Über die Widersprüche des Helfens

Gibt es etwas Selbstloseres, als Bedürftigen zu helfen? Theresa Pleitner lernt schmerzhaft die übergriffige Seite der Hilfsbereitschaft kennen.

Die Autorin Theresa Pleitner steht ruhig auf einem belebten Fußgängerweg
Theresa Pleitner arbeitet als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete und ist Autorin des Buchs "Über den Fluss". © Bastian Thiery für Psychologie Heute

"Darling, don’t play my mama“, sagt sie. Spiel dich hier nicht als meine Mutter auf. Ich starre auf ihren zinnoberroten Mund, als würde ich versuchen, von ihren Lippen zu lesen, als wäre ihre Sprache mir unvertraut und die Botschaft ihrer Worte nicht eindeutig. Aus dieser Nähe sehe ich das Spiel der Falten unter dem Make-up, die markanten, von Rouge weichgezeichneten Wangen. „Bitte geh, Darling. Siehst du nicht, dass ich arbeite?“

Ich bemerke, wie das Tablett, das ich ihr hatte vorbeibringen wollen, in…

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Siehst du nicht, dass ich arbeite?“

Ich bemerke, wie das Tablett, das ich ihr hatte vorbeibringen wollen, in meinen Händen zittert, und mein Blick wandert hinab zu den mit Meeresfrüchten und Pasteten belegten Häppchen, die darauf angerichtet sind, mit Tafeltrauben und kleinen holländischen Fähnchen garniert. Mir ist heiß, die Scham spricht aus meinem Gesicht, bevor ich etwas zu erwidern weiß.

Die Frau fasst den Knauf, schließt das bodentiefe Fenster vor mir, ihr Körper wird wieder eingefasst vom violetten Schein des Zimmers, in dem sie sich den Vorbeigehenden präsentiert, die im frühen Abendlicht einsam, mit suchenden Blicken den Voorburgwal entlangschreiten. Bevor ich mich endlich abwende, sehe ich mein Spiegelbild in der Scheibe, die uns nun trennt, ich erblicke mein von der Kränkung gerötetes Gesicht.

Im Schneidersitz die Joints drehen

13 Jahre ist das nun her. Die Demütigung saß tief, und die Erinnerung daran verfolgte mich über all die Jahre. So wurde die Episode bei mir zur Urszene eines Nachdenkens über all die Widersprüche, die mit dem Helfen und der Hilfsbereitschaft einhergehen, über das – bei aller Notwendigkeit und allem guten Willen – Übergriffige, das dem Helfen eben auch eigen ist. Damals schien mir die Kränkung, die mir widerfuhr, unverständlich und unfair. Ich sah harmlose Häppchen in meinen Händen, ich hatte nett sein wollen zu der Frau, die ihrer Sexarbeit nachging. Ich sah nicht das Herabwürdigende in dieser Geste, das die Herabwürdigung ihrerseits wohl erst hervorgerufen hatte.

Ich war damals 18 Jahre alt. Ich absolvierte mein freiwilliges soziales Jahr in Amsterdam in der Obdachlosenhilfe. Die Häppchen auf dem Tablett waren übriggeblieben von einer Ausstellungseröffnung in jener Suppenküche im Rotlichtviertel, in der ich damals arbeitete. Die Obdachlosen, die sich im Schneidersitz ihre Joints drehten, während der Bürgermeister eine Rede hielt, hatten gierig nach ihnen gegriffen und mehrlagige Sandwiches aus ihnen gebaut. Mir leuchtete einfach nicht ein, warum jene Sexarbeiterin, der ich die verbliebenen Häppchen anbot, sich nicht genauso über sie freute, sondern mich zurückwies und demütigend als „Darling“ bezeichnete.

Nun, wenn ich auf die Szene zurückblicke und die Notizbücher aufschlage, die ich während dieser Zeit verfasst habe, empfinde ich Unbehagen. Ich verspüre den Impuls, in der dritten Person über diese sehr junge Frau zu reden, mich abzugrenzen von meinem damaligen Ich, dieser naiven Helferin, die ihr Tun nicht hinterfragte.

