Narzissmus – das große Ego

Der Begriff Narzissmus liegt im Trend. Wirklich extreme Narzissten sind jedoch selten. In der Regel geht es um unser Selbstwertgefühl.

Das Bild beschreibt das Innenleben eines Narzissten.
Ein Narzisst benötigt ständige Bestätigung von Außen, da er seinen Selbstwert aus sich selbst heraus nicht stabilisieren kann. © Dave Hänggi

Narzissmus. Dieser Begriff begegnet einem in den letzten Jahren immer häufiger und in ganz verschiedenen Zusammenhängen: Für Beziehungsprobleme ist der narzisstische Partner verantwortlich, das schlechte Klima in der Firma liegt am Narzissmus des Vorgesetzten, die Mutter hat durch ihr übergroßes Ego die Entwicklung ihrer Kinder blockiert, wer ständig Fotos von sich postet, ist ebenso narzisstisch, wie es laut Ferndiagnosen auch politische Führer wie Trump, Erdogan oder Putin sind.

Narzissmus ist der…

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oder Putin sind.

Narzissmus ist der Modebegriff der Zeit. Er ist zum Synonym geworden für Eitelkeit, Selbstbezogenheit, Rücksichtslosigkeit und Egoismus. „Man muss nur eine Zeitung oder Zeitschrift aufschlagen, die Abendnachrichten oder eine Talkshow im Fernsehen verfolgen, Pendler bei ihren Handygesprächen belauschen oder mit einem Nachbarn plaudern – immer wieder taucht dieses Wort auf“, schreibt der Psychologe Craig Malkin von der Harvard Medical School in seinem Buch Der Narzissten-Test.

Woher kommen nur all diese Narzissten? Warum gibt es in unserem Leben auf einmal so viele davon? Vor allem zwei „Schuldige“ wurden für den Anstieg des Narzissmus ausfindig gemacht:

– die Gesellschaft, die durch ihre extreme Wettbewerbsorientierung übertriebene Ellenbogenmentalität und egoistisches Durchsetzungsvermögen geradezu fördert. „Auch der Talentierteste wird es zu nichts bringen, wenn er gesenkten Hauptes in der Ecke steht“, schreibt Die Zeit (20. 7. 2017). „Schaffen kann das nur, wer das Mantra der öffentlichen Inszenierung beherzigt: Präsenz zeigen! Persönlichkeit zeigen! Aus sich herausgehen und andere für sich gewinnen!“ Heute sei die gekonnte Inszenierung mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, wie die fachliche Leistung;

– die sozialen Medien, die mit Instagram, Facebook & Co geeignete Plattformen für narzisstische und ichbezogene Selbstdarstellungen bieten. Die virtuellen Pseudofreundschaften mit anderen ließen die Fähigkeiten für direkten Kontakt und reale Beziehungen verkümmern, meinen Kritiker. Vor allem die junge Generation habe – gefördert durch die sozialen Medien – eine „Rockstar-Mentalität“ entwickelt, wie es der Psychology Today-Blogger Neil J. Lavender nennt. Diese sei gekennzeichnet durch eine Haltung wie „Darauf habe ich einen Anspruch“ oder „Alles dreht sich nur um mich“.

Jeder ist narzisstisch

In all den Veröffentlichungen zum Thema – in wissenschaftlichen, vor allem aber in populären – wird kein Zweifel daran gelassen: Narzissmus ist destruktiv, Narzissmus ist eine negative Eigenschaft – sie schadet dem Narzissten selbst, vor allem aber all jenen, die mit ihm zu tun haben. Doch die Wahrheit ist komplizierter. Durch den inflationären Gebrauch des Begriffes ist Narzissmus zu einem Klischee geworden. Wer den Partner, den Kollegen, die Freundin als narzisstisch bezeichnet, weiß häufig nicht, was dies eigentlich bedeutet.

Wie so oft kommt es auf die Ausprägung an. Was gemeinhin unter Narzissmus verstanden wird – Größengefühl, die Überzeugung, einmalig zu sein, das Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung, Anspruchshaltung, Mangel an Empathie –,beschreibt den pathologischen Narzissmus. Der aber ist immer noch sehr selten: Schätzungsweise 0,5 bis 2,5 Prozent der Bevölkerung weisen diese nur von Experten zu diagnostizierende Persönlichkeitsstörung auf. Etwa 5 Prozent der Bevölkerung gelten als „extreme Narzissten“, deren Verhalten noch nicht pathologisch ist, aber durchaus eine Herausforderung für die Mitmenschen bedeuten kann. Die überwältigende Mehrheit aber kann als ganz normal narzisstisch bezeichnet werden.

