Um fünf Uhr früh, als es noch dunkel war, brachen wir auf. Regelmäßig, einmal im Jahr, am Ersten Mai. Schlichen leise aus dem Haus, vorbei an Rathaus und Dorfbäckerei. Vorbei an Kindergarten und Friedhof, vom Hugsbrunnen hinauf zu den alten Kirschbäumen auf dem Zimmerplatz und von dort in den Wald, der uns in seinem morgengrauen Mantel willkommen hieß. Über den Teppich aus holprigen Zweigen, Moos und Steinen, auf Wegen mit Namen wie Buhloch, Steckhalde oder Ehrlinshardt immer weiter Richtung Maiglöckchen,…
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und Steinen, auf Wegen mit Namen wie Buhloch, Steckhalde oder Ehrlinshardt immer weiter Richtung Maiglöckchen, dorthin, wo meine Mutter zu Hause war.
Denn im Grunde, so denke ich jetzt häufig, war sie ein Waldkind. Und einmal im Jahr hat sie uns ihr Zuhause gezeigt. Führte uns an den Ort, wo die Hasen Kaffee kochten, zeigte uns die verborgenen Höhlen der Mooswichtel, lauschte dem Frühlingsruf des Kuckucks und ließ uns die ersten Maiglöckchen finden. Ich habe das geliebt. Es war so anders als der Alltag. Wir Kinder und unsere Mutter, so vertraut und so früh unterwegs, so abenteuerlich, immer ein bisschen unheimlich. Unheimlich und schön.
Ernüchterndes Erwachen
Allerdings musste ich im vergangenen Sommer eine verstörende Entdeckung machen. Denn als wir am 85. Geburtstag meiner Mutter in der Geschwisterrunde von früher erzählten, fing ich an, von diesen Maiwanderungen zu schwärmen. Das Dumme nur: Keiner konnte sich daran erinnern. Keiner außer mir. Nicht mal meine Mutter. Kann schon sein – waren sich alle einig –, dass wir vielleicht einmal an einem Ersten Mai frühmorgens in den Wald sind, aber sicherlich nicht regelmäßig. Ich war offensichtlich die Einzige, die daraus eine Familientradition gemacht hatte.
Ein ernüchterndes Erwachen. Da hatte ich mir offenbar meine eigene schöne Kindheitserinnerung zurechtgelegt. Mich darin eingenistet. Mir die Familienidylle einer traditionellen Maiwanderung zusammengebaut. Und wenn sie nicht gestorben wäre, diese Geschichte, dann lebte sie noch heute.
Warum neigen wir dazu, das Früher zu verklären und in einem nostalgischen Licht zu sehen?
Die erste Erklärung liegt auf der Hand: Das menschliche Gedächtnis ist nun mal unzuverlässig. Ob bei der Klausur, im Vorstellungsgespräch oder bei Zeugenaussagen. An was und wie wir uns erinnern, ist nun mal selektiv. Und zwar deshalb, weil es eingebettet ist in ein komplexes System namens Mensch. Unfallberichte sind ein klassisches Beispiel.
Komplize der Gegenwart
Der eine Zeuge hatte kürzlich selbst einen Unfall und wird durch das Ereignis unwillkürlich zurückversetzt, leidet mit, identifiziert sich mit dem Opfer und sieht Details, die eher dem entsprechen, was er vor einiger Zeit selbst erlebt hat. Der andere ist in Eile, kommt grad zurück vom Bäcker, hat seinem Freund Frühstück im Bett versprochen. Für ihn ist der Unfall ein unwillkommenes Hindernis, er will so schnell wie möglich weiter und hat daher so gut wie nichts gesehen.
Das Gedächtnis ist aber nicht einfach nur unzuverlässig, es gibt da eine Systematik, eine Agenda bei dem, was es streicht oder hinzudichtet. Denn das Gedächtnis ist ein Komplize der Gegenwart. Es hilft uns, die Gegenwart zu bewältigen, ordnet die Vergangenheit stets im Licht der weiteren Entwicklungen. Die Kognitionspsychologie spricht vom hindsight bias, von der Rückschauverzerrung. Wenn man weiß, wie die Geschichte ausging, dann ändert sich unwillkürlich die Erinnerung an alles, was vorausging.
