In meiner Erinnerung höre ich einen Wasserhahn tropfen, auch wenn ich weiß, dass er es damals nicht tat. Es herrschte absolute Stille, nur ich und das Wasser. Ich war sieben Jahre alt und saß in der Badewanne. Ich wartete darauf, dass die beste Freundin meiner Mutter zurückkam. Sie hatte mir das Badewasser eingelassen und war dann zur Telefonzelle gegangen, um ein paar Anrufe zu erledigen. Sie wollte sich im Krankenhaus nach meiner Mutter erkundigen und danach mit ihrem Ehemann sprechen, der in Starnberg…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
wollte sich im Krankenhaus nach meiner Mutter erkundigen und danach mit ihrem Ehemann sprechen, der in Starnberg geblieben war. Sie war ein paar Tage vorher zu uns nach Köln geeilt, damit jemand auf mich aufpassen würde.
Das Tropfen des Wasserhahns ist vermutlich eines jener Dinge, die man nachträglich in seine Erinnerung einbaut. Ein filmisches Element, geradezu ein Klischee, das Stille vermitteln soll, indem es sie bricht. Das Chaotische des Erlebens wird strukturiert, Zeit erlebbar gemacht: Tropfen. Nichts. Tropfen. Nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Das Wasser wurde immer kälter, mein Herz immer enger, meine Gedanken immer sprunghafter. Erst ging ich in meinem Kopf mehrmals den Weg von unserer Hochhauswohnung bis zur Telefonzelle ab. Ich begleitete die Frau, die ich meine Patentante nannte, auf ihrem Weg hin zur Straße und weg von mir. In den Tagen davor, als meine Eltern gegangen waren, hatte ich es versäumt, diese gedankliche Übung durchzuspielen. Vermutlich, weil es keine Ankündigung gab, kein „Ich bin mal kurz weg!“, keine für ein Kind erkennbaren Anzeichen dafür, dass sie gehen würden.
„Wir waren keine Fremden
Heute denke ich, dass mein Vater die Flucht, ihre Ursachen und ihre Folgen, nicht überwinden konnte, dass er sich immer stärker von der Realität um uns herum abspalten musste, damit sie für ihn Sinn ergab. Meine Mutter und ich waren auf unterschiedliche Weise davon betroffen, dass dieser Mensch, den wir liebten, nicht dort ankommen konnte, wo wir gemeinsam waren. Meine Mutter muss immense Kraft aufgebracht haben, um mich vor dem, was tatsächlich mit uns als Familie geschah, zu schützen. Ich kriegte nicht mit, wie sehr die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben haderten und sich auseinanderentwickelten. In meiner kindlichen Wahrnehmung waren wir zu dritt in einer Wohnung und dann waren wir es plötzlich nicht mehr.
Es war das einzige Zuhause, das ich bis zu dem Moment gekannt hatte, auch wenn ich meine ersten Schritte in einem Haus über fünftausend Kilometer entfernt gegangen war. Ich ging sie bei meiner ersten Geburtstagsfeier, die meine Eltern den politischen Umständen zum Trotz für mich organisierten. Zu meiner Feier waren viele Menschen gekommen, die uns kannten, die mit meinen Eltern befreundet oder verwandt waren. Auf den Fotos sehe ich aus wie ein Püppchen mit großen dunklen Locken, ich trage eine weiße Rüschenbluse und einen blau-weißen Schottenrock. Hinter mir sieht man immer einen Arm, er gehört vermutlich meiner Mutter oder meinem Vater, die sicherstellten, dass ich bei meinen ersten Gehversuchen nicht umfiel. Ich war nicht allein, wir waren nicht allein. Wir waren keine Fremden.
Kurze Zeit später flohen meine Eltern aus dem Iran. Sie hatten gefälschte Papiere, um das für sie nicht mehr sichere Heimatland verlassen und Schottland erreichen zu können. Sie schafften es bis nach Deutschland, durften aber nicht mehr weiterreisen. Also wurde ich Deutsche und keine Schottin. Ich weiß nicht viel über ihre letzten Tage in Teheran und die ersten in Köln. Ich weiß, dass sie sich Aberdeen als Ziel ausgesucht hatten, weil meine Großmutter und zwei meiner Tanten bereits seit einigen Jahren dort lebten. Den Schottenrock, den ich auf meiner Feier trug, hatte uns eine dieser beiden Tanten geschickt. Als alle noch im Iran gewesen waren, hatten die Schwestern meiner Mutter schottische Männer kennengelernt, Pat und George, zwei Kumpel mit dichten Schnurrbärten. Sie arbeiteten für einen Ölkonzern und hielten sich deshalb für längere Zeit im Iran auf. Recht bald hatte es eine Doppelhochzeit gegeben – das offene Haar meiner Tanten war geschmückt mit weißen Blumen, meine vierzehnjährige Mutter trug ein weißes Minikleid und kniehohe weiße Lederstiefel, die Gäste tranken Champagner und tanzten ausgelassen zu iranischer und englischsprachiger Popmusik. Niemand der Anwesenden wusste, dass all das in einigen Jahren nicht mehr erlaubt, nicht mehr normal sein würde.