"In Unschuld liegt das Verbrechen"

Mir kommen die Worte des Schriftstellers James Baldwin in den Sinn, die ich in seinem Buch Nach der Flut das Feuer gelesen habe: „In der Unschuld liegt das Verbrechen.“ Diesen Satz schrieb er zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den USA und versuchte damit auf die Ignoranz von weißen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber der Schwarzen Bevölkerung aufmerksam zu machen, eine Ignoranz mit brutalen Folgen.

Natürlich ist dieser Kontext ein ganz anderer als der, von dem ich hier berichte. Ich glaube, dass Baldwins Worte mir im Nachdenken über diese Szene dennoch einfallen, weil auch ich mich damals mit meinem Tablett voller Häppchen in der Hand ignorant gegenüber jener Sexarbeiterin verhielt. Ich wusste es nicht besser, dachte nicht weiter über mein Verhalten nach, und dieser Mangel an Reflexion führte zu einem Übergriff.

Ich war ja nach Amsterdam gegangen, um etwas Gutes zu tun. Dabei hätte ich gewarnt sein müssen. Ich hatte sogar eine ursprünglich ausgewählte Stelle in einem Sozialprojekt in Kathmandu noch kurzfristig gekündigt, weil ich einen Artikel mit dem Titel „Egotrip ins Elend“ gelesen hatte. Darin war es um die Anmaßung von Abiturientinnen und Abiturienten gegangen, die aus purem Voyeurismus für Freiwilligeneinsätze in den globalen Süden gingen, um dort eine Hilfe zu leisten, für die sie überhaupt nicht ausgebildet waren – so als hätten sie den Einheimischen allein wegen ihres Weißseins etwas voraus. Statt der Stelle in Kathmandu entschied ich mich also für einen Freiwilligeneinsatz am Rand der eigenen Gesellschaft.

Sich vom Druck der Schuld befreien

Im Nachhinein frage ich mich, ob auch bei diesem Einsatz in Amsterdam Voyeurismus eine Rolle spielte, ob die Häppchen, die ich jener Sexarbeiterin anbot, in Wahrheit ein Vorwand waren, um einen Blick hinter die Scheibe zu erhaschen. Wie hätte ich, gerade volljährig geworden, damals auch verinnerlicht haben sollen, dass selbst Blicke etwas Übergriffiges haben können und dass es meistens privilegierte Menschen sind, die meinen, sie könnten andere einfach so betrachten.

Doch auch wenn viele Privilegien für mich damals noch selbstverständlich waren, verstand ich, dass es falsch und ungerecht war, dass jene Obdachlosen, mit denen ich arbeitete, unter so widrigen Umständen leben mussten, während ich ein vergleichsweise sehr komfortables Leben führte.

Ich fühlte mich oft schuldig und verspürte ein Ziehen in der Magengrube, wenn ich morgens die Suppenküche betrat und die vom nächtlichen Umherwandern todmüden Menschen sah, die ihre Köpfe zum Schlafen auf die Tischplatten gebettet hatten. Eifrig gruppierte ich Thermoskannen voll dampfendem Kaffee und aufgetürmten Würfelzucker um sie, um nur irgendetwas tun zu können. Sicher versuchte ich, mich für diese Menschen einzusetzen, aber vielleicht wollte ich mich auch etwas vom Druck der Schuld befreien, die ich bei ihrem Anblick empfand.

Außerirdische Nachrichten aus der Steckdose

Teils drückten die Obdachlosen mir dankbar die Hand, wenn ich an ihren Tisch herantrat, um Kaffee nachzuschenken. Ihre vor Müdigkeit wässrigen Augen leuchteten, weil ich mein Interesse für die aus der Steckdose empfangenen Nachrichten außerirdischer Wesen bekundete.