Lässt sich ein befreundetes Paar scheiden, dann erinnert sich jeder plötzlich an all die vielen kleinen Anzeichen für Unstimmigkeiten in der Beziehung. Dieser Streit damals beim Waldspaziergang, nur weil der Jüngste seine Sneaker im Auto vergessen hatte. Und sie – na ja, es fiel schon auf, dass sie ihm immer ins Wort gefallen ist, und eigentlich war er ja von Anfang an nicht ihr Typ. Man hat es kommen sehen.
Die Vergangenheit zurechtbiegen
Nur zur Beruhigung sei hier darauf hingewiesen, dass Intelligenz vor diesem Rückschaufehler nicht schützt. Selbst Nobelpreisgehirne ticken so. Werner Heisenberg, im Zweiten Weltkrieg führend an der Entwicklung von Atomwaffen auf deutscher Seite beteiligt, war fassungslos, als am 6. August 1945 die Atombombe über Hiroshima niederging.
Er konnte einfach nicht glauben, dass die Konkurrenz in den USA tatsächlich die Atombombe gebaut hatte. Später revidierte er seine Meinung und behauptete schließlich gar, dass er und seine Physikerkollegen in Deutschland seit 1941 den Bau der amerikanischen Bombe als reale Gefahr wahrgenommen hätten. Das anfängliche „Kann nicht sein!“ wurde im Laufe der Zeit zu einem immer gewisseren „Wir wussten das von Anfang an!“.
Natürlich klingt das wie eine dreiste Lüge, eine planvolle Geschichtsfälschung. Doch so arbeitet unser Gedächtnis. Es begutachtet die Vergangenheit im Licht seines Kenntnisstands von heute: Die Erinnerung wird gegenwartstauglich gemacht. Das Gehirn unternimmt regelmäßig Updates an den je verfügbaren Informationsstand. Und nebenbei sorgt es dafür, dass sein Träger oder seine Trägerin das Gesicht nicht verliert.
Doch die Sache mit dem Früher ist nicht nur schwierig, weil unser Gehirn die Erinnerung immer wieder zurechtbiegt. Hinzu kommt ein weiterer Faktor, eine Naturgewalt namens Gefühle. Erfahrungen werden nicht im luftleeren Raum gemacht. Da sind Geräusche, Klänge, Stimmen, Gerüche, Düfte, da sind Ängste, Hoffnungen, Vorfreude, Aufregung, Enttäuschungen, Spannungen, Trauer, Schmerz oder Wohlbehagen. Erinnerungen werden immer von unseren Emotionen mitbestimmt.
Die Sonntagsbratenforschung
Daher kommt es, dass wir manchmal Dinge mögen, obwohl sie uns gar nicht schmecken, einfach weil wir damit schöne Kindheitserinnerungen verknüpfen. Lakritz zum Beispiel oder Sonntagsbraten. Die Journalistin Annabel Dillig brachte das Problem mit der einfachen Frage auf den Punkt: Mag ich Sonntagsbraten? Oder mag ich ihn nur, weil er mich an früher erinnert? Nicht nur das Auge, auch die Erinnerung isst mit. Auch dieses Phänomen wird in der Sozialpsychologie intensiv erforscht. Ich nenne das mal die Sonntagsbratenforschung, auch wenn es bei mir eher Tafelspitz mit Meerrettich war.
Sonntags kurz vor halb zehn – bevor sie mit uns in die Kirche eilte – setzte meine Mutter die Brühe auf, damit das Rindfleisch auf kleiner Flamme vor sich hin köcheln konnte, während wir der Predigt lauschten. Sobald das letzte Amen gesprochen und die Orgel verstummt war, stürzten wir so würdig wie möglich durch den efeuumrankten Torbogen, die sandsteingepflasterte Kirchentreppe hinunter nach Hause und durch den Hintereingang in die Küche.