Ein kollektives Trauma
Die historischen Ereignisse, an die wir uns erinnern, sind nun einmal eingebettet in den Alltag von Menschen, deren Leben und Realitäten hinter diesen Ereignissen verschwinden. Leben werden gelebt, Tode gestorben und dazwischen Umarmungen, schmatzende Münder, wischende Hände, Seufzen und Reden und Atmen.
Ich saß also sechs Jahre nach unserer Flucht in dieser Kölner Badewanne, weil das Land, in dem meine Eltern sich als Liebende fanden, nicht das blieb, in dem sie als Eltern bleiben konnten. Und es war auch nicht das Land, Schottland, in dem sie im Exil ihre Familie wiederzufinden hofften. Eine Flucht mag zeitlich begrenzt sein, ihre Wirkung ist es nicht. Zu flüchten bedeutet, dass man einen Ort, an dem man vermutlich gern geblieben wäre, verlässt und an einem anderen Ort, von dem man nicht wusste, dass man dort landen würde, ankommt. Man trägt Ängste, Schmerz und Nostalgie ebenso in sich wie Hoffnung, Erleichterung und Erwartung. Eine dissoziative Erfahrung, die tief nach innen und außen wirkt, manchmal sogar über Generationen hinweg.
Wenn man bedenkt, wie viele Menschen bis zum heutigen Tag geflohen sind, fliehen mussten und müssen und noch werden, dann spricht man mit Recht von einem kollektiven Trauma. Doch erlebt wird dieses Trauma eben nicht kollektiv, sondern einzeln und vereinzelt. Es ist gerade das Getrenntsein von allem und jedem, das dieses Erlebnis so traumatisch macht. Man passiert Grenzen und erkennt, wie viele andere Grenzen sich plötzlich auftun – der Sprache und des Verstehens, der Verbundenheit und der Zugehörigkeit.
Es macht einen Unterschied
Ich bin mitten in die Revolution hineingeboren, die als die Islamische in die Geschichtsbücher eingegangen ist, aber im Moment ihres Entstehens noch zu allem hätte werden können. Selbst zu nichts, so wie bei anderen großen Umbrüchen in dem Land. Im Großen führte sie viele Menschen zu Desillusionierung, noch mehr Gewalt, Restriktion und Angst; im Kleinen führte sie meine Familie nach Deutschland und in eine ungewisse Situation.
In den Wochen vor meiner Geburt, im ersten Monat des islamischen Kalenders Muharram, der damals am 2. Dezember begann, zogen Millionen Menschen auf die Straßen Teherans. Sie schlossen sich den Protestmärschen rund um das damals noch Shahyad-Turm genannte Wahrzeichen der Stadt an, sie wollten sich vom Schah und seinem Regime befreien, ein freies Volk werden. Als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten, hatten die Muharram-Proteste einen Höhepunkt erreicht. Es war historisch einzigartig: Das Land befand sich in einem Generalstreik, in den Städten protestierten zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Auto meiner Eltern wurde auf dem Weg zum Teheraner Krankenhaus von den Massen aufgehalten und musste ihnen ausweichen. Ob meine Eltern an dem Wahrzeichen vorbeikamen, weiß ich nicht. Heute heißt es jedenfalls Freiheitsturm. Trotz dieser Umbenennung kamen dreißig Jahre später erneut Millionen Menschen dort zusammen, um sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. Die Mächtigen waren andere, aber die Form der Macht, ihre Brutalität hatte sich kaum geändert.