Teils wehrten sie sich aber auch gegen meine Hilfe: zum Beispiel Maggy, eine obdachlose Frau, die ihren der Dreigroschenoper entlehnten Namen einem Messer verdankte, das sie am Bund ihrer Jeans befestigt hatte und das ihr Überleben auf der Straße sicherte. In der Kleiderkammer einer Fixerstube suchte ich mit ihr nach einer passenden Garderobe für einen Besuch im Gefängnis, da ihr Freund kurz zuvor verhaftet worden war. Während Maggy Netzstrümpfe aus dem Regal angelte, reichte ich ihr ein Paar Stiefel mit klobigem Profil, schließlich war es Winter. Postwendend schleuderte Maggy sie mir entgegen: Die würdest du niemals selber tragen, gib‘s zu!

Verdutzt räumte ich die Stiefel wieder weg, ihre Worte kränkten mich wie früher die Worte jener Sexarbeiterin; ich verstand nicht, dass Maggy vielleicht ihrerseits gekränkt war über die Rolle einer Bedürftigen, die ich ihr mit diesen Stiefeln zuwies. Ich reduzierte sie auf die Obdachlose, die robuste Kleidung benötigte, um der Kälte zu trotzen, dem Dauerfrost, der um diese Jahreszeit durch die Sohlen in den Körper zog, gestand ihr nicht zu, dass sie auch einfach eine Frau war, die sich heute einmal schön machen, ihrem Freund gefallen wollte.

Zwei Raben auf den Schultern

Als ich meine Arbeit antrat, sah ich in den Obdachlosen vor allem dies: Bedürftige, die meine Hilfe benötigten. Oder ich stilisierte sie, sah in ihnen so etwas wie Prophetinnen und Propheten der Straße. Gespannt lauschte ich den Wahngespinsten, von denen mir manche berichteten, mit dem Gefühl, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden.

Ganz besonders erging es mir so bei einem obdachlosen Mann, auf dessen Schultern zwei Raben saßen und der auf dem Rücken einen buntbedruckten Schulranzen trug, der vom Kot der Vögel verkrustet war. Fast täglich kam er mit seinen Raben in die Suppenküche und fertigte Zeichnungen von „Dämonen“ an; so nannte er die spiralförmigen Gebilde, die sich für mich wie Galaxien in den Weiten des Universums ausnahmen. Einmal, als ich ihm beim Zeichnen zusah, erklärte er mir, dass jedem Menschen ein schwarzes Loch hinter der Stirn sitze.

Damals kam es mir so vor, als würde er mir eine Wahrheit offenbaren, die zu tief war, als dass ich sie mit dem Verstand begreifen konnte. Unter dem Eindruck seiner Worte schrieb ich in mein Notizbuch: Die Obdachlosen haben diese verletzten Seelen, weil sie am Rand stehen. Sie können von dort aus Dinge wahrnehmen, die man nicht sieht, wenn man ein Teil dieser Gesellschaft ist. In Klammern fügte ich hinzu: Aber ich will sie nicht romantisieren!

Doch trotz des Ausrufezeichens, mit dem ich den Kommentar versehen hatte, hing ich anscheinend an meinem romantisierten Bild jenes Mannes; zumindest war ich furchtbar enttäuscht, als ich ­eines Tages erfuhr, dass diese Raben ihm nicht deshalb so treu waren, weil er ihr Vertrauen gewonnen, sondern, weil er ihnen die Flügel gebrochen hatte.

Mit schwarzer Magie zum Kasinogewinn

Ich wollte mich von meinen romantisierten Vorstellungen befreien und erfahren, wie die Obdachlosen selbst sich ­wahrnahmen. Vielleicht war ich auch einfach neugierig; jedenfalls begann ich, in einer Schreibwerkstatt zu arbeiten, in der Obdachlose sich einmal wöchentlich zum Verfassen ihrer eigenen Geschichten zusammenfanden. Ich richtete ihnen mit Erdnussbutter und Hagelslag – zuckrigen Schokostreuseln – belegtes Toastbrot an, koordinierte die Veröffentlichung ihrer Texte in der Straßenzeitung und organisierte für sie Lesungen in Bars und Bibliotheken der Stadt. Bei einem jener Auftritte erschien nur eine einzige Frau, doch statt ihre Texte vorzutragen, führte sie dem entgeisterten Publikum vor, wie man aus dem Papier aufgeklaubter Zigarettenstummel einen Joint baute.