Das heißt: Wer heute als „Narzisst“ etikettiert wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht im klinischen Sinne narzisstisch, sondern möglicherweise Opfer eines überstrapazierten Begriffs. So mancher wird wohl vorschnell als narzisstisch beurteilt, wenn es zu Spannungen in der Partnerschaft, im Kollegium oder unter Freunden kommt. Ärger und Wut lassen jeden Menschen selbstzentrierter, egoistischer und narzisstischer handeln. Man konzentriert sich dann auf die eigenen Bedürfnisse und bringt wenig Verständnis für den anderen auf. Deshalb warnt der Psychologe Udo Rauchfleisch in seinem aktuellen Buch Narzissten sind auch nur Menschen (Patmos 2017): „Seien Sie vorsichtig mit dem Gebrauch des Wortes ‚narzisstisch‘.“ Man sollte sich klarmachen, schreibt der Experte, „dass es beim Thema Narzissmus nicht von vornherein um etwas Pathologisches geht, sondern zunächst einmal um die Frage nach dem Selbstwerterleben eines Menschen.“

Gesunde Illusionen

Grundsätzlich sind wir alle darum bemüht, unser Selbstwertgefühl zu schützen und nach Möglichkeit zu verbessern. Am besten gelingt das, wenn wir uns selbst nicht allzu kritisch und zu realistisch sehen – eine Portion Selbstüberhöhung schadet nicht. Wir müssen bis zu einem gewissen Grad narzisstisch sein, denn nur so lassen sich unsere Selbstzweifel begrenzen und der Glaube an uns selbst aufrechterhalten. Kurz: Der Narzissmus ermöglicht uns, uns selbst durch eine rosarote Brille zu sehen.

Wie wichtig diese „Spezialbrille“ ist, haben Psychologen gerade in den letzten Jahren entdeckt. Danach kann ein zu realistischer Blick auf sich selbst dem eigenen Selbstwertgefühl erheblichen Schaden zufügen; positive Illusionen über die eigenen Fähigkeiten und die eigene Beliebtheit dagegen bewahren vor dem Abrutschen in die Depression. Wer dagegen zu ehrlich zu sich selbst ist, sich selbst zu wenig auf die Schulter klopft und sein Licht unter den Scheffel stellt, riskiert seine Gesundheit: Der Zusammenhang zwischen positiven Illusionen und psychischer Stabilität ist eindrucksvoll belegt.

Allerdings: Um sein Selbstwertgefühl auf diese Weise schützen zu können, muss man erst einmal eines haben. Die rosarote Brille nützt nur demjenigen, der sich selbst grundsätzlich wertschätzt. Zu extremem Selbstlob und übersteigertem „Ich zuerst!“ aber greifen jene Menschen, die zutiefst an sich zweifeln und zugleich unbedingt vermeiden wollen, dass andere (und auch sie selbst) die Selbstunsicherheit bemerken. Sie müssen sich permanent selbst erhöhen und von anderen bestätigt bekommen, wie wunderbar sie sind, um narzisstische Kränkungen und den schmerzhaften Gedanken „Ich bin ein Nichts!“ zu vermeiden.

Je niedriger das aktuelle Selbstwertgefühl eines solchen Menschen ist, umso stärker empfindet er den Druck, sein Selbst schützen zu müssen, indem er es aufbläht, vergrößert, ausdehnt. Typische Schutzstrategien helfen den selbstunsicheren Narzissten dabei, den Schmerz der Kränkung zu minimieren: Schuldzuweisungen an andere; Verächtlichmachung von demjenigen, der die Kränkung zugefügt hat; aggressive Angriffe, um die eigenen verletzten Gefühle zu verstecken. Diese Strategien vermitteln das Gefühl der Überlegenheit und stärken das extrem wackelige Selbst. Aber das gelingt nur scheinbar: „Narzissten fühlen sich anderen überlegen, aber sie sind nicht notwendigerweise mit sich als Person zufrieden“, sagt der Psychologe Eddie Brummelman von der Stanford University.

Ein Weg in die Depression?

Neuerdings konzentriert sich die Forschung auf einen bislang wenig beachteten Aspekt des Narzissmus: die Depression. Weil Narzissten darauf angewiesen sind, dass die Umwelt ihr instabiles Selbst ständig durch Anerkennung und Zuwendung stützt, treffen Niederlagen oder Zurückweisungen sie tief ins Mark. „Sie erleben das als Attacke auf ihre Identität“, sagt der Psychologieprofessor Steven Huprich, Experte für Persönlichkeitsstörungen an der Eastern Michigan University.

