Es war das Jahr, in dem meine Seele, oder was immer man da in sich heranzüchtet, am lebendigsten war. Die mühsame und abwechslungslose Schulzeit war überstanden und etwas vollkommen Neues begann: Arbeit in einem Institut für Menschen mit verschiedenen Behinderungen.
Ich war ein sakkotragender, altkluger, äußerst überheblicher Achtzehnjähriger, der viel zu viel las und auswendig wusste. Ich ging allen auf die Nerven. Einmal steigerte ich mich aufgrund der auffallenden Gesichtszüge eines der behinderten…
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Ich ging allen auf die Nerven. Einmal steigerte ich mich aufgrund der auffallenden Gesichtszüge eines der behinderten Kinder, für dessen Nachmittagsbetreuung ich zuständig war, in die Überzeugung hinein, das Kind müsse am Williams-Syndrom leiden, was, wie ich in irgendeiner Dokumentation gelernt hatte, in den meisten Fällen mit einer hohen musikalischen Affinität einhergeht. Also nahm ich das Kind kurzerhand mit in den Nebenraum zum Klavier und spielte ihm alle Jazzstücke vor, die ich kannte, während es mit hängendem Kopf am Boden hockte.
Als dann seine Mutter erschien und wissen wollte, warum ihr Kind denn nicht angezogen sei und überdies sein ganzes Essen noch unangetastet im Rucksack liege, hielt ich einen leidenschaftlichen Vortrag über das Williams-Syndrom und die „Wichtigkeit von Musik in der Frühförderung solcher Kinder“! Die Geduld der Frau war außerordentlich. Sie hörte sich alles an, dankte mir leise und beschwerte sich erst in der kommenden Woche, und selbst da eher sanft, bei der Direktion.
Prägende Erinnerungen
Solche Dummheiten gab es viele. Ich glaube, ich verhielt mich beinahe durchgehend peinlich, was vermutlich der Grund ist, weshalb mir gerade dieses eine Jahr meines Lebens am deutlichsten von allen im Gedächtnis geblieben ist. Einmal versuchte ich, eine junge Frau, die ihr freiwilliges soziales Jahr absolvierte, durch das Rezitieren von Trakl-Gedichten zu beeindrucken, während wir gemeinsam einen Jungen über seine Magensonde fütterten. Ein andermal jagten ich und ein anderer Zivi uns mit alten CO2-Feuerlöschern, die wir eigentlich entsorgen sollten, quer übers Fußballfeld, bis wir beide hustend ins Gras fielen. Ich hielt andauernd Vorträge, verliebte mich, erschien mit Benzos im Blut zur Arbeit und besaß aus Prinzip kein Handy. In meinem Rucksack steckten Zeit und FAZ.
Im Sommer nahm sich der Portier des Instituts für einige Wochen Urlaub und ich durfte ihn vertreten. Das gefiel mir sehr, denn so konnte ich den ganzen Tag in dem erstaunlich gemütlich eingerichteten weißen Häuschen neben der Einfahrt sitzen und, wenn es keine Anrufe oder Pakete oder Besucher gab, um die ich mich kümmern musste, Bücher lesen. Ich las damals alles durcheinander, Freud und Colette und Herodot, Ezra Pound und Clive Barker. Aus einer Thermoskanne goss ich mir Tee in eine der winzigen Plastiktassen, die im Portierhäuschen herumstanden, und während draußen alle arbeitsam herumliefen und schwitzten, hatte ich es kühl und friedvoll.
Ich war der Meinung, diese Abwechslung von meinen normalen Pflichten durchaus zu verdienen, denn einige Aspekte meiner Arbeit fingen an, mich mehr zu belasten, als ich mir eingestehen wollte. Im Frühling war eines der Kinder, bei deren Betreuung ich an manchen Tagen mithalf, plötzlich gestorben. Bis dahin war ich, mit meinen achtzehn Jahren, noch irgendwie davon überzeugt gewesen, dass das Leben nicht so rasch, so ohne weiteres zerstört werden kann. Das Ereignis hatte mich etwas ratlos und wortkarg gemacht.