Als ich dann auch noch bei einer der darauffolgenden Werkstätten den Tabak vergaß, der allen Teilnehmenden während des Schreibens zur freien Verfügung stand, und die Hälfte der Obdachlosen daraufhin auf dem Absatz kehrt machte, platzte mir beinahe der Kragen: Es passte mir nicht, dass sie nicht dankbar für meinen Einsatz waren. Gerne hätte ich mich als wohltätige Helferin erlebt, doch stattdessen fühlte ich mich hilflos und überflüssig.

Im heimlichen Zwiegespräch meiner Notizen ließ ich die Obdachlosen spüren, wie enttäuscht ich von ihnen war: Ich regte mich über den Selbstbetrug eines Mannes auf, der behauptete, er könne durch den Einsatz schwarzer Magie im Kasino jegliches Glücksspiel gewinnen, berichtete sensationslustig von einem Psychotiker, der eine Sammlung an Edelsteinen vor sich auslegte, dann sämtliche Religionsführer und verblassten Könige anrief, um die Quarze und Amethysten in Gold zu verwandeln.

Ich urteilte harsch über einen Teilnehmer der Schreibwerkstatt, hielt ihm in meinem Tagebuch vor, dass er aus seiner Not eine Tugend mache, indem er seine Wohnungslosigkeit existenzialistisch begründete und sogar seinen aus dem Tierheim aufgeklaubten Hund auf den Namen Jean-Paul Sartre getauft hatte. In meinem Unmut schrieb ich, dass die Obdachlosen ihre Realität verkennten, statt ihr ins Auge zu blicken. Dabei war es ja ich selbst, die ihre Realität romantisch verklärt hatte, und nun machte ich die Obdachlosen für meine Enttäuschung verantwortlich.

Besuch am Rand der Gesellschaft

Mir kommt wieder eine Skizze in den Sinn, die bei jener Ausstellungseröffnung im Rotlichtviertel an einer der Wände der Suppenküche hing: Darauf war ein kümmerliches Zelt im Westerpark zu sehen, das Pfeile mit der Fixerstube Blaka Watra verbanden. Diese Skizze legt nahe, dass die teils wahnhaften Geschichten der Obdachlosen vielleicht auch einfach ein Versuch waren, dem Teufelskreis ihres Alltags zu entrinnen. Über der Skizze stand in Großbuchstaben: Realität, wann werde ich endlich von dir befreit?

Damals war es für mich noch eine Selbstverständlichkeit, dass ich ein Leben führte, das frei von solch bedrückenden Umständen war. Auch deshalb war meine Einfühlung in die Realität der Obdachlosen vielleicht begrenzt: Für mich waren die Einblicke in wechselnde Anlaufstellen interessant, ich erlebte sie als eine Art Offenbarung, während die Obdachlosen diesen Alltag anscheinend als Gefängnis empfanden. Wie eine Kinobesucherin nahm ich Anteil an ihrem Drama, als spielte sich das alles auf der Leinwand vor mir ab. Es nahm mich zwar mit, aber ich wusste zugleich auch, dass es mich nicht unmittelbar betraf.

Der Kulturwissenschaftler Graham Huggan geht davon aus, dass Differenz eine Verführungskraft auf uns ausübt, die uns vermeintlich hinzieht zum Anderen und zugleich doch davon abhält, uns wirklich für den Anderen zu interessieren. Durch die Vorstellungen, die wir auf den Anderen projizieren, wird echte Anteilnahme verunmöglicht. So war es vielleicht auch bei mir: Ich wollte mich jenen Menschen am Rand der Gesellschaft zuwenden, doch durch mein romantisiertes Bild von ihnen war die Verkennung bereits programmiert.

