Eines Tages suchte mich eine niedergeschlagen wirkende Frau auf – so weit nichts Ungewöhnliches für eine psychotherapeutische Praxis. Was dann kam, allerdings schon. Nach einigen langen Augenblicken der Stille begann sie das Gespräch mit den Worten: „Herr Doktor Junker, halten Sie mich bitte nicht für verrückt.“
Die Frau, nennen wir sie Frau Gessner, machte einen gebildeten, reflektierten und gleichzeitig deutlich verzweifelten Eindruck. Nichts wies im Entferntesten darauf hin, dass sie, nun ja, „verrückt“…
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deutlich verzweifelten Eindruck. Nichts wies im Entferntesten darauf hin, dass sie, nun ja, „verrückt“ sei. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter“, fuhr sie fort. Die alleinstehende Mittvierzigerin brachte so ziemlich alles an Symptomen mit, was man auf einen ersten vorschnellen Blick unter der Überschrift „psychosomatisch auffällig“ zusammenfassen könnte: Schlafstörungen, diffuse und wechselnde Schmerzzustände, Kreislaufzusammenbrüche, eine Reizdarmsymptomatik, Hautausschläge, Schwindel, Ohrgeräusche und noch einiges mehr. All dies hatte sich im Verlauf der letzten 12 Monate entwickelt und ihr jegliche Lebensqualität geraubt – zuvor sei sie völlig gesund und voller Lebensfreude gewesen.
Kein böser Scherz, sondern eine reale Drohung
„Wie erklären Sie sich denn Ihre Beschwerden und deren Entstehung?“, forschte ich neugierig nach. Unter Tränen berichtete sie von einer tiefsitzenden, langjährigen und belastenden Feindschaft zwischen sich und ihrer Schwägerin. Ihre Ausführungen gipfelten in der folgenden Szene: „Eines Abends vor circa einem Jahr komme ich nach Hause. In der Dämmerung sehe ich unten vor der Haustür etwas liegen: eine seltsame Stoffpuppe voller Symbole – und gespickt mit Nadeln. Am Kopf der Figur, da wo das Gesicht ist, war etwas festgemacht. Ich komme näher, bücke mich, um besser sehen zu können. Es ist ein Foto – von mir. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.“
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Im ersten Moment habe sie versucht, das Ganze als üblen Scherz irgendwelcher Lausbuben abzutun. Doch dann, sie sei ins Haus gegangen, habe das Telefon geläutet. „Meine Schwägerin war am Apparat. Sie schmetterte mir entgegen, dass sie die Nase endgültig von mir voll habe. Deshalb habe sie eine schwarzmagische Voodoo-Priesterin beauftragt, mich langsam und elend verrecken zu lassen.“ Aus dem Hörer sei dann nur noch ein hämisches Lachen zu hören gewesen, gefolgt vom typischen Signalton – die Schwägerin hatte aufgelegt. Stille. Fassungslosigkeit.
„Einerseits war da sofort richtig viel Wut und eine rationale, aufgeklärte Seite in mir, die sagte: So was gibt es nicht, das ist doch alles esoterischer, abergläubischer Mumpitz. Und dann andererseits umso lauter eine andere Stimme, die voller Angst schrie: Und was, wenn doch?!“
Wahr ist das, was für wahr gehalten wird
Schon wenige Stunden später sei es dann losgegangen, mit seltsamen, beunruhigenden Missempfindungen in den Armen und Beinen. Nach einigen Tagen fühlte es sich mehr und mehr so an, als ob die Haut an wechselnden Stellen bei lebendigem Leibe brenne. Sie habe eine Ärztin aufgesucht, vielleicht sei alles nur Zufall, wer weiß? Auch wenn man den Tod an den Hals gewünscht bekomme, könne man ganz normal erkranken, sie sei ja nicht irrational. Aber die Ärztin habe keine körperlichen Erkrankungen feststellen können. Die Symptome hätten rasch immer mehr zugenommen, ebenso wie die tiefe Verunsicherung, die Angst, schließlich die Panik, was da in ihr los sei.