Natürlich fällt es allen Menschen schwer, mit Schicksalsschlägen, Niederlagen und Problemen umzugehen, aber für extreme Narzissten sind Verluste eine ganz besondere Herausforderung. Denn sie wecken eine verdrängte Angst – die Angst, spüren zu müssen, was sie auf keinen Fall spüren wollen: ihre Bedürftigkeit, ihre Verletzlichkeit, ihre Schwäche. Wenn diese Gefühle – ausgelöst von Niederlagen oder Enttäuschungen welcher Art auch immer – die mühsam aufgebaute Selbstwertrüstung durchdringen, fallen narzisstische Menschen tief: Sie erkennen, dass ihr grandioses Selbst leer ist. Wenn das passiert, dann wird deutlich, „dass das künstliche Selbst des Narzissmus mit seinem Drang nach Glanz und Glamour etwas auszugleichen versucht. Etwas, was ihm fehlt oder wovon es zumindest fürchten muss, es nicht zu bekommen“, schreibt der Psychotherapeut Georg Milzner in seinem aktuellen Buch Wir sind überall, nur nicht bei uns (Beltz 2017). „In diesem Sinn lässt sich der Narzissmus als eine Spur begreifen, die uns, folgen wir ihr, zu jener Angst führt, die heute allzu vielen unterschwellig eigen ist: der Angst, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Diese Angst wird vom Narzissten durch Selbstinszenierung bekämpft.“

Wie wird man Narzisst?

Auf die Frage, wie es zu einer Entwicklung hin zum extremen Narzissmus kommt, gibt Craig Malkin eine klare Antwort: „Zum Narzissten wird man nicht geboren, sondern erzogen.“ Wenn Kinder ihre Eltern oder andere wichtige Beziehungspersonen als unzuverlässig erleben und Zuwendung nur bekommen, wenn sie die Bedürfnisse der Erwachsenen oder deren hohe Leistungserwartungen erfüllen, lernen sie, dass sie sich Anerkennung verdienen oder erarbeiten müssen. Das kann zu zwei gegensätzlichen Entwicklungen führen: Entweder bilden diese Menschen zu wenig narzisstische Eigenschaften aus, das heißt, sie konzentrieren sich automatisch auf die Bedürfnisse anderer und beanspruchen wenig Raum für sich selbst. Oder es entwickelt sich ein stark ausgeprägter, nach Aufmerksamkeit dürstender Narzissmus. „Es ist stets dieselbe zentrale Kindheitserfahrung, die einen zu weit an das eine oder andere Ende des Spektrums drängt: mangelnder Halt durch Mangel an Liebe“, schreibt Malkin. Auch ein zu verwöhnender Erziehungsstil, der ein Kind übermäßig lobt, kann eine Grundlage für einen späteren pathologischen Narzissmus legen.

Allerdings ist die Kindheit nicht der alleinige Narzissmusfaktor – die Gene spielen ebenfalls eine Rolle, wie Zwillingsstudien belegen. Danach ist dieser Persönlichkeitszug zu einem gewissen Teil erblich. Allerdings können Umwelteinflüsse wie Erziehung und positive frühe Erfahrungen eine Narzissmusentwicklung fördern oder bremsen. Auch das kulturelle Umfeld spielt eine Rolle. So liegen die Narzissmuswerte von Menschen, die im konkurrenzorientierten New York leben, viermal höher als im ländlichen Iowa.

Auch in der Bundesrepublik scheint der Narzissmus unterschiedlich verbreitet zu sein. Stefan Röpke, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, hat mit seinem Team in einer Onlinestudie mit 1000 Teilnehmern deutliche Unterschiede zwischen Ost und West in Sachen Narzissmus und Selbstwert festgestellt, wie er der Zeitschrift Das Magazin (Juni 2017) in einem Interview berichtete: „Ich sage es mal ganz vereinfacht: West gleich mehr Narzissmus, Ost gleich mehr Selbstwert.“ Auffallend war dabei, „dass es bei den nach 1983 Geborenen keine Narzissmusunterschiede zwischen Ost und West gab. Bei der Gruppe mittleren Alters dagegen, die entweder in der DDR oder in Westdeutschland sozialisiert wurden, waren die Unterschiede signifikant.“ Im Westen, so Röpke, ist die Selbstüberschätzung ausgeprägter.

Einmal Narzisst, immer Narzisst?