An dieser Stelle darf ich nicht zu abstrakt werden, nicht zu hochtrabend. Denn auf individueller Ebene macht es einen Unterschied, wer Macht hat und wer nicht, gegen wen sich der Protest richtet und wer Anlass hat zu protestieren. Im Winter der Revolution, der auch der Winter meiner Geburt war, repräsentierte der Mann, der mein Vater sein würde, diese Macht. Er war mitgemeint, als die Menschen auf der Straße „Nieder mit dem Schah! Nieder mit den SAVAKis!“ skandierten. SAVAK, das war der über die Landesgrenzen hinaus gefürchtete brutale Geheimdienst des Schahregimes. Nicht alle der damals Demonstrierenden wollten einen religiösen Staat, viele schlossen sich den Massen an, weil sie sich mehr Autonomie und Freiheit und bessere Lebensverhältnisse erhofften. So oder so: Was danach kam, legitimiert nicht, was davor gewesen ist. Wie also konnte mein Vater für den SAVAK arbeiten und damit etwas vertreten, von dem sich Menschen zu Recht befreien wollten? War das, was er vorher lebte und erlebte für ihn normal?
Eine Stellung der Bequemlichkeit
Die Flucht nach Deutschland ließ mich in der Vorstellung aufwachsen, mein Vater sei unschuldig verfolgt worden. Es erlaubte mir als Erwachsene, als kaum noch Iranerin, diese späteren Proteste aus der Ferne zu beobachten, voller Anteilnahme und Hoffnung, bewegt vom grünen Meer der Hoffnung und des Muts. Aber auch mit einem leisen Schuldgefühl, weil ich diesen Mut nicht aufbringen, nicht um meine Freiheit kämpfen musste. Ich hatte mich bisher allerdings nicht damit auseinandergesetzt, warum das der Fall war.
Als ich damals als Siebenjährige in der Badewanne saß und noch nicht wusste, dass mein Vater mein Leben dauerhaft verlassen hatte, war ich noch zu jung, um Fragen zu stellen oder Antworten zu fordern. Ich weiß also nichts über seine persönliche Verantwortung und seine Taten, aber ich weiß, dass er etwas als normal akzeptiert haben muss, das für viele andere Menschen falsch und gewalttätig war. Zwei unterschiedliche Realitäten, die parallel existierten. Mindestens zwei. Ich frage mich, wie man ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass jenes, das als verbindlich gilt, nicht verbindend wirkt? Wie lange kann etwas Bestand haben, das längst nicht mehr als normal gelten sollte?
Mein Vater hatte eine gewisse Stellung, eine Bequemlichkeit gewählt, die darauf aufbaute, dass andere Menschen Repressionen und Unterdrückung ausgesetzt waren. Die Gewalt kehrte sich irgendwann gegen den Apparat, der sie zu verantworten hatte. Mein Vater war ein Teil von ihm, weshalb er fast alles verlor, das sein Leben bis dahin ausgemacht hatte. Ich lernte ihn nur in dieser Gebrochenheit kennen, auch wenn ich sie in meiner kindlichen Wahrnehmung nicht bemerkte, weil er natürlich der liebste und beste Vater war, den es gab. Er war unfehlbar, wie viele Eltern es für ihre Kinder sind. Seine Traurigkeit machte ihn für mich nur noch größer, weil er so viel Leid und Verlust ertragen hatte und dennoch dort mit mir war.
Die Erfahrung, etwas zu verlieren
Vielleicht erlaubte ich mir später auch aus diesem Grund nicht, seine Abwesenheit infrage zu stellen oder zu betrauern. Meine Eltern mussten eben auf unbestimmte Zeit und aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedliche Krankenhäuser. Erst mein Vater, weil er eine andere Realität wahrnahm, dann meine Mutter, weil sie mit dieser Realität zurechtkommen musste. Ich besuchte meine Mutter ein paar Mal, sie versprach, dass sie bald wieder bei mir sein würde. Für den Moment konnten meine Eltern mich nicht umsorgen, weil sie nun selbst umsorgt werden mussten.
Ich saß in der Badewanne und war mir sicher, dass ich nun nicht nur meine Eltern, sondern auch meine Patentante verloren hatte. Man hatte mich erneut verlassen. In gewissem Sinn war für mich die Erfahrung, etwas zu verlieren, eine ganz natürliche. Ob Länder und Zusammenhalt, Familien und Gewissheiten, Eltern und Sicherheit. Passiert.