Ein beindruckender Stapel an Arztbriefen, den sie nun aus ihrer Tasche holte, legte Zeugnis darüber ab, dass auch viele andere Medizinerinnen unterschiedlicher Fachdisziplinen keinerlei körperliche Ursache für ihre Leiden feststellen konnten. Einige deuteten die Symptome als „psychosomatisch“ bedingt, als massive körperliche Reaktion auf psychischen Stress. „Man sagte mir, dass es so etwas wie Voodoo nicht gebe, dass ich mich da in etwas hineinsteigere, Autosuggestion, selbsterfüllende Prophezeiungen, negative psychoneuroimmunologische Effekte, Nocebo.“
Als Psychotherapeut werde ich immer wieder damit konfrontiert, dass der sogenannte „radikale Konstruktivismus“ einen zentralen Punkt trifft: Im subjektiven psychischen Sinn „wahr“ und damit erlebnis- und wirklichkeitsbestimmend ist für Menschen das, was persönlich für wahr gehalten wird, und nicht unbedingt das, was unter Fachleuten als gesichertes Wissen gilt. Das, was die Patientin berichtete, lässt sich aus psychologischer Sicht als massive „Problemtrance“ beschreiben.
Wie findet man trotz Unsicherheit die Ruhe in sich selbst?
Durch die Inszenierung mit der Puppe und die darauf folgenden boshaften suggestiven Äußerungen der Schwägerin war die arme Frau Gessner in einen andauernden Zustand erhöhten Stresses geraten, mit negativer suggestiver Fokussierung auf körperliche Wahrnehmungen, angetrieben von der ängstlichen Annahme, dass Beunruhigendes jenseits der eigenen Kontrolle stattfinde. Panikstörungen, hypochondrische Erkrankungen oder auch Zwangsstörungen folgen einer sehr ähnlichen inneren Logik.
Damit Problemtrancen Menschen in ihren Bann ziehen, braucht es keine schwierigen Kindheiten, traumatischen Erlebnisse oder einen vermeintlich schwachen Charakter. Verunsicherung und suggestive Erklärungsmuster genügen. Problemtrancen können sich über Kommunikation ausbreiten und schaffen ihre eigene Wirklichkeit.
Krisenhafte Zeiten voller Unberechenbarkeit und Zweifel begünstigen zusätzlich, dass Menschen zeitweise suggestibler werden und sich seltsame, manchmal auch gefährliche Wirklichkeitskonstruktionen leichter ausbreiten. Vermeintlich rationale, faktenbasierte Betrachtungen gelingen dann häufig nicht mehr hinreichend. Die therapeutischen Grundfragen, die sich dabei stellen, lauten: Wie finden Menschen Halt und Ruhe in sich selbst, trotz Unsicherheit? Wie kann es gelingen, auf anderes als angstbesetzte Dinge zu fokussieren? Wie können Menschen aus negativen Trancen herausgeholt und „enthypnotisiert“ werden?
Es empfiehlt sich, nicht krampfhaft gegen die subjektiven Sichtweisen, Erfahrungen und Erklärungsmodelle von Menschen anzukämpfen, sondern diese in Ermangelung vermeintlich „vernünftigerer“ Möglichkeiten sogar bewusst für hilfreiche Veränderungen zu nutzen, im Therapeutenjargon auch „utilisieren“ genannt. „Utilisation“ war dann auch der therapeutische Pfad, auf den ich mich mit Frau Gessner begab:
Mit weißer Magie gegen böse Wünsche
„Möglicherweise haben Sie bisher etwas übersehen, das von großer Wichtigkeit für Sie sein könnte. Etwas, mit dem Sie es sich erlauben dürfen, sich aus eigener Kraft wieder von diesem Bann zu befreien.“ Neugierige große Augen schauten mich verwirrt und gleichzeitig erwartungsvoll an. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gehen Sie davon aus, das Opfer schwarzer Magie, mithin also das Opfer böser Wünsche geworden zu sein, richtig?“ „Absolut, ja.“ „Bislang haben Sie aber noch nicht, nun ja, nennen wir es weiße Schutzzauber für sich genutzt, so dass böse Absichten anderer Ihnen nicht mehr schaden können, oder?“
In der nächsten Stunde machten wir uns direkt an die Umsetzung. Ich induzierte eine leichte Trance bei ihr und lud sie zu der Vorstellung ein, von einer durchsichtigen Schutzhülle umgeben zu sein, an der jegliche bösen Wünsche und schlechten Absichten anderer einfach abprallen würden. Ergänzend brachte ich ihr eine einfache Selbsthypnosetechnik bei, mit der sie diese Imagination selbständig „auffrischen“ könnte, wenn Sie einmal den Eindruck haben sollte, dass dies sinnvoll sei. Auf diese Weise gelang es ihr, sich nachhaltig und selbstwirksam unangreifbar für die bösen Absichten anderer Menschen zu machen, ihre Symptome bildeten sich binnen kurzer Zeit gut und dauerhaft zurück. Aus Frau Gessners Sicht weiße Magie eben.
Stefan Junker ist promovierter Diplompsychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut, Demokratieaktivist, Autor und Mitgründer der Ratgeberplattform couch:now. Mehr Infos unter doktorjunker.de.