Da empfing uns schon der Duft der Fleischbrühe. Dazu Grießklößchensuppe. Die waren meine Spezialität. Ich liebte es, Butter, Ei, Salz und Muskatnuss zu vermanschen, dann den Grieß dazu und schließlich mit zwei Teelöffeln die Klößchen zu formen und im Salzwasser ziehen zu lassen. So lang, bis sie wie hilflose Kaulquappen ohne Ärmchen auf der Oberfläche schaukelten. Das war meine Sonntagsaufgabe.
Wenn ich Lust auf Nostalgie habe
Diese Geschichte lasse ich mir im Übrigen nicht von meinen Geschwistern nehmen! Ich erzähle sie einfach nicht, behalte sie lieber für mich, sonst erklären die mir möglicherweise, dass es eigentlich Nudelsuppe war oder gar Markklößchen. Nein, ich bleibe bei Grießklößchen und Tafelspitz. Die Preiselbeeren bitte nicht vergessen.
Bis heute liebe ich Rinderbrühe, kaufe mir beim Metzger hin und wieder Tafelspitz, zwei drei Knochen mit dazu, meist wenn ich mich ein bisschen kränklich fühle oder Lust auf Nostalgie habe. Diese Rinderbrühe ist für mich die beste Medizin. Meine ganze Familie isst vegetarisch, und wenn ich Rinderbrühe koche, dann schmunzeln sie. Haste Sonntagsnostalgie, Maman?
In diesem Fall tut er mir einfach nur gut, der Duft der Vergangenheit. Und auch das hat die Sozialpsychologie in den letzten Jahren betont: Nostalgie ist wichtig. Erinnerung an früher hilft uns, Durststrecken zu überwinden. Während man bis vor nicht allzu langer Zeit Nostalgie als eine Form der Depression auffasste, die tunlichst bekämpft werden müsse, betont man heute eher die positiven Seiten.
Manchmal tut es gut, sich die Erinnerung an früher wie einen Mantel umzulegen. Die Vergangenheit gibt der Gegenwart Sinn, Nostalgie ist eine wichtige Ressource für die Persönlichkeitsentwicklung. Die Erinnerung an ein früheres Ich kann Türen öffnen und neue Handlungsspielräume aufzeigen. Nostalgische Menschen sind zufriedener, selbstbewusster und sozial besser vernetzt.
Politische Motivationen
Aber auch die unerwünschten Nebenwirkungen werden erforscht: Nostalgie ist immer eine zwiespältige Emotion. Wird sie nicht von innen aufgerufen, sondern von außen suggeriert, ist sie ein Einfallstor der Manipulation. Im Marketing wird das ausgenutzt, wenn man uns Produkte im Retrolook mit 50 Prozent Preisaufschlag offeriert oder im Shoppingcenter Musik der Achtziger spielt, die uns an früher erinnert und in Kauflaune versetzt.
Auch politisch ist der Ruf nach der guten alten Zeit brandgefährlich. Die Beschwörung einer untergegangenen Vergangenheit, das Spiel mit „Wir sind die letzte Generation, die noch auf der Straße gespielt hat“ ist nicht selten Stimmungsmache für reaktionäre Positionen. Wer ein vermeintlich heiles Damals als Sehnsuchtsort beschwört, dem empfehle ich Edgar Selges Hast du uns endlich gefunden zur Lektüre.
Er gehört zu jener Generation, die noch auf der Straße gespielt hat. Erinnert sich daran, wie sein Bruder von einem Blindgänger zerfetzt wurde, den die Kinder beim Spielen zufällig fanden, wie ihn der Vater regelmäßig ins Klavierzimmer zitierte, um ihn mit dem Stock zu bestrafen, wofür genau wusste der Zwölfjährige oft nicht. Wie verquer, wie einsam, verstörend und unmenschlich sie sein konnte, die Welt jener Generation, die noch auf der Straße gespielt hat, das wird in diesem Roman deutlich.
Und ich? Wie halte ich es mit den fernen, vergangenen Zeiten? Warum eigentlich bin ich Historikerin geworden?