Viele verschiedene Gesichter

Es war der Text eines Teilnehmers der Schreibwerkstatt, Allan, der mir half, den Obdachlosen gegenüber weniger voreingenommen, offener zu sein: Allan schilderte darin die Notwendigkeit, eine schlüssige Geschichte des eigenen Lebens zu verfassen, um sozial nicht abzustürzen oder in den Wahn abzugleiten. Gleichzeitig sei das Verfassen einer solchen Geschichte aber unmöglich, da das Leben mit der Geburt, also einer Erfahrung beginne, an die der Mensch sich nicht erinnern könne, und mit dem Tod ende, also mit einer Unwägbarkeit. Daher seien alle unsere Geschichten und Vorstellungen letztlich bruchstückhaft und unzureichend.

Dieser Gedanke half mir, zu verstehen, dass meine Enttäuschung auch etwas mit Angst zu tun hatte: Schließlich brachte die Realität der Obdachlosen meine Vorstellung der Welt ins Wanken und stellte mein Selbstbild als unentbehrliche und heilbringende Helferin in Frage, eine Verunsicherung, die ich als gefährlich empfand.

Ich bekam durch Allans Text auch eine Ahnung davon, dass die Obdachlosen viele verschiedene Gesichter hatten und das erfahrene Leid sie weder hellsichtig noch armselig machte, wie ich anfangs noch angenommen hatte. Jener Mann mit den Raben auf den Schultern war weder eine Art Schamane, noch, wie man abfällig sagte, ein „armer Irrer“, er hatte den Vögeln vermutlich schlicht die Flügel gebrochen, um auf der Straße Begleitung zu haben.

Opfer und Täter gleichzeitig

Wie wohl die meisten Menschen waren auch jene Obdachlosen oftmals Opfer und Täter gleichzeitig. Besonders eindrücklich wurde mir das vor Augen geführt durch einen Stammgast der Suppenküche; er erzählte mir, dass er von seinem Unternehmen „freigestellt“ worden sei, als dieses in die Hände eines Großkonzernes fiel. Die Perspektivlosigkeit trieb ihn schließlich in die Depression, und als auch noch seine Frau es nicht mehr mit ihm aushielt und er in seiner Einsamkeit zur Flasche griff, setzte sein Vermieter ihn zu allem Übel vor die Tür, ein Mann, dessen Herz „hart wie Eisen“ gewesen sei, wie er anmerkte. Seitdem habe er begonnen, Eisen jeglicher Art zu meiden. Er fügte hinzu, dass Eisen „eine schlechte Aura“ habe, „so wie die Ausländer“.

Während des Zuhörens hatte ich verstohlen seine Erscheinung taxiert und festgestellt, dass der Reißverschluss seiner Jacke herausgeschnitten war. Nun zog ich die Brauen zusammen, wollte dagegen halten, doch da stand er schon vom Tisch auf, an dem wir gerade noch zusammen Schach gespielt ­hatten. Er hob die Jacke an und ich sah, dass auch an seiner Jeans der Reißverschluss herausgetrennt war; der Hosenbund ­wurde mit einem gewundenen Seil zusammengehalten. „Willst du mehr sehen?“

Es war das einzige Mal, dass ich einen Obdachlosen vor die Tür setzte. Bevor ich sie hinter ihm schloss, sagte ich zu ihm, er könne morgen wiederkommen, wenn er es schaffe, sich zu benehmen, doch für heute solle er sich nicht trauen, mir nochmals unter die Augen zu treten.

Wenn ich nun auf diese Szene zurückblicke, kommt es mir so vor, als sei das Ziehen dieser Grenze auch eine rüde Bekundung von Respekt gewesen; ich demonstrierte dem Mann, dass ich in ihm keinen unzurechnungsfähigen Schwurbler sah, sondern seine Aggressionen durchaus ernst nahm. Zugleich vergaß ich über meiner Empörung aber auch nicht seine Not; die Temperaturen lagen unter dem Gefrierpunkt und ich wusste, dass er auf die Suppenküche angewiesen war.