Aus einer stabil wirkenden Konstellation wurden drei fragile Einzelne. Als Einzelne musste ich jetzt einen Plan entwickeln. Ich fragte mich noch eine Weile, was meine Patentante aufhielt. Ich überlegte, was sie meinem Patenonkel wohl erzählen würde. Sicher hatte er ja auch etwas zu erzählen, vielleicht sogar ganz viel und deshalb war sie so lange weg. Sie würde mich bestimmt nicht im Stich lassen, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ihr musste also etwas zugestoßen sein. Je länger ich wartete, desto wahrscheinlicher erschien mir das. So zerbrechlich war die Verbindung zwischen ihr und mir, dass niemand jemals an mich als Kontaktperson gedacht hätte. Ein iranisches Kind in einer leeren Hochhauswohnung, was hatte es mit dieser rothaarigen, großgewachsenen Frau, die in einem Haus in der Nähe des Starnberger Sees lebte, zu tun?
Ein Recht auf Beachtung und Fürsorge
Ich ging also dazu über, eine Lösung für meine Verlassenheit zu finden. Ich saß dort und überlegte, welche Menschen in den jeweiligen Nachbarswohnungen lebten, ob sie nett und hilfsbereit wirkten, ob sie sich zu dieser Stunde von mir gestört fühlen würden. Ich sprach mir Mut zu, sagte mir, ich müsse nun das kalte Bad verlassen und mich abtrocknen. Ich stellte mir vor, wie ich mich endlich bewegen würde, aufstehen, Handtuch nehmen, abtrocknen. Und dann noch einmal und noch einmal. Ich wusste, was ich tun würde, was ich tun sollte. Aber ich musste es immer wieder durchgehen, um mich zu vergewissern, dass ich alles richtig machen würde. Ich überlegte mir, wessen Klingel ich zuerst drücken würde, und versuchte mir zurechtzulegen, was ich sagen könnte, wenn jemand öffnete. Ich sagte mir sogar ein paar Mal meinen eigenen Namen, um mir sicher zu sein, dass ich nicht verdächtig stottern würde. Ich wollte nicht panisch wirken, klar sprechen, damit sie wussten, wie gut ich sprechen konnte. Fehlte mir bereits als Siebenjährige das Vertrauen, dass mir in diesem Gemeinwesen ein Recht auf Beachtung und Fürsorge zustand? Ich blieb jedenfalls sitzen und fror, wollte mich so wenig wie möglich bewegen, so wenig wie möglich atmen.
Heute kann ich nicht mehr sagen, ob ich damals insgeheim doch die Hoffnung hatte, alles würde wieder in Ordnung kommen, wieder normal werden. Dabei weiß ich nun als Erwachsene, dass auch schon die Jahre davor kaum normal waren. Klar hatten meine Eltern und ich in all diesen Jahren auch sehr normale Dinge getan – gegessen und geschlafen, gelacht und uns gelangweilt, Weihnachtsschmuck aufgehängt und wieder abgehängt, Ostereier bemalt, auf dem Sofa gekuschelt und Fernsehen geguckt. Wir waren wohl das, was man konventionell eine Familie nennt: Mutter, Vater, Kind. Heute kommt es mir vor, als herrschte eine sehr spezielle Einsamkeit und Trauer um uns herum, als sei dieses Gefühl, verlassen zu sein, und auch meine immerwährende Furcht davor, verlassen zu werden, bereits in diesen Tagen der vermeintlichen Normalität angelegt gewesen.
Aber gibt es überhaupt eine von Unsicherheit, von Trauma und Leid befreite Normalität? Die Minuten in der Badewanne stehen jedenfalls rückblickend für jenen Moment in meinem Leben, in dem sich für mich eine Vorstellung von dem, was dieses Normale und Erwartbare ist, unwiederbringlich aufgelöst hat. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht meine Wahrnehmung reguliert, dass ich mich nicht immer wieder an gewöhnlichen Abläufen und Vorstellungen festhalte. Denn solange sie laufen, so die Hoffnung, läuft auch alles andere weiter. Selbst wenn man eigentlich weiß, dass das nicht der Fall ist.
Aufgegeben, das Übliche zu erwarten
„Es war erstaunlich, wie hartnäckig, wie unerschütterlich man versuchte, ein normales Leben zu führen“, schreibt Doris Lessing in Die Memoiren einer Überlebenden. Der Roman fiel mir in den ersten Wochen der Pandemie in die Hände, einer jener magischen Zufälle. Ein schmales Buch, erschienen 1974, in dem ich etwas über mich und meine Zeit erfahren habe.
