Gut möglich, dass ich sein letztes Opfer an diesem Tag bin. Ich stehe am Straßenrand in Dubai und fotografiere einen Wolkenkratzer, in dessen Fassade sich die untergehende Sonne bricht. Das sieht wunderschön aus. Er hält an, lässt das Fenster herunter und fragt nach dem Weg zum Flughafen. Es sei dringend, sein Flug gehe in zwei Stunden. Die Frage ist leicht zu beantworten, also helfe ich gerne.
Eine Viertelstunde später stehen wir an einem Geldautomaten. Ich mit meiner Kreditkarte in der Hand und enger…
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Eine Viertelstunde später stehen wir an einem Geldautomaten. Ich mit meiner Kreditkarte in der Hand und enger Kehle, er dicht neben mir, lächelnd, wartend. Gleich würde ich 1000 Dirham, umgerechnet rund 250 Euro, und mein Selbstwertgefühl verlieren, im Tausch für eine gute Geschichte und zwei Anzüge. Ich stehe freiwillig dort, war freiwillig in sein Auto gestiegen, hatte freiwillig mit ihm geplaudert. Der Mann ist ein guter Betrüger.
Unsere Hilfsbereitschaft als Zielscheibe
Eigentlich ist Betrug eine klare Sache. Eine Person täuscht eine andere, so dass diese freiwillig Eigentum oder Wertgegenstände hergibt, meistens Geld. Tatsächlich folgt Betrug einem raffinierten Drehbuch, in dem psychologische Mechanismen, soziale Normen, gezielte Kommunikation und gekonntes Timing zu einer Inszenierung werden, der wir uns im falschen Moment schlecht oder mitunter gar nicht erwehren können.
Die Frage nach dem Weg zum Flughafen ist der erste Trick. Da der Mann auch noch akute Zeitnot zu haben scheint, helfe ich natürlich. „Dieses erste Ja legt das Fundament für den Betrug“, sagt Helga Ihm. Die forensische Psychologin arbeitet seit 22 Jahren therapeutisch mit Betrügerinnen und Betrügern im Vollzug. Menschen, die wieder und wieder andere aufs Kreuz gelegt haben, selbst im Gefängnisalltag. Das erste Ja sei dabei ein so einfacher wie effektiver Kniff. „Tun wir einem Menschen einen Gefallen, kennen und mögen wir ihn meist. Bittet uns ein fremder Mensch um einen Gefallen, muss er uns entweder in unserer Hilfsbereitschaft ansprechen oder nach Ähnlichkeiten schauen, um Sympathie entstehen zu lassen“, erklärt die Kriminalpsychologin. Einem sympathischen Menschen, selbst wenn wir ihn erst seit Sekunden kennen, tun wir eher einen Gefallen.
Kompliment für den Fleck am Hemd
Anstatt eilig zum Flughafen zu fahren, verwickelt mich der Mann in ein Gespräch. Sein Englisch hat das, was ich für einen italienischen Akzent halte. Er heiße Pino und komme aus Mailand. „Waren Sie schon mal in Mailand?“, fragt er. War ich nicht, doch ich erwähne knapp einen Urlaub in den Cinque Terre. „Von dort kommt meine Familie!“, sagt Pino. Er strahlt vor Freude. Nicht nur sein Lächeln, nicht nur seine Augen strahlen, sondern alles an ihm. Die ausladende Gestik, das bunte Einstecktuch an seinem Sakko, die glänzende Schnalle seines Gucci-Gürtels. Da passt es ins Bild, dass Pino sich als Modedesigner vorstellt. Er reicht mir eine Visitenkarte durchs Autofenster. Auf der Rückseite prangt der Adler der Luxusmarke Armani.
„Sie sind ein netter junger Mann, kommen Sie mich doch mal besuchen“, sagt er und macht mir ein Kompliment für mein Hemd. Ich gebe nichts auf Mode, würde ich gerne sagen, doch in meinem Kopf springt ein Film an: Italien, die Sonne, ein Sitz am Laufsteg, ein Schluck Negroni, ein bisschen Luxus.