Ein Besucher
Nach einigen Tagen erhielt ich in meinem Portierhäuschen Besuch aus dem zum Institut gehörenden Seniorenheim. Es war Herr P., ein sehr alter, gebeugt gehender, vollständig erblindeter Mann, der sich in Zeitlupentempo an dem entlang der Institutsmauer verlaufenden Geländer in Richtung Portierhäuschen tastete. Herr P. trug immer einen kleinen Hut und sein kugelrunder Oberkörper wurde von Hosenträgern in Zaum gehalten. Selbst im Winter sah man ihn nie mit Mantel, sondern immer nur in Hemd mit Hosenträgern. Was genau mit seinen Augen geschehen war, wusste ich nicht, jedenfalls hielt er sie immer geschlossen.
Wenn man ihn grüßte, sagte er meist nur „Ja“ oder reagierte überhaupt nicht. Schon früher hatte ich ihn oft im Portierhäuschen sitzen gesehen, er gehörte offenbar hierher, also machte ich, wann immer er während meiner Dienstzeit erschien, die Tür auf und lud ihn ein, sich zu mir zu setzen. Anfangs zögerte er, erschrak wohl auch ein wenig vor der unerwarteten Stimme, drehte sich dann sehr langsam um und ging den langen Weg am Geländer entlang zurück ins Heim.
Aber schon nach einer Weile kam er wieder. Ich erklärte ihm, wie lange der Portier auf Urlaub sein würde. Aber Herr P. schien sich dafür gar nicht zu interessieren. Er kam ins Häuschen und setzte sich auf einen kleinen Schemel. Ich sagte einige Sätze zu ihm. Er reagierte nicht.
Flüsterndes Brüllen
Da saßen wir also wie zwei altgediente Schrankenwärter in einem Provinzbahnhof und schwiegen. Ich bot ihm mehrmals, betont laut sprechend, von meinem Tee an. Er sagte immer noch nichts. Ich war mir sicher, dass er nur aus Scheu so tat, als hätte ich nichts gesagt, denn ich hatte schon einige Male gesehen, wie er sich mit dem Portier unterhielt.
Nach einer endlosen Wartezeit und mehreren Versuchen fing Herr P. auf einmal von selbst an zu sprechen. Und was er sagte, erstaunte mich. Es waren Satzfetzen wie „Med am [mit einem] echten Boden, echten Boden, echten Boden“ oder „Geistert si, geistert er, geistert, ja, mei Lieber“ oder „Geht die Tür auf, geht die Tür, da die Tür, die Tür“ und so weiter. Seine Stimme klang heiser, gepresst. Als würde man versuchen, flüsternd zu brüllen.
Ich fragte natürlich nach: „Welche Tür meinen Sie denn, Herr P.?“
Er wiederholte, dass die Tür aufgehe, die Tür, aber dann nicht durch die Tür gehen, sondern die Tür, ja die Tür, geh zur Ruh.
Ich war fasziniert.
Was will er mir sagen?
Ganz präzise kann ich Herrn P.s Sätze nicht mehr wiedergeben. Ich habe mir damals zwar ein paar Dinge aufgeschrieben, aber alles viel zu knapp, zu selbstgewiss. Der genaue magische Wortlaut ist verloren. Er sprach zudem in einem sehr starken Steirerdialekt und ich nehme an, dass man die Wirkung der Sätze, wenn man sie zum besseren Verständnis ein wenig der Hochsprache anpasst, um einiges verringert.
Aber was bedeuteten nun diese Sätze? Was wollte er mir sagen? Und wie sollte ich antworten?