Mich nervt das
Natascha ist vor kurzem in die Wohnung nebenan eingezogen. In einem dieser Kennenlerngespräche von Balkon zu Balkon fragt sie, was ich so mache: Du unterrichtest an der Universität? Was denn? Geschichte? Mittelalter? Schön, das habe ich schon immer so spannend gefunden. Ich liebe die Mittelalterromane. Ein schönes Fach.
Es ist mir fast peinlich und Natascha habe ich denn auch diese biografische Notiz verschwiegen: Ich habe es in meinem bisherigen Leben noch kaum je geschafft, einen historischen Roman zu lesen. Egal ob Medicus, Säulen der Erde oder die Wanderhure. Immer wieder mal nehme ich einen Anlauf, zuletzt mit Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame. Erneut grandios gescheitert. Die dreckigen Straßen von Paris, übervölkerte Märkte, stinkende Behausungen, eingemauerte Jungfrauen und edle Ritter, die sich in „wunderschöne Zigeunerinnen“ verlieben.
Überdies die vielen Namen und Jahreszahlen und Schlachten und Königsgeschlechter, und jeder ist mit jedem irgendwie verwandt. Meine Güte. Das kann sich doch kein Mensch merken! Und überall lugt die Fratze einer verzerrten Vergangenheit hervor wie der bucklige Quasimodo hinter den gotischen Mauern von Notre-Dame. Was mich da angrinst, ist das entstellte Gesicht eines Mittelalters, wie man es sich im 19. Jahrhundert vorstellte. Die böse Kirche, der düstere Schleier der Religion, die emanzipierte Hure, der gnadenlose Fronherr und dann noch die armen Hexen.
Ganz ehrlich, mich nervt das.
Inszenieren der Vergangenheit
Hexenverfolgung war ein Phänomen der frühen Neuzeit mit einem Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg. Frondienste waren sicher menschlicher als Fabrikarbeit im 19. Jahrhundert. Und der finstere Schleier der Religion? Alle mussten den ganzen Tag beten und beichten? Faktencheck! Tatsächlich führte die Kirche Anfang des 13. Jahrhunderts eine Art Beichtpflicht ein. Wie oft sollte man beichten? Sage und schreibe einmal im Jahr, es sei denn man war verhindert, dann konnte man die Sache aufs nächste Jahr verschieben!
Wir leben im 21. Jahrhundert und lassen uns immer noch von einem Geschichtsbild aus Kaisers Zeiten einlullen. Man stelle sich vor, wir würden noch immer Erziehungsbücher aus dem 19. Jahrhundert lesen und fasziniert unsere Kinder danach erziehen.
Bei der Art, wie wir ferne Epochen mustern, unterliegen wir einer ähnlichen Verzerrung wie beim Rückblick auf unser eigenes Leben: Wir inszenieren das Vergangene.
Noch einen Schritt weiter ging der Historiker und Kirchenvater Augustinus im vierten Jahrhundert nach Christus. Er behauptete: Es gibt gar kein Früher! Es gibt nur die Erinnerung an früher: „Zukünftiges und Vergangenes sind nicht; die Behauptung, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, trifft nicht im strengen Sinne zu.
Im strengen Sinne müsste man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern, die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen, die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten.“
Immer noch der Alte
Übersetzt heißt das für unsere Ausgangsfrage, dass die Neigung, frühere Zeiten zu verklären und in einem nostalgischen Licht zu sehen, eigentlich ziemlich wenig mit der Vergangenheit zu tun hat, sondern durch und durch gegenwartsbezogen ist. Es gibt nur die erinnerte Vergangenheit. Und die gehört der Gegenwart.
Vor kurzem bin ich auf eine Kurzgeschichte des Musikers und Schriftstellers Heinz Strunk gestoßen, Living in the Past. Der Ich-Erzähler wird nach fast 30 Jahren von seinem Jugendfreund W. kontaktiert. Damals ein richtiger Mädchenschwarm – hübsch, groß, schlank, blond, Fußballer und Gitarrenspieler. Das Wiedersehen beginnt gut. Immer noch der gleiche Gang. Immer noch schlank. Eigentlich dünn, nein ausgemergelt.