Die Psychologin Helga Ihm bremst: „Selbst mit einem großen Fleck auf Ihrem Hemd hätte er Ihnen ein Kompliment gemacht.“ Das Geplauder, die Visitenkarte, die Einladung, die Kaskade an Assoziationen in meinem Kopf sollen mich empfänglich machen für das, was folgt. Helga Ihm nennt das die vertrauensbildende Phase eines Betrugsversuchs.
Vertrauen ist ein Dilemma. Woher wissen wir, dass die Frau im weißen Kittel wirklich eine Chirurgin, der Partner treu und die Schokolade nicht vergiftet ist? Wir können es nicht wissen. In Zweifel und Angst zu leben ist wiederum auch keine Option. Es würde das Leben vermiesen, gar unmöglich machen. Ohne Vertrauen käme der Mensch am Morgen nicht aus dem Bett, er wäre schlichtweg handlungsunfähig in Anbetracht der Komplexität der Welt vor seiner Tür.
Misstrauen zeigen oder Geld verlieren?
Detlef Fetchenhauer forscht als Sozialpsychologe an der Universität zu Köln. Er unterscheidet drei Ebenen von Vertrauen. Erstens die Verhaltensebene: Ich leihe einem Freund Geld. Zweitens die kognitive Ebene: Ich erwarte, dass er die Schulden begleicht. Drittens die emotionale Ebene: Ich fühle mich gut, weil ich einem Freund helfe. „Allerdings helfen wir anderen Menschen auch dann, wenn wir ihnen eigentlich nicht vertrauen“, sagt Fetchenhauer.
Er und Forschende in anderen Ländern haben dies mehrfach im sogenannten Vertrauensspiel nachgewiesen. Eine Person erhielt 5 Euro. Gab sie diese an eine zweite weiter, wurde der Betrag auf 20 Euro vervierfacht. Diese zweite Versuchsperson teilte das Geld dann deutlich häufiger und fairer auf, als die erste erwartet hatte. „Wir haben festgestellt, dass Menschen die Vertrauenswürdigkeit ihrer Mitmenschen unterschätzen“, sagt Fetchenhauer.
Selbst wenn die erste Versuchsperson gegenüber der zweiten auf der kognitiven Ebene übermäßig misstrauisch gewesen wäre, hätte sie wohl die 5 Euro abgegeben. „Offen Misstrauen zu signalisieren scheint auf der emotionalen Ebene schlimmer zu sein, als Geld zu verlieren. Wir wollen offenbar keine Egoisten sein und damit soziale Normen brechen“, sagt Fetchenhauer. „Das gilt umso mehr, wenn ein Mitmensch in einer Notlage ist.“
„Heute ist Ihr Glückstag!“, ruft er
Am Straßenrand in Dubai macht Pino ein Angebot: Als Vertreter von Armani habe er gerade an der Dubai Fashion Week teilgenommen. Zwei Anzüge seien übriggeblieben, jeweils 2000 Euro wert. Die mit nach Italien zurückzunehmen würde ohnehin zu hohe Kosten verursachen. Weil ich ihm so sympathisch sei, wolle er sie mir schenken. „Heute ist Ihr Glückstag!“, ruft Pino. Noch bevor meine Alarmglocken laut läuten können, springt er aus dem Auto und hält mir die zwei Anzüge entgegen. Eine Preisliste soll ihren Wert beweisen.
Die Anzugjacken sehen billig aus und passen schlecht. Aber gut, 4000 Euro geschenkt, wer sagt da nein. „Das ist 100 Prozent Merinowolle“, ruft Pino. Er fasst mich sacht an Schultern und Armen an – der Standardtrick unter Kellnern und Kellnerinnen, in der Forschung auch als die Midas-Berührung bekannt. Wer den Gast leicht berührt, etwa am Arm, erntet Sympathien und messbar mehr Trinkgeld.