Während meiner Zeit im Institut hatte ich einige Male von Kolleginnen erklärt bekommen, dass eine sinnvolle Möglichkeit, mit schwer demenzkranken Menschen ins Gespräch zu kommen, die aus dem Improvisationstheater entlehnte Methode des „Yes and“ ist. Das bedeutet: Man streitet nicht ab, was vom Gegenüber gerade in den Raum gestellt wurde, sondern akzeptiert es, so bizarr und unangebracht es auch klingen mag, als Basis für das weitere Gespräch – und fügt dann höchstens selbst etwas hinzu.
Akzeptierende Kommunikation
Eine sehr berührende Darstellung dieser Kommunikationsart findet sich in Arno Geigers würdevollem und zartem Memoir Der alte König in seinem Exil. Der Sohn des demenzkranken Vaters stößt eines Tages von selbst auf diese „Technik“, nachdem der Vater ihn wiederholt darum bittet, nach Hause gehen zu dürfen, obwohl er sich ja längst zu Hause befindet. Er erkennt sein Zuhause einfach nicht mehr, gibt aber auf Nachfrage zu, dass es durchaus ähnlich aussehe wie der Ort, an dem er sich gerade aufhalte.
Eines Tages macht der Sohn es dann anders und korrigiert den Vater nicht mehr durch einen Normalweltsatz wie „Aber du bist ja zu Hause“, sondern verspricht ihm, ihn später nach Hause zu begleiten („Wenn du noch eine halbe Stunde wartest, bis ich mit Tippen fertig bin, gehen wir gemeinsam“), was dem alten Mann Trost und Zuversicht vermittelt.
Also versuchte ich etwas in der Art auch mit Herrn P. Als er an einem heißen Tag bei mir im Portierhäuschen erschien, fing er nach einer Weile wieder mit seinen rätselhaften Wiederholungen an. Unsere Unterhaltung lief dann ungefähr so ab:
„Kommt a Küche … in die Küche kommt er, ja … geh da hin, dadum.“
„Ah, in die Küche geht er, Herr P.? Na sowas. Und ist er jetzt wieder in der Küche?“
Herr P. bellte: „Dadum, da geht er hin.“
„Wirklich, das macht er?“, fragte ich im Tonfall betreuerlicher Anteilnahme. „Ja wieso geht der immer in der Küche? Stört Sie das?“
Herr P. saß da, mit seinem durch die geschlossenen Augen immer etwas kummervoll wirkenden Gesicht. Dann bellte er „Lebt er!“ in militärisch schmetterndem Ton.
Whoa. Was für eine Interaktion!
Aber war es überhaupt eine?
Ich war wie betrunken und fing sofort an, an dem Gesagten herumzudeuten. Da kam also jemand in die Küche, dachte ich, entweder weit in der Vergangenheit oder in der Gegenwart des Seniorenheims, und das störte Herrn P. offenbar. Ich war einem Geheimnis auf der Spur. Vielleicht nutzte Herr P. die Aufenthalte im Portierhäuschen zum Dampfablassen über unzumutbare Zustände im Heim.
Besuch in fremden Träumen
In den Wochen darauf arbeitete ich daran, den Herr-P.-Code weiter zu entschlüsseln. Wahrscheinlich schwebte mir etwas vor wie in dieser Passage in Lawrence Weschlers Buch And How Are You, Dr. Sacks?, einem Memoir über Weschlers jahrzehntelange Freundschaft mit dem Schriftsteller und Neurologen Oliver Sacks. Dort wird ein Versuch geschildert, einen Mann namens Gerald, der im Endstadium seiner Krankheit innerhalb eines Monats in ein tiefes urämisches Delirium fiel, durch geduldige Befragung noch irgendwie zu erreichen. Dr. Sacks wird von Weschler zitiert mit den Worten: „Er war ein murmelnder alter Mann, mit dem süßlichen Atem der Urämie auf seinen Lippen.