Die Stimme hoch und brüchig. Trinken eingestellt, Rauchen längst aufgegeben. Arbeitest du noch bei Karstadt? Ja. Aber das sei mühsam. Nach über 30 Jahren Firmentreue nur Mobbing, und diese Unsicherheit, die halte er nicht mehr aus. Er habe doch damals den Job angenommen, weil man ihm eine Lebenszeitgarantie geboten hat. Ein normales, berechenbares Leben, ohne Auf und Ab. Das sei es, was er gewollt habe. Das Gespräch droht zu erliegen.
Und sonst so? Immer noch der Alte. Mag die Musik von früher, schaut sich Serien aus den 80ern an. Liest gern die alten Jugendbücher, Moby Dick, Schatzinsel, Ruf der Wildnis. Sein Sohn kann auch Gitarre spielen. Mit ihm spielt er gelegentlich die alten Lieder, Living in the Past von Jethro Tull, Sailing von Rod Stewart, die Hits von Elton John und andere unverwüstliche Klassiker. „Die Flammen der Erinnerung lodern immer heller auf, und ihn überkommt stechende Sehnsucht nach der verlorenen Welt, der ewig entschwundenen, niemals wiederkehrenden Zeit.“
Wissenschaft von der menschlichen Erinnerungsfähigkeit
Interessant ist, dass beide die gleiche Vergangenheit teilen. Während der Erzähler wegging aus der Stadt, sich veränderte, weiterschritt und die Erfahrungen seiner Jugend durch neue Erfahrungen überlagerte, verkörpert W., der Jugendfreund, das bemitleidenswerte Festhalten an einem Früher, das längst nicht mehr ist. Doch selbst für ihn, der sich auf Lebenszeit im Früher eingerichtet hat, gibt es keine Vergangenheit.
Es gibt nur jede Menge Erinnerungen in einer verdrießlichen und ausgemergelten Gegenwart. Eine Gegenwart, in der alles Lebendige den gierigen Flammen der Erinnerung zum Opfer fiel. Das ist die beklemmende Variante der Nostalgie, die uns nach unten zieht. Die festhält in einer vergangenen Gegenwart, der wir längst entwachsen sind.
Während also die Vergangenheit unveränderlich ist, ist die Erinnerung an Vergangenes formbar. Wie viel Raum sie einnimmt, ob sie verschwindet oder das Kommando in unserem Leben übernimmt, das hängt stets von Entscheidungen der Gegenwart ab. Das Bedürfnis nach Vergangenheit ist ein Bedürfnis der Gegenwart. Der Vergangenheit ist es egal, ob sie erinnert wird oder nicht.
Geschichtswissenschaft ist in diesem Sinne nicht die Wissenschaft von der Vergangenheit, sondern die Wissenschaft von der menschlichen Fähigkeit zur Erinnerung; oder um noch präziser zu sein, von der menschlichen Befähigung zur bewussten Reflexion vergangener Erfahrung. Vielleicht ist das der Grund, warum ich damals anfing, Geschichte zu studieren. Nicht aus Sehnsucht nach dem Früher, sondern aus Misstrauen gegenüber der menschlichen Erinnerung.
Was also folgt aus alledem? Was hat die Historikerin Annette Kehnel zum Umgang mit dem Früher zu sagen?
1. Denkt nach vorne! Lasst euch von veralteten Erinnerungen an das Früher nicht versteinern!
Die besten Ratschläge stammen wie so oft aus dem Alten Testament. So versuchte zum Beispiel der Prophet Jesaja in einer massiven Krise seinen Zeitgenossen zu verklickern, dass die Musik in der Zukunft spielt. „Denkt nicht an das, was früher war! Sinnt ihm nicht länger nach. Ich schaffe Neues, jetzt wächst es auf. Erkennt ihr es denn nicht?“
Noch dramatischer ist die Geschichte davon, wie Erinnerung uns regelrecht versteinern kann. Lot und seiner Frau gelingt es, aus der untergehenden Stadt Sodom rechtzeitig zu fliehen – mit Gottes Hilfe, versteht sich. Der macht nur eine einzige Auflage: Ihr dürft euch nicht umsehen! Blickt nach vorne. Schaut in die Zukunft. Lasst die Vergangenheit hinter euch! Als Lots Frau dann doch noch einen einzigen kurzen sehnsüchtigen Blick zurückwirft, erstarrt sie im Handumdrehen zur Salzsäule.
Ganz ähnlich die griechische Mythologie mit der Erzählung von Orpheus, dem begnadeten Sänger, der verzweifelt seine verstorbene Frau Eurydike aus der Unterwelt zurückholen möchte. Als er endlich in das Reich der Toten gelangt, schafft er mit seinem göttlichen Gesang das Unmögliche: Er ringt Hades, dem Gott der Unterwelt, eine Ausnahmegenehmigung ab und darf seine geliebte Eurydike zurück ins Leben mitnehmen.
Nur eine einzige Bedingung stellt Hades: Orpheus darf sich nicht umsehen. Es kommt, wie es kommen muss: Fast am Ausgang der Unterwelt angekommen, hört Orpheus plötzlich die Fußtritte seiner geliebten Frau nicht mehr, hat Angst, sie könnte sich verirrt haben, blickt ängstlich hinter sich – und schon war Eurydike entschwunden, unwiederbringlich zurück in der Unterwelt.
2. Wir können nicht nur erinnern, wir können auch vergessen
„Zu allem Handeln gehört Vergessen. Es ist möglich, glücklich fast ohne Erinnerung zu leben, aber es ist unmöglich, ohne Vergessen zu leben.“ Sagte Friedrich Nietzsche, dessen Lebensgeschichte zugleich vor Missverständnissen warnt, verbrachte er doch die letzten elf Jahre in geistiger Umnachtung im Reich des Vergessens. Nein, gemeint ist damit nicht Vergessen im Sinne von Verdrängung und Umnachtung.
Vielmehr geht es um den Mut zu Neuem, um Vergessen im Sinne von „hinter sich bringen“. Denn zuweilen wird die Vergangenheit einfach nur als Ausrede verwendet: schwere Kindheit, strenge Lehrerinnen, harte Zeiten, Sie wissen schon! Manchmal tut sie mir fast ein bisschen leid, die Vergangenheit. Ist angeblich an allem schuld. Nur wer sie im positiven Sinne hinter sich gebracht hat, spürt den Rückenwind.
3. Schafft euch euer eigenes Früher!
Erinnerungen sind nicht einfach da. Erinnerungen werden gemacht. Bewusst und unbewusst. Erinnerungen sind wie Freundschaften. Sie überleben Durststrecken, in denen keine der beiden Zeit für die andere hatte, aber sie wollen auch gepflegt werden. Erinnerungen brauchen das Gespräch, lieben die Vertrautheit und werden mit uns alt. Aber sie können sich auch von ganz neuen Seiten zeigen. Und jede Generation formt ihre eigenen Erinnerungen neu.
Egal ob die Maiwanderungen meiner Kindheit nun stattgefunden haben oder nicht, sie leben weiter. Genauer gesagt: Die Erinnerung an sie lebt weiter, wenn auch in einer ziemlich eigenwilligen Form. Ich selbst – bevor ich letzten Sommer gelernt habe, dass es sie gar nie gab – wollte diese Tradition meinen eigenen Kindern weiterreichen. Und bin damit gnadenlos gescheitert.
Sage und schreibe ein einziges Mal habe ich es geschafft, die Bagage im Morgengrauen am Ersten Mai aus den Betten zu trommeln. Lustlos wie eine Truppe zwangsverpflichteter Sträflinge schlurften sie hinter mir her auf den Monte Scherbelino, ein nahegelegenes Ausflugsziel. Es war der schlechtgelaunteste Sonnenaufgang meines Lebens. Zum Glück war der Hund dabei. Wenigstens einer, der sich freute.
Witzig nur, dass ausgerechnet die Erinnerung an diesen misslungenen Ausflug sich wiederum tief und fest im Familiengedächtnis meiner Kinder eingegraben hat – insofern dann doch Familientradition, allerdings eine aus der Rubrik „Schöner Scheitern“: Mein Gott, was haben wir schon darüber gelacht. Erinnert ihr euch noch? Dieser Berg, der gar keiner war, der Sonnenaufgang, der wegen zu vieler Wolken gar nicht stattfand, und dann hatte auch noch der Bäcker geschlossen, als wir auf dem Heimweg Brötchen kaufen wollten. Nur die legendäre Tour zum Baumwipfelpfad an Pauls zwölftem Geburtstag, die war noch schlimmer. Oder war es der dreizehnte?
Ökonomie der Gemeinschaft
Wir kennen die Menschheitsgeschichte als Erfolgsstory von Fortschritt, Wachstum und Wohlstand. Doch tatsächlich ist dieses Narrativ gerade einmal 200 Jahre alt und längst an seine Grenzen gestoßen. In ihrem Buch Wir konnten auch anders sucht Annette Kehnel nach natur- und sozialverträglicheren Alternativen des Wirtschaftens – und sie wird ausgerechnet im „finsteren Mittelalter“ und der Vormoderne fündig.
Recycling war dort die Regel, nicht die Ausnahme. Wussten Sie, dass Papier jahrhundertelang aus Altkleidern hergestellt wurde? Mangelte es an Lumpen, stockte die Produktion. Kehnel erzählt vom Erfolgsmodell der sharing economy in den Klöstern. Sie schildert, wie die Zünfte der Bodenseefischer mit einem ausgeklügelten System aus Fangquoten und Schonzeiten die Bestände und damit ihre Existenz sicherten. Sie zeichnet die Geschichte der Beginenhöfe nach. Das waren cities of ladies, städtische Wohnviertel von Frauen, mit Landwirtschaft, Mühlen, Bäckereien und Brauereien, bis hin zum städtischen Finanzmarkt.
Auch die heute wiederentdeckten „Mikrokredite“ für die weniger Wohlhabenden gab es bereits in der italienischen Renaissance in Gestalt von Pfandleihhäusern (monti di pietà). Die Stadträte gründeten diese Banken, die gutbetuchten Bürger wurden als Kapitalgeber in die Pflicht genommen und mussten sich ehrenamtlich für diese Banken engagieren.
Auch mit dem Ablasshandel – heutzutage Inbegriff kirchlicher Raffgier – wurden karitative Initiativen wie etwa die Magdalenerinnen unterstützt, ein Orden für ehemalige Prostituierte, oder Bauprojekte wie Brücken, Straßen und Deiche finanziert: Wohltaten gegen Erleichterung der Sündenstrafe im Fegefeuer.
Weder Ablässe noch die anderen Instrumentarien von damals sind heute tauglich. Doch das „Bewusstsein der Eingebundenheit“, auf dem sie fußen, sollten wir im Interesse unserer Nachkommen schleunigst wiederentdecken.
Annette Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit. Blessing, München 2021.
Annette Kehnel studierte Geschichte und Biologie an den Universitäten Freiburg und München sowie am Somerville College in Oxford. Nach Stationen in Dublin und Dresden ist sie seit 2005 Inhaberin des Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Für ihr 2021 erschienenes Buch Wir konnten auch anders wurde sie mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet.
DER ESSAY
In unserer Serie schrieben bisher:
Felicitas Hoppe über Träume und wie sie sich der Verwertung entziehen: Die Schuhe meiner Großmutter, Heft 1/2022
Clemens J. Setz über seinen Versuch, eine private Geheimsprache zu entschlüsseln: Mit einem echten Boden, Heft 10/2021
Asal Dardan über das Gefühl des Verlassenseins und wie es die Augen öffnen kann: Vom Festhalten an der Normalität, Heft 7/2021
Terézia Mora über die Kunst der Bewältigung und die Bewältigung mithilfe der Kunst: Von etwas der Staub, Heft 4/2021
Andreas Maier über zweierlei Umgang mit menschengemachten Geräuschen: Vom Schließen und Öffnen der Ohren, Heft 2/2021
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Historische Romane?Meine Güte!Ganz ehrlich:Mich nervt das