Narzissten gelten vielen Psychotherapeuten als unbehandelbar, weil sie keine Einsicht in ihr Problem haben und nur sehr selten aus eigenem Antrieb Hilfe suchen. Aber inzwischen zeichnet sich ein Umdenken ab. „Weniger ausgeprägte Narzissten können sich durchaus ändern“, sagt Malkin. „Bei ihnen kann man den Narzissmus als eine erlernte Reaktion betrachten, also als eine Angewohnheit, die je nach den Umständen stärker oder schwächer werden kann.“ Im Kern geht es bei einer Narzissmustherapie darum, das Selbstwertgefühl zu stärken und die Betroffenen darin zu unterstützen, ihre Furcht vor Verletzlichkeit und schwierigen Gefühlen wie Angst, Trauer oder Scham zu „verlernen“. Wenn ein Narzisst erlebt, dass er nicht der Größte, Schönste und Erfolgreichste sein muss, um ein Existenzrecht zu haben, und dass sein wahres Selbst durchaus Anerkennung und Zuwendung erfährt, kann er seinen Egozentrismus möglicherweise Schritt für Schritt aufgeben.

Das ist eine gute Nachricht für all jene, die den Narzissten an ihrer Seite lieben, als Kollegen wertschätzen oder als Freund nicht verlieren wollen.

Aus der Deckung locken

Wie es gelingen kann, die Gefühle eines narzisstischen Menschen zu erreichen

Ein Mensch mit einem extrem ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstil versucht mit allen Mitteln, sein schwaches Selbst zu schützen, und darf deshalb Gefühle wie Trauer, Angst, Scham, Verletzlichkeit nicht spüren. Ehe ein extremer Narzisst zugibt, dass er gekränkt ist, Verlustängste hat oder ihn Sorgen quälen, geht er lieber zum Angriff über: wird verletzend und ungerecht, kränkt und verletzt andere.

Empathie-Einflüsterungen

Wer den narzisstischen Schutzpanzer durchbrechen möchte, müsse die Betroffenen „aus ihrer Deckung“ locken, sagt der Psychologe Craig Malkin. Die Strategien, die er vor allem den Partnern und Partnerinnen von Narzissten empfiehlt, basieren auf der emotionsfokussierten Therapie (EFT) von Sue Johnson. Deren Ansatz: „In jeder Beziehung liegt das größte Veränderungspotenzial darin, hinter die Wut und Rückzugstendenzen zu schauen und die tieferen Gefühle und Bedürfnisse offen zu äußern.“

Craig Malkin spricht von „Empathie-Einflüsterungen“: Eigene Emotionen zu benennen kann helfen, die verschütteten Gefühle einer narzisstischen Person zu erreichen.

Bindung stärken

Das heißt konkret: Man muss es wagen, dem Narzissten die eigenen wahren Gefühle zu offenbaren – also nicht nur den Zorn über dessen Verhalten ausdrücken oder in den Rückzug gehen, sondern wirklich zeigen, womit man ringt. Das könnte sich dann zum Beispiel so anhören:

„Wenn du mich als egoistisch bezeichnest, schäme ich mich, weil ich das Gefühl habe, in deinen Augen ein schlechter Mensch zu sein.“

„Wenn du mich infrage stellst, habe ich das miese Gefühl, in deinen Augen ein Versager zu sein.“

Der Psychologe Malkin hält dies für ein sinnvolles Vorgehen. Denn ungesunder Narzissmus ist der Versuch, mit Bindungsunsicherheit fertigzuwerden. Wenn sich in einer Beziehung die Sicherheit erhöht – durch ehrliche und offene Kommunikation –, kann die narzisstische Ausprägung abgemildert werden. Der Narzisst ist dann kein irrationales Monster mehr, sondern ein Mensch, der geprägt ist durch frühe, zutiefst verunsichernde Erfahrungen.

Aber auch Empathie-Einflüsterungen haben ihre Grenzen: Es sei nicht die Aufgabe von Freunden und Angehörigen, den Narzissten zu therapieren, sagt Malkin. Sie können nur die eigenen Gefühle offen und ehrlich zeigen. Wer das tut und nichts bewirkt, kann nicht viel mehr tun. UN

Joseph Burgo: The narcisst you know. Touchstone, New York 2015

Kristin Dombek: Die Selbstsucht der anderen. Ein Essay über Narzissmus. Suhrkamp, Berlin 2016

Astrid Herbold: Jede Menge Selbstüberschätzung. Interview mit Stefan Röpke. In: Das Magazin, Juni 2017

Craig Malkin: Der Narzissten-Test. Wie man übergroße Egos erkennt... und überraschend gute Dinge von ihnen lernt. Dumont, Köln 2016

Udo Rauchfleisch: Narzissten sind auch nur Menschen. Wie wir mit ihnen klarkommen. Patmos, Stuttgart 2017

Bärbel Wardetzki: Narzissmus, Verführung und Macht in Politik und Gesellschaft. Europa Verlag, Berlin 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2017: Narzissten