Ich ging jeden Tag zu ihm. Er galt allgemein als ein eher uninteressanter Patient. Aber mich faszinierte sein Delirium und ich hörte ihm stundenlang dabei zu, was ich als ein erstaunliches Privileg empfand, so als wäre man in einem Traum anwesend. Und während ich ihm zuhörte – denn selbst das Delirium verwendet als Bausteine immer reale Erfahrungen und Motive und Persönlichkeitsanteile –, konnte ich seine innere Landschaft allmählich immer deutlicher erkennen.
Schließlich fing ich an, selbst Bemerkungen einzustreuen, also sozusagen seinen Traum zu betreten. Ich glaube, er empfand eine Art von grauenvoller Entfremdung und Einsamkeit in seinem Delirium, aber nun wurde eine gewisse Wärme und Ausleuchtung dieser inneren Welt möglich. Ich konnte ihn begleiten, ohne zu urteilen. Ich teilte seine Angst und seinen Humor und, so zumindest stelle ich es mir gern vor, erleichterte ihm durch meine Gegenwart die Reise.“
Immer neue Theorien
Natürlich dachte ich damals über Herrn P. nicht in so deutlichen Begriffen, aber ich weiß noch, dass mich seine abgehackten, getakteten Reden für einige Tage so sehr beschäftigten, dass ich sogar von ihnen, nein, in ihnen träumte. Der Traum war sehr unangenehm, gehetzt und hautnah.
Und eine Weile dachte ich auf meine überkluge, wichtigtuerische Art auch über die Möglichkeit nach, dass Herr P. vielleicht an etwas wie dem Charles-Bonnet-Syndrom litt, bei dem erblindete oder sehbehinderte Menschen visuelle Halluzinationen erleben, die nach der Art eines Films, ihrem Bildinhalt nach oft von auffallender Harmlosigkeit und Monotonie, vor ihnen ablaufen. Vielleicht zählte er mir einfach auf, was er gerade sah, und meine Antworten bauten sich dann irgendwie in den Strom der sinnlosen Visionen ein? Sollte ich genauer mitschreiben? Oder mehr interagieren?
Immer hatte ich irgendeine Theorie.
„Herwagen soll er si, herwagen, wagen, wagen, da wagen, da wagen.“
Kunterbunte Wortschöpfungen
Das ist ein originaler Satz von Herrn P., festgehalten in meinem Tagebuch. Ich höre auch heute noch seine Stimme dabei, seine raue und fauchige Art der Mitteilung. Aber dummerweise habe ich gerade die kunterbunten Wortschöpfungen, die Herr P. oft verwendete und die mich am meisten elektrisierten, nirgends niedergeschrieben – und inzwischen leider auch vergessen. Sie klangen ungefähr so:
„Wenn er dann geht, dann geht der in die Küche, ja, da hat er die Küche dann, da hat er die Küche, gehst was essen, ja … is scho recht…“
„Ah, geht er schon wieder in die Küche, Herr P.? Was macht er denn heute da?“
„Tu nur essen, is recht … dann Beinschränke, Beinschränke…“
„Beinschränke?“
„Hat er, hat er!“
Zum Kuckuck
Bloß dass es eben etwas viel Besseres war als das jetzt von mir nachträglich erfundene Beinschränke. So ein erfundenes Wort wurde von ihm in der Regel besonders gepresst intoniert, als ginge ihm durch die zusätzliche Anstrengung der Wortkreation die Atemluft aus. Manchmal schloss er eine Satzeinheit mit einem derart unerwarteten Wort, dass ich lachen musste. Herr P. lachte nie mit.
Er war ein ernster Mensch, der sich, wie mir vorkam, geduldig bemühte, mir irgendetwas begreiflich zu machen. Aber gelegentlich fing er auch, indem er ein wenig in die Hände klatschte, in überraschend unrhythmischer und um vieles weicherer Stimme zu fluchen an: „Zum Kuckuck, zum Kuckuck, na, hol’s da Kuckuck…“, und immer so weiter, in einem Loop, und dann konnte es vorkommen, dass er am Ende selbst kurz kopfschüttelnd auflachen musste.