Er wolle mich allerdings um einen Gefallen bitte, sagt Pino. Sein kleiner Sohn habe am nächsten Tag Geburtstag und er wolle ihm am Flughafen noch eine Spielekonsole kaufen. Seine Kreditkarte sei allerdings überzogen „Können Sie mir vielleicht etwas Bargeld abheben gehen?“, fragt er. Umgerechnet 200 bis 300 Euro. Hätte Pino im Vorbeifahren das Fenster heruntergelassen und nach 300 Euro gefragt, hätte ich ihn wohl schlicht ignoriert. Doch nun, mit einem seiner Luxussakkos an meinem Körper, sitze ich fest.
Wie du mir, so ich dir
Das Prinzip der Reziprozität – der Gegenseitigkeit – wurde bekannt durch Robert Cialdini, inzwischen emeritierter Sozialpsychologe an der Arizona State University. Für sein Buch Influence. The Psychology of Persuasion (zu Deutsch: Die Psychologie des Überzeugens) untersuchte er Anfang der 1980er Jahre die Tricks der Verkäuferinnen und Verkäufer in Autohäusern, im Telemarketing oder wohltätigen Organisationen. Seine „Sechs Prinzipien der Überzeugung“ gelten seit Jahrzehnten als Standardwissen für alle, die anderen legal oder illegal Geld aus der Tasche ziehen möchten.
„Reziprozität ist ganz natürlich. Ich helfe dir, du hilfst mir“, sagt Helga Ihm. „Doch Betrüger und Betrügerinnen bauen daraus eine Falle. Wer gut sozialisiert ist, tappt mit hoher Wahrscheinlichkeit hinein.“ Typisch sei auch, dass der Betrüger in diesem Fall nicht 300 Euro für Schnaps, sondern für ein Geschenk für den kleinen Sohn erbittet. Plötzlich bin ich in der Verantwortung, ein Kind glücklich zu machen. Der Betrug ist offensichtlich, doch ich kann mich nicht mehr wehren.
Hören wir von einem erfolgreichen Betrug, erklären wir uns das meist so, dass Täter oder Täterin schlau und manipulativ, das Opfer hingegen naiv und hilflos gewesen sein muss. Doch die Erklärung liegt im Prozess, der zwischen den beiden stattfindet. Christian Thiel, Soziologe an der Internationalen Hochschule Augsburg spricht von drei Bausteinen, die erfolgreiche Betrüger wie in einem Setzkasten immer wieder neu aneinanderreihen: Angebot, Inszenierung, Forderung.
Entscheide dich jetzt, sonst verpasst du es
Das Angebot ist klar: vermeintliche Luxusklamotten. Die Inszenierung: ein Mann, der meinem Stereotyp eines Modedesigners entspricht. Der mich teilhaben lässt an seiner Welt. Der sich auf Beweisstücke wie eine Visitenkarte, Preisliste oder die angebliche Fashion Week stützt. Innerhalb von Minuten könne so aus einer dubiosen eine plausible Geschichte werden, so Thiel. „Das Gleiche gilt für einen angeblichen Schwerkranken, Bettler oder eine falsche Ärztin und Polizistin. Der Ort, die Kleidung, ausgewählte Gegenstände sind wesentlich, um eine Lüge glaubhaft zu machen.“ Und schließlich die Forderung: Entscheide dich jetzt, sonst verpasst du die Gelegenheit. „Je schwächer die Täuschung, desto mehr Druck muss der Betrüger aufbauen. Mit einer Behauptung wie der, einen Flug erreichen zu müssen, wirkt der Druck außerdem legitim“, sagt Thiel.
Pino lässt mir keinen Moment zum Durchatmen, keinen Moment, in dem ich nach den Angaben auf seiner Visitenkarte googeln könnte. Er macht ein Angebot: „Wir fahren zwei Minuten um den Block. Wenn wir keine Bank finden, schenke ich Ihnen die Anzüge.“ Natürlich weiß er, dass die nächste Bank keine 200 Meter entfernt ist. Und so stehe ich vor dem Geldautomaten, ziehe die Kreditkarte aus meinem Portemonnaie, er steht dicht neben mir. Die Anzüge habe ich in seinem Auto liegengelassen. Meine Wangen werden heiß, meine Kehle ganz eng.