Auf den ersten Seiten begegnet man einem jungen Mädchen, ein bisschen älter als ich damals. Warum sie ein neues Zuhause braucht, wird nicht erklärt, aber sie findet Obhut bei einer Fremden. Diese Frau trägt uns durch die Geschichte, beschreibt, wie das Mädchen in ihrer Wohnung auftaucht und versucht, so gefällig und unauffällig wie möglich ihren neuen Platz einzunehmen. Um sie herum findet zeitgleich ein großer Umbruch statt, von dem man nicht genau erfährt, was sein Ursprung ist oder was ihn ausmacht. Man erfährt sehr lange kaum mehr, als dass außergewöhnliche Dinge vor sich gehen, dass Menschen verschwinden und Sachen ihren Wert verlieren, dass das Leben und Zusammenleben in seiner gewöhnlichen Form nicht mehr existiert: „Ich hatte es aufgegeben, für meine innere Welt, mein reales Leben in diesem Haus das Übliche zu erwarten.“ Aber was sie und auch das junge Mädchen im Laufe der Geschichte zeigen, ist, dass man sich selbst in all dem suchen und finden muss, sich selbst als Mensch, als Ich. Denn auch wenn sich alles ändern kann, auch man selbst, das Menschliche bleibt.
Lessing wurde in Kermnschh geboren, bevor das Land Iran hieß. Als sie fünf Jahre alt war, zogen ihre britischen Eltern mit ihr in das heutige Simbabwe, das damals noch eine britische Kolonie war und den Namen Südrhodesien trug. Nach der Islamischen Revolution wollte das neue iranische Regime alle Verbindungen zur Monarchie tilgen und versuchte, Lessings Geburtsstadt umzubenennen. Sie ist Teil Kurdistans – ein Begriff, der hart umkämpft und in vielen Regionen der Welt zusammen mit den Menschen, die mit ihm assoziiert werden, unterdrückt wird. Ich glaube nicht, dass dieser Geburtsort mich mit Lessing verbindet, aber ich fühle mich als Autorin mit ihren geschriebenen Worten verbunden: „Man gewöhnt sich an alles. Das ist natürlich ein Gemeinplatz, aber vielleicht muss man einmal eine solche Zeit mitmachen, um die furchtbare Wahrheit dieses Spruches zu begreifen.“
Die Gelegenheit des Einschnitts
Noch mehr als meine persönliche Geschichte führte mir die Lektüre ihres Romans vor Augen, wie ich manche Dinge ganz selbstverständlich in meinen Alltag integriert hatte, die ich vor kurzem noch alles andere als normal gefunden hätte. Plötzlich kam es mir absurd vor, dass ich beispielweise Masken bügelte, damit sie nicht so zerknittert im Gesicht hingen. Es war ein absurdes Element, das Teil meiner Realität geworden war und das ich eine Weile lang gar nicht als absurd wahrgenommen hatte. Die Pandemie stellt so vieles infrage, das als normal gilt und bei näherer Betrachtung doch kaum noch sinnvoll oder vernünftig erscheint. Aber man möchte sich und vermutlich auch anderen so dringend den „reibungslosen Ablauf der Zivilisation“ vorspielen, dass man eben auch mal Masken bügelt. Dabei frage ich mich immer wieder, woraus diese Zivilisation besteht, insbesondere in Momenten, in denen mir bewusst wird, wie viele verlassene Menschen sie duldet, wie sie uns trennt.
Vielleicht liegt ja gerade darin eine Gelegenheit dieses Einschnitts: Dass wir in dieser unnormalen Zeit der Pandemie allesamt aus dem Rahmen des Vertrauten getreten sind, könnte den Blick weiten und empfänglicher machen für vieles, über das wir hinweggesehen haben. Ich glaube jetzt, da wir allesamt durch eine seltsame Zeit der Vereinzelung gegangen sind, sollten wir uns unsere Realitäten erst recht nicht gegenseitig absprechen und erschweren. Wir erkennen doch, dass in der „Normalität“ vieles nicht reibungslos und zum Teil auch kaum noch zivilisiert läuft: Eltern werden seit über einem Jahr alleingelassen mit der Belastung, Kinder im Lockdown zu betreuen und dennoch zu arbeiten und ihre Mieten zu zahlen; Hotels stehen leer, aber Menschen schlafen auf der Straße; behinderte, alte und chronisch kranke Menschen werden abgewertet in Debatten darüber, welche Leben im Zweifel zu retten seien, sollte es an Intensivbetten für alle fehlen – als hätten wir den ersten Paragrafen unseres Grundgesetzes vergessen.