Manchmal schwiegen wir, zehn Minuten, eine halbe Stunde, zwei Stunden. Mit der Zeit gewöhnte ich mir an, diese Schweigephasen fürs Lesen zu nutzen. Es kam mir etwas unhöflich vor, gerade weil Herr P. blind war und nicht sehen konnte, dass ich las und ihn ignorierte, aber ich erlaubte es mir durch die Begründung, dass Romanelesen ja etwas sei, dass uns gut trainiert, das Delirium eines anderen Menschen zu begreifen.
Ein genuines Versprechen
Ich schrieb damals ein wenig über die Unterhaltungen mit Herrn P. in mein Tagebuch, schreckte aber aus irgendeinem Grund davor zurück, die Sätze selbst festzuhalten. Vielleicht erschienen sie mir wie etwas, das man sich allzu leicht als Ohrwurm einfangen konnte. Ich wollte nicht in ihnen denken.
Ich glaube, man kann daran ablesen, dass ich in meinem innersten Kern kein echter Dichter bin. Was heißt „echt“? Zugegeben, ein seltsames Wort. Was ich meine, ist zum Beispiel jemand wie meine Kollegin Stefanie Sargnagel, die in ihrem vor kurzem erschienenen Roman Dicht all die ungewöhnlichen, kunterbunten und elektrisierenden Sätze eines Mannes festhält, den sie in ihrer Jugend kannte und der für sie zu einer großen Inspirationsfigur wurde: Michi, ein HIV-positiver, alkoholabhängiger Kneipenphilosoph, in dessen Wohnung alle möglichen Jugendlichen und poetischen Existenzen abhängen.
Als ich dieses ungewöhnlich liebevolle Porträt las, dachte ich mir voller Bewunderung: Für einen guten Satz wäre diese junge Frau sogar in die Hölle gegangen. Die Art, wie diese teilweise fast gefährlichen oder paranoid-schizophrenen oder ganz einfach schief in den Scharnieren des Lebens hängenden Gestalten sich sprachlich ausdrücken, scheint für sie – und eine Handvoll ähnlich verdrahteter Jugendlicher – nicht nur eine Art Lockmittel, ein attraktiver, cooler Sound gewesen zu sein, sondern so etwas wie das genuine Versprechen einer größeren, helleren Welt.
Enträtseln
Ich dagegen wollte nur „das Problem lösen“. Aber wie wir gleich sehen werden, hätte mich ein sargnagelscherer Zugang dem Grund des vermuteten Geheimnisses vielleicht viel nähergebracht.
Ich glaubte inzwischen, einzelne sich wiederholende Szenen in Herrn P.s Reden aufgespürt zu haben. Er redete zum Beispiel gern von einem Boden. Also lagen da bei ihm wohl Dinge auf dem Boden. Ein blinder Mensch stolpert vermutlich leichter über Dinge auf dem Boden, dachte ich, also beschäftigte ihn das. Dann war da ein anderer Komplex von Bemerkungen über etwas „in der Küche“, was vielleicht mehrere Menschen meinte.
Dann eine Sache mit jemandem, der wegging oder weggehen sollte oder nicht weggehen sollte, die genaue emotionale Bewertung des Weggehens war mir unklar, aber ich stellte mir die sich um den Bedeutungskern „geht er weg, da geht er, geht er“ bildenden Sätze und Satzteile als Berichte eines Menschen vor, der sich von jemandem verabschiedet.
Peinliche Imitationen
So weit hatte ich also das Rätsel dekodiert. Gab es jemanden, dem oder der ich von meinen Entdeckungen berichten konnte? Nicht wirklich. Einmal versuchte ich es (bei einem Rendezvous), steigerte mich dabei aber so sehr in eine Imitation der abgehackten Rede hinein, dass der Augenblick kippte und mir die ganze Sache peinlich wurde.