„Es muss einen Triggerpunkt gegeben haben, ein Schlupfloch für Sie in der Inszenierung des Betrügers“, sagt Helga Ihm. Einen Fakt, der die Lüge bröckeln ließ. Ich denke, ich weiß, welcher es war. Auf der Innenseite einer der Anzugjacken war ein kleines Schild eingenäht, darauf stand auf Deutsch: 100% Schurwolle. Ich habe es in dem Moment gelesen, in dem Pino über die hohe Qualität der Merinowolle sprach. Eine kleine Ungereimtheit, die wohl ausgereicht hat.
Würde ich davon erzählen, wenn ich dem Betrüger wirklich Geld gegeben hätte? Wohl kaum. Auch so wurde ich gefragt, wie ich so blöd sein konnte, überhaupt auf die Masche einzusteigen.
Sorge um Angehörige, Angst, Mitleid, Gier
„Bei Betrug gibt es eine Tendenz, den Opfern die Schuld zu geben“, sagt Christian Thiel. Als Leiter des DFG-Projekts „Zur Herstellung von Täuschung und Vertrauen beim Betrug“ hat der Soziologe sowohl Betrügerinnen und Betrüger als auch Betrugsopfer und Polizistinnen und Polizisten interviewt. „Gerade ältere Menschen schämen sich, auf Betrüger hereinzufallen. Sie haben Angst vor Schuldzuweisungen, Angst davor, ins Altenheim zu kommen. Das kann dazu führen, dass sie den Betrug verschweigen“, sagt Thiel. Aus Schweigen werden dann Selbstisolation und Einsamkeit.
Betrug kann jeden treffen. Vor zwei Jahren wäre ein bekannter Kriminologe beinahe auf einen sogenannten Schockanruf hereingefallen. Die Anrufer gaben sich als Polizisten aus und forderten ihn auf, 55000 Euro Kaution bereitzustellen, damit seine Tochter nicht in Haft müsse. Sie habe ein Kind totgefahren. Der Anruf brach ab, der Kriminologe rief die echte Polizei an, der Betrugsversuch war gescheitert. Betrügerinnen und Betrüger nutzen unsere tiefsten Emotionen aus: die Sorge um Angehörige; das Bedürfnis nach Liebe: Angst; Mitleid; Gier. Am Telefon, im Internet oder auf offener Straße.
„Aus der Erfahrung, betrogen worden zu sein, sollte man aber kein generelles Misstrauen entwickeln“, sagt Detlef Fetchenhauer. „Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl, ob es sich um einen Betrug handeln könnte oder nicht. Versuchen Sie, aus der Drucksituation herauszutreten, und fragen Sie sich: Was hiervon würde ich einem Freund erzählen?“
Ich stecke die Kreditkarte zurück ins Portemonnaie. Und sage Pino, dass es mir für seinen Sohn leidtue, ich ihm aber nicht helfen könne. Sein siegessicheres Lächeln vergeht. Er redet auf mich ein, doch ich weiß nicht mehr, was ich noch sagen soll. Irgendwann fordert er seine Visitenkarte zurück und geht. Ich setze mich und verschicke Sprachnachrichten an meine Familie. Erst als ich mich selbst die Geschichte erzählen höre, bin ich ganz sicher, dass ich hier das Opfer bin, nicht der Schuldige. Das Opfer eines in Dubai recht prominenten Betrügers sogar, des Italian Suit Guy. Ich kann darüber schmunzeln.
Quellen
April H. Crusco, Christopher G. Wetzel: The Midas Touch: The effects of interpersonal touch on restaurant tipping. Personality and Social Psychology Bulletin, 10(4), 1984, 512–517
Annett Schirmer u.a.: The Midas effect: How somatosensory impressions shape affect and other-concern. In: Håkan Olausson u.a. (Hg.): Affective touch and the neurophysiology of CT afferents. Springer Science + Business Media, 2016, 283-299
David Dunning, Detlef Fetchenhauer: Understanding the psychology of trust. In: David Dunning (Hg.): Social motivation Psychology Press, 2011, 147-169
Robert B. Cialdini: Influence: The Psychology of Persuasion. William Morrow 1984