Mit Zuckerstücken füttern

Mein Bild der Obdachlosen wurde allmählich realer, meine Begegnung mit ihnen wirklicher, auch wenn es keine Begegnung auf Augenhöhe war: Schließlich war es ja ich, die entschied, ob jemand die Küche trotz Minusgraden verlassen musste, weil er andere verletzte oder gar gefährdete. Immer wieder geriet ich in Situationen, in denen es keine moralisch einwandfreie Entscheidung hab. Indem ich diese Menschen weniger verklärte, sah ich auch mich selbst klarer: Ich verstand, dass mein Tun nicht einfach nur gut war, und begann zaghaft, die Widersprüche in meiner Rolle zu erkennen.

In jener Zeit verfasste ich zum ersten Mal einen Prosatext, während ich zuvor Gedichte geschrieben hatte. Meine Art, mich in der Welt zu verorten, sie in Worte zu fassen, veränderte sich durch meine Erfahrungen. „Vom Hunger“ hieß das Fragment und handelte von jener Suppenküche, in der ich arbeitete. Ich berichtete darin vom Kaffee und den Zuckerstücken, mit denen ich die Obdachlosen, so schrieb ich, tagtäglich „fütterte“, damit sie nach einer schlaflos durchwanderten Nacht nicht auf den Tischen einschliefen oder für die nächste schlaflos durchwanderte Nacht wach wurden. Ich schrieb: „Und immerzu Zucker, bis die Tasse klebt, doch der Hunger bleibt.“

Hunger nach mehr Menschlichkeit

Ich nehme an, dass ich bei dieser pathetischen Formulierung einen Hunger nach mehr Menschlichkeit, nach anderen Umständen im Sinn hatte. Zugleich stellte ich die Frage, inwiefern ich diese Umstände nicht vielleicht selbst auch mit aufrechterhielt: „Füttere ich den Hunger oder füttere ich sie?“ Von einem sehr idealistischen Standpunkt aus könnte man schließlich einwenden, dass diese Anlaufstellen – so wichtig sie sind – Obdachlosigkeit auch normalisieren, während eigentlich doch der Sozialstaat in die Verantwortung genommen werden sollte. Ich fügte hinzu: „Füttere ich gar mich selbst, das Bild ihres Elends in mich schlingend?“

Ich denke, dass ich mit dem Begriff des „Fütterns“ auf das ungerechte Gefälle zwischen mir und den Obdachlosen hinweisen wollte. Dennoch merke ich, dass dieser Begriff mir nun missfällt. Auch wenn ich ihn damals kritisch verwendete, denkt man dabei doch unwillkürlich an ein Kind, das noch nicht selbst für sich sorgen, noch nicht einmal sprechen kann und also einen Versorger braucht, eine Fürsprecherin. Immerhin schien es mir nun zu gelingen, meine Rolle differenzierter zu sehen und zu reflektieren, inwiefern es bei meiner Hilfe auch um das Stillen eigener Bedürfnisse ging.

Als ich den Text später bei einer Lesung in Deutschland vortrug, fragte mich ein Mann aus dem Publikum, ob diese Schilderung nicht etwas überzogen sei. Er wandte ein, dass auch in den Niederlanden doch jeder Anrecht auf eine Grundsicherung und eine Wohnung habe. Niemand sei also gezwungen zu einem Leben auf der Straße.

Ich erläuterte, dass auch dort, wie hierzulande, viele Menschen keinen Aufenthaltstitel und daher keinen Zugang zu entsprechenden Leistungen hätten. Andere Obdachlose wiederum seien psychisch so krank, dass sie an den bürokratischen Hürden scheiterten. Außerdem entstehe oftmals ein Teufelskreis aus Obdach- und Arbeitslosigkeit – ohne Anstellung bekomme man keinen Mietvertrag, und ohne Mietvertrag wiederum stelle niemand einen an.

Angewiesen auf die Hilfe jener Menschen, denen man hilft

Am Ende dieses Lehrjahrs in Amsterdam, so bilde ich mir ein, war ich nicht länger nur eine Art Touristin am Rand der Gesellschaft, deren Wahrnehmung von romantischen Fantasien verklärt wurde. Meine Erfahrungen hatten meinen Blick für die reale Situation der Obdachlosen geschärft.