Langsam ging mein interessanter Sommer zu Ende. Der alte Portier kam aus dem Urlaub zurück. Meine Rekonstruktion von Herrn P.s verschüttetem Innenleben war in meinem Kopf ausgearbeitet, ich hatte darin Bilder seiner Kindheit und Jugend ausgemacht, neben schlaglichtartig erhellten Szenen aus seinem (wie ich automatisch annahm) sehr tristen Heimalltag.
Eines Tages kam ich am frühen Morgen am Portierhäuschen vorbei und sprach kurz mit dem Portier, der trotz seiner Freundlichkeit und der lauten Stimme ein eher beherrschter und smalltalkscheuer Mann war. Da bemerkte ich, dass Herr P. gerade dabei war, sich am Geländer in unsere Richtung zu tasten. Er machte einen nassgeregneten und zerzausten Eindruck.
„Guten Morgen“, sagte ich.
„Ja. Ja.“
Die Erkenntnis
Der Portier ließ ihn in die kleine Stube. Ich plapperte schnell irgendetwas daher, denn ich wollte unbedingt noch eine Weile vor dem geöffneten Fensterchen stehenbleiben und mitbekommen, wie die Interaktion der beiden Männer verlief. Um nicht allzu verdächtig oder neugierig zu wirken, erwähnte ich, dass Herr P. während der Urlaubszeit des Portiers immer zu mir zu Besuch gekommen sei.
„Ach so ist das“, sagte der Portier.
Ich redete über irgendwas, Herr P. saß stumm im Hintergrund der kleinen Kammer, und dann – Gott sei Dank! – sagte er tatsächlich etwas in seiner üblichen Art. Einen seiner charakteristischen Sätze, mit den stolpernden Wiederholungen. Ich fragte mich, ob der Portier, der ihm vermutlich schon seit Jahren zuhörte, mehr über die innere Bedeutung dieser Reden wissen konnte als ich.
„Da geht er, die Küche, aha, ja, da geht…“
„Ja, machma gleich“, sagte der Portier und stand auf.
„Geht a, geht a, geht a…“
„Kommt schon, Karli, kommt schon.“
So erfuhr ich auch, wie Herr P. mit Vornamen hieß. Der Portier ging nun zu ihm, fasste mit der Hand an ihm vorbei, wobei er mit seiner anderen Hand die Schulter des alten Mannes behutsam festhielt, damit dieser sich nicht vor der plötzlichen Nähe eines irgendwo aus dem Nichts gekommenen Arms schreckte.
Staunend verfolgte ich die Szene.
Der Portier schaltete das Radio ein.
Das heißt, nein, er drückte unten auf dem Gerät auf Play und eine Kassette fing an zu spielen. Marschmusik ertönte.
„Er tut bei mir gern Musik hören“, erklärte der Portier und setzte sich zurück auf seinen Platz hinter dem geöffneten Sprechfenster.
Der Ausdruck in Herrn P.s Gesicht hatte sich verändert. Es zeigte Aufregung, Befriedigung, Heiterkeit.
Ersehnte Musik
Und wie habe ich reagiert? Gelacht? Rot geworden? Geheult vor Scham? Ich kann es nicht sagen. Immerhin wusste ich nun, was Herr P. die ganze Zeit von mir gewollt hatte. Er hatte nichts, was er sagte, wörtlich gemeint, sondern rhythmisch. Eine ersehnte Musik war ihm durch den Kopf gegangen, aber er konnte nach ihr nicht mehr in durchformulierter Sprache verlangen, sondern sie nur noch mit Wörtern imitieren, in der Hoffnung, der Zuhörer würde die Ähnlichkeit erkennen.
Darauf wäre ich nie gekommen. Alle meine schönen Theorien waren Blödsinn gewesen.