Aufhören, nach Worten zu suchen
Das Einrichten in der vertrauten Normalität ist ein Privileg, es macht manchmal auch selbstgefällig, lullt ein. Jetzt, da das System stottert und ächzt, zeigt es uns eben darum noch deutlicher, wo es versagt, vernachlässigt, verdrängt und vergisst. Es gibt zu viele Menschen in nicht zumutbaren Lebenssituationen, die anders sein könnten, wenn die Gesellschaft die Beachtung ihrer Leben und Bedürfnisse eben auch als Normalität ansehen würde. So oft geben Menschen dem ersten Impuls nach, nicht wohlwollend, sondern gleich drosselnd auf die Äußerung anderer Realitätswahrnehmungen zu reagieren, auf Forderungen einer Veränderung, die diesen anderen Realitäten gerecht wird. Dieses Beschwören der Normalität, das Fordern, dass Menschen sich zusammenreißen, das Hinnehmen des Status quo werden nicht helfen, nicht gesellschaftlich und auch nicht persönlich. So wenig, wie es uns als Familie geholfen hat.
Das alles habe ich als Kind natürlich noch nicht gewusst, nicht gedacht. Aber ich habe doch eine Ahnung aufgebaut, wie wichtig es sein kann, wenn die eigene Realität nicht abgewehrt wird, wenn sie bestehen darf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Badewanne kam meine Patentante wieder. Ich hörte den Schlüssel im Schloss, ihre Schuhe im Flur. Sie kündigte ihre Rückkehr an, während sie ihren Mantel auszog. Dann steckte sie ihren Kopf durch die Tür. Sie war erstaunt, dass ich noch in der Badewanne saß. Ich sagte ihr, dass mir kalt geworden sei. „Na, dann steh doch auf“, sagte sie. Ich versuchte Worte dafür zu finden, was in mir vorgegangen war. Ich wollte ihr vermitteln, wie ich mich gefühlt hatte. Sie wirkte gestresst und abwesend, wollte vermutlich den Abend über die Runden bringen, mich schnell ins Bett bringen, um den Papierkram meiner Mutter zu erledigen. Sie war auf der Suche nach einer neuen Wohnung für uns beide, in die wir nach der Rückkehr meiner Mutter einige Wochen später gemeinsam ziehen würden. Ich wusste, dass sie viel Verantwortung übernommen hatte, dass es nicht leicht war, das Leben anderer Menschen aufzufangen.
Ich hörte an jenem Abend auf, nach Worten zu suchen. Immerhin war ich dieses Mal nicht verlassen worden. Und ich war noch da.
In unserer Serie Der Essay schrieben bisher:
Terézia Mora über die Kunst der Bewältigung und die Bewältigung mithilfe der Kunst: Von Etwas der Staub, Heft 4/2021
Andreas Maier über zweierlei Umgang mit menschengemachten Geräuschen: Vom Schließen und Öffnen der Ohren, Heft 2/2021
Sie können diese Hefte über unsere Website nachbestellen:psychologie-heute.de/shop
Ein Lebensmobile
„Willst du gut sein oder ganz?“, fragte C.G. Jung. Aber so einfach ist das nicht. „Das Paradoxe an diesem Ganzen ist, dass es wie ein Mobile ist – einzelne, frei schwingende und nur lose zusammenhängende Teile“, schreibt Asal Dardan.
In ihrem Buch nimmt sie die Teile dieses Mobiles stückweise in Augenschein: die Kindheit in Köln, Heimat und Exil zugleich; Rebellion und die versnobte Attitüde im Internat; Berlin und der Schock über die wuchernde Fremdenfeindlichkeit; das Überwältigende des Mutterwerdens; die Natur auf der schwedischen Insel Öland, wo sie mit ihrer Familie lebte.
Die Erinnerungen sind hochpersönlich, jedoch mit Reflexionen verwoben, die ins Politische ausgreifen. Auch das gehört zum Mobile, das am Ende eben doch kein Ganzes wird – zum Glück: „Kohärenz und Einklang lösen bei mir mehr Stress aus als Uneindeutigkeit und Verflechtung.“ Diese Ambivalenz führt Asal Dardan darauf zurück, dass sie sich nie eindeutig dieser oder jener Kultur zugehörig fühlen konnte. Doch gerade das eröffnet ihr einen besonderen Blickwinkel: „Im Anderen den Einzelnen sehen und in sich das Fremde – das ist eine immense Herausforderung.“
„Betrachtungen einer Barbarin“ ist für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 nominiert.
Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021