Anfangs, beispielsweise als ich Maggy jene klobigen Stiefel reichte, hatte meine Fürsorge bei aller Empathie und Hilfsbereitschaft auch etwas Herablassendes. Nun gelang es mir mehr und mehr, mich stattdessen an die Seite jener Menschen zu stellen, eine Haltung der Solidarität einzunehmen. Und doch hätte ich zu dieser Haltung nicht gelangen können, wenn ich mich nicht – so fragwürdig meine Motive auch gewesen sein mögen – für diesen Einsatz entschieden hätte. Ich hätte manche meiner blinden Flecken vielleicht niemals registriert.

Rückblickend kommt es mir so vor, als ob dies der bedeutendste Widerspruch des Helfens ist: Man ist als Helferin oder Helfer am Ende immer selbst angewiesen auf die Hilfe jener Menschen, denen man hilft. Es ist wichtig, empfänglich zu bleiben für die Lektionen, die sie einem erteilen, auch wenn sie schmerzhaft sind. „Darling, don´t play my mama“ – noch während ich diese Worte in meinen Laptop tippe, dreizehn Jahre später, winde ich mich innerlich, spüre den körperlichen Niederschlag der Scham, die heißen Wangen, die sich aufstellenden Härchen entlang des Rückgrats. Doch es waren unter anderem diese Worte, die mich nötigten, mein Tun zu reflektieren. Hätten sie nicht in mir nachgewirkt, wäre ich heute wohl eine unbedarftere Helferin.

DER ESSAY

In unserer Serie schrieben zuletzt:

Karoline Klemke über ihre Lehrjahre im Studium und im Leben: Psychologie, meine Liebe, Heft 6/2023

Anna Felnhofer über die Demütigung, ausgeschlossen zu werden: Das Scherbengericht, Heft 2/2023

Fritz Breithaupt über die Endgültigkeit des Erzählten: Wer nicht handeln kann, muss fühlen, Heft 10/2022

Christian Haller über die entbehrungsreiche Suche nach dem eigenen Stil: Ein weitreichender Verzicht, Heft 7/2022

Annette Kehnel über die Verklärung des Vergangenen: Über früher, Heft 4/2022

Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte

Über den Fluss

Die Protagonistin in Theresa Pleitners Erstlingsroman fährt allmorgendlich mit dem Bus über den Fluss. Er trennt die heimeligen Wohnviertel der Stadt von den grauen Industriebauten am anderen Ufer. Dort, in einer übergroßen Lagerhalle, die man zur Massenunterkunft für Geflüchtete umgebaut hat, arbeitet die junge Frau als Psychologin. Sie kommt frisch von der Uni, es ist ihre erste Stelle. Sie will helfen. Doch die Trostlosigkeit des Ortes bedrückt sie, so wie er die Menschen bedrückt, die hier zwischen provisorischen Trennwänden mit einem Minimum an Privatsphäre leben. Viele von ihnen sind traumatisiert von der Flucht und dem Davor, sie leiden unter Panikattacken, Depressionen, psychosomatischen Beschwerden. In der Sprechstunde werden sie mit floskelhaften Ratschlägen bedacht: Trinken Sie denn auch genug? Die Kollegin verbarrikadiert sich hinter Diagnosemanualen und Kaffeestückchen. Die Protagonistin aber strebt nicht nach distanzierter Professionalität, sondern nach Menschlichkeit. Manche öffnen sich ihr. Doch gerade in ihrer Empathie übersieht sie Signale, die sie besser nicht übersehen hätte ...

Theresa Pleitner: Über den Fluss. Roman. S. Fischer, 2023

Theresa Pleitner, geboren 1991, studierte literarisches Schreiben und Psychologie. Sie arbeitete unter ­anderem in einer Unterkunft für ­Geflüchtete sowie einer psychosomatischen Klinik und behandelt im ­Rahmen ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin ambulant Patientinnen und Patienten. Für das Manuskript ihres jüngst erschienenen ­Romans Über den Fluss wurde sie mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet und für den Amadeu-Antonio-Preis nominiert.

Quellen

Leslie Jamison: Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer. Suhrkamp, 2017

Maggie Nelson: On Freedom. Four Songs of Care and Constraint. Vintage, 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung