merke: Wenn Frau Müller jetzt kurzfristig absagen würde, wäre ich noch nicht mal traurig, sondern erleichtert. Das könnte so ein Ausgangspunkt sein: Was ist da los? Warum will ich den Termin nicht?

Früher gab es die Idee, dass man diese Themen einmal in einer Lehranalyse anschaut und dann sind sie weg oder alle bewußtgemacht. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Die Herausforderung ist, im gegenwärtigen Moment achtsam präsent zu sein, innerlich durchlässig zu sein, die Empfindungen wahrzunehmen, sie zu ergründen und besser zu verstehen.

Dafür müsste ich mir als Laie, der das nicht beruflich macht, aber vermutlich immer wieder am Tag Zeitfenster freihalten?

Genau, das wäre für die Psychohygiene das Wünschenswerteste, ist aber natürlich oft nicht umsetzbar. Ganz oft kriegen wir es nicht hin. Und dann haben wir abends den Gefühlssalat.

Kann ich den denn auch abends entwirren?

Das ist so eine Sache. Das hängt davon ab, wie stark die Emotionalität am Abend ist. Wenn es zu viel ist, spüren wir nur noch Druck, Anspannung und Unzufriedenheit, irgendetwas ist da, was sich hochgradig aversiv anfühlt. Und dann die innere Wachheit aufzubringen und zu sagen: Nein, ich mache jetzt nicht die Weinflasche auf, sondern ich koche mir einen Tee, setze mich hin, mache die Augen zu oder praktiziere eine Körperübung und nehme wahr, was da ist – das muss man erstmal hinkriegen. Die Herausforderung ist einfach sehr hoch.

Das ist auch für Psychotherapeuten nicht einfach, schauen Sie auf die hohe Suizidrate bei Psychiaterinnen und Psychiatern oder die hohe Burnout-Quote von Therapeutinnen und Therapeuten. Von mir würde ich sagen: Meistens bekomme ich das gut hin. Aber ich achte auch im Arbeitsalltag sehr darauf.

Sie hatten vorher die blinden Flecken erwähnt, die man in Bezug auf sich selbst hat. Die heißen ja leider so, weil man nicht weiß, was man nicht weiß. Können mir im Alltag Freunde dabei helfen, diese blinden Flecken aufzudecken?

Ja, wenn sie in der Lage sind, ehrlich zu sein, und mich aus einem Wohlwollen, einem Mitgefühl heraus darauf aufmerksam machen. Wenn das Mitgefühl fehlt, dann kann ich es nicht annehmen, dann wehre ich ab. Oft ist es aber auch so, dass sich Freunde sehr zurückhalten, weil sie mich nicht verletzen wollen. Daher ist das ein heikles Thema mit den blinden Flecken. Ich habe mir auch immer einen einzelnen Fleck auf einem Teppich vorgestellt. Aber in Wirklichkeit ist es eher umgekehrt: Es ist ein blinder Teppich mit einzelnen sichtbaren Stellen.

Ich glaube aber, dass man manches selber aufspüren kann und anderem mit therapeutischer Unterstützung auf die Spur kommt. Ich habe zum Beispiel Klienten, denen gibt man einen kleinen Impuls und damit können die so viel selber machen. Man stößt etwas an und der Patient bleibt 14 Tage dran, ergründet, warum er zum Beispiel immer so reagiert, wenn die Mutter dieses oder jenes sagt. Und dann kommt er in die nächste Therapiestunde und sagt: Ich hab da etwas besser kapiert. Aber das hat nicht der Therapeut gemacht, der hat es nur angestoßen. Das hat der Klient selbst gemacht.

Wir haben darüber gesprochen, dass es Dinge gibt, die man beim anderen nicht nachvollziehen kann, weil man sie selbst nicht kennt. Ist aber nicht das viel größere Problem, dass man meint, etwas zu kennen – der andere aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes erlebt?

Ich habe zwanzig Jahre im sozialpsychiatrischen Bereich gearbeitet, und dort wird mittlerweile mit der Unterstützung von Peers gearbeitet. Peers sind Betroffene, die zum Beispiel selbst eine Borderline-Störung haben. Sie erhalten eine Ausbildung und arbeiten dann in Institutionen mit. Deren Qualität ist ja gerade die eigene Erfahrung. Aber die lernen, ihre Erlebnisse zu reflektieren und zu abstrahieren. Sie können die eigene Erfahrung erkunden und wissen gleichzeitig: Beim anderen kann es etwas ganz anderes sein. Das ist die Qualität, die man braucht, glaube ich.

Im Alltag passiert sonst Folgendes: Zwei Menschen reden miteinander. Der eine hört drei Schlagworte, die bei ihm andocken, und dann geht es los: Ja, das kenn ich! Und dann wird die eigene Geschichte ausgebreitet. Und wenn beide genau hinspüren, würden sie sagen: Das ist nicht das Gleiche. Das ist ganz anders.

Hindert der Impuls, dem anderen helfen zu wollen, daran, ihn besser zu verstehen?

Ja, ich erlebe das oft in der Supervision. Der Impuls, anderen helfen zu wollen, führt vorschnell in eine Handlung, man gibt einen Rat. Dahinter steht meist die Frage: Was kann ich tun, damit deine Empfindung schnell wieder weggeht? Dadurch wird eine wichtige Phase übersprungen, nämlich der Emotion Raum zu geben. Das unterscheidet professionelle Arbeit, wenn sie gut läuft, von Alltagsbegegnungen. Dass der Profi die Fähigkeit haben sollte, dem, was da ist, erstmal Raum zu geben, und den Empfindungen, die damit verbunden sind. Und eben nicht vorschnell in eine Handlung geht.

Das heißt, auch ich als Laie sollte lieber einmal tief ein- und ausatmen, statt einem Freund gleich einen guten Rat zu geben?

Genau. Gefühle sind hochgradig ansteckend. Wenn ein Freund mir von einem schmerzhaften Gefühl berichtet, dann empfinde ich das auch. Und damit diese unangenehme Emotion schnell verschwindet, gebe ich einen guten Ratschlag, habe ich einen Tipp. Selbst bei etwas so Tiefgehenden wie Trauer haben andere Menschen eine gute Idee, von der sie glauben, dass sie ehrlich hilfreich ist. Weil sie so positiv ist. So lösungsorientiert. Aber jeder, der selbst schon mal in solch einer Situation war, weiß genau: Das kann ich nun wirklich nicht brauchen.

Andreas Knuf ist Psychologischer Psychotherapeut mit Praxis in Konstanz und Autor. Sein jüngstes Buch Umgang mit Gefühlen in der psychiatrischen Arbeit ist 2020 im Psychiatrie Verlag erschienen

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