„Mit am echten Boden, echten Boden“: Vielleicht hörte sich ein bestimmtes Musikstück für ihn so an. Oder es waren aphasisch wiedergegebene Liedtexte. Oder einfach der nackte Rhythmus des jeweiligen Stücks, dessentwegen er jeden Morgen den beschwerlichen Weg vom Heimgebäude quer durch das ganze Institutsareal bis zum Portierhäuschen unternahm. Vielleicht klangen für ihn gewisse Percussioninstrumente wie echtenboden echtenboden, oder er verwendete, wenn sich der Rhythmus im Kopf einstellte, eben die Wörter, die gerade greifbar wurden, so wie manche Leute es für das Erlernen des Beatboxens empfehlen („Katzentatze Katzentatze…“).
Eine Notiz
Das alles war vor mehr als zwanzig Jahren. Aber es fällt mir immer wieder ein. Ein Freund, der heute 42 ist, legt seit einigen Jahren eine Liste von Liedern und Musikstücken an, mit denen man ihn dereinst, wenn er demenzkrank und auf keinem anderen Wege mehr erreichbar ist, ein wenig wird aktivieren können. „Es führt ja niemand Buch über meinen Musikgeschmack“, erklärte er mir. „Stell dir vor, sie nehmen irgendwann die falsche CD und ich bleib verloren.“
Ich fand das sehr schön. Aber was er vielleicht noch hinzufügen sollte, ist eine Notiz für die mit seiner Versorgung betrauten Menschen der Zukunft, die sie an die Möglichkeit von Musik erinnert. Denn wenn sie, so wie ich, daran einfach nicht denken, wird er trotz der detailliertesten Listen verloren bleiben oder zumindest unzufrieden und gelangweilt wie der alte Herr P. in jenem trägen, schweigsamen Sommer des Jahres 2000.
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, studierte Mathematik und Germanistik. Er arbeitet als Schriftsteller und Übersetzer. Jüngst wurde ihm der Georg-Büchner-Preis 2021 zuerkannt; er erkunde in seinen Texten „menschliche Grenzbereiche“, heißt es in der Begründung. Setz lebt in Wien
5 Bücher von Clemens J. Setz
Die Bienen und das UnsichtbareIn diesem irgendwo zwischen Sachbuch, Erzählung, Tagebuch und Lyriksammlung angesiedelten Band geht es um Plansprachen, von Blissymbolics bis Esperanto, und um die Menschen, die sie erfunden haben oder die in ihnen dichten. Bei Setz wird selbst ein Bibliotheksbesuch zur Reportage. Suhrkamp 2020
Der Trost runder Dinge In den hier versammelten Erzählungen schreibt Setz über das Absurde und Groteske des menschlichen Zusammenlebens. Das ganz und gar Unerwartete bricht in das Leben seiner Figuren ein. Suhrkamp Taschenbuch 2020
Bot. Gespräch ohne Autor Setz soll aus seinem Leben erzählen. Aber ihm fällt nichts ein. Wie gut, dass ein Clemens-Setz-Bot bereitsteht, der die Aufgabe übernimmt: eine ins elektronische Tagebuch ausgelagerte künstliche Seele des Autors, die bereitwillig Auskunft gibt. Suhrkamp 2018
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre Der Roman handelt von einem Mann mit unberechenbarem Temperament, der im Rollstuhl sitzt. Zur Verwunderung seiner Betreuerin im Wohnheim erhält er jede Woche ausgerechnet von jenem Menschen Besuch, dessen Leben ihr Schützling vor Jahren zerstört haben soll. Suhrkamp Taschenbuch 2017
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In unserer Serie Der Essay schrieben bisher:
Asal Dardan über das Gefühl des Verlassenseins und wie es die Augen öffnen kann: Vom Festhalten an der Normalität, Heft 7/2021
Terézia Mora über die Kunst der Bewältigung und die Bewältigung mithilfe der Kunst: Von Etwas der Staub, Heft 4/2021
Andreas Maier über zweierlei Umgang mit menschengemachten Geräuschen: Vom Schließen und Öffnen der Ohren, Heft 2/2021
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