Das Scherbengericht: Sozialer Ausschluss unter Kindern

In einem Experiment untersucht Anna Felnhofer Reaktionen auf sozialen Ausschluss. Beschämt erinnert sie sich an eine Kindheitsepisode.

Die Psychologin Anna Felnhofer sitzt mit dicker Jacke, die Arme auf die Knie gestützt und die Hände gefaltet, am Ende einer gelben Kinderrutsche und schaut dabei lächelnd in die Ferne
Die Psychologin Anna Felnhofer forscht vor allem im Themenbereich der neuen Medien mit Schwerpunkt auf Virtuelle Realitäten. © Mafalda Rakoš für Psychologie Heute

Dieser Moment dann. Er kommt unangekündigt. Der Junge ahnt nicht, kann es nicht ahnen, dass sich seine Lage von einem Augenblick auf den nächsten eben­so geringfügig wie grundsätzlich verändern wird.

Noch steht er zehenbetont, den Körper vornüber gekippt, die Handgelenke gelockert, die Muskeln gespannt. Noch geht sein Kopf mit der Virtual-Reality-Brille hin und her, beschreibt einen Bogen, ebenso wie der Ball in der simulierten Welt. Wir sehen auf dem Bildschirm, was er in der Brille sieht: Da ist der…

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einen Bogen, ebenso wie der Ball in der simulierten Welt. Wir sehen auf dem Bildschirm, was er in der Brille sieht: Da ist der virtuelle Turnsaal, darin der Junge und ihm gegenüber, im Kreis mit ihm, ein männlicher und ein weiblicher Avatar, zu dritt werfen sie den Ball einander zu.

Eine Weile gehen die Pässe mit einer beruhigenden Regelmäßigkeit von einem zum anderen, alle spielen sie mit. Bis plötzlich und unangekündigt der Ball sein Bewegungsmuster ändert. Der Junge geht, was er auch anstellt, von diesem Augenblick an leer aus. Es bleibt ihm, was er erst allmählich begreift, nur eines – dem Spiel der anderen zuzusehen.

Es sind jetzt fünf Minuten, und die VR-Brille imponiert wuchtig auf seinem erst zehnjährigen Kopf. Der Student, der mich unterstützt, hatte die Brille enger schnallen müssen, so eng wie noch nie, bis dorthin, wo uns das Flauschband ausgegangen war. Es machte ihm, wie der Junge uns versicherte, nichts aus, protestlos ließ er jede Prozedur über sich ergehen und hielt höflich still, während seine Aufmerksamkeit, ich sah es, unablässig Runden durch den Laborraum zog. In seinen zehn Jahren hat er, so scheint es, Erfahrungen gemacht, die nun überall und immer in ihm gegenwärtig sind; die ihn gelehrt haben, wachsam zu sein, und ihn mit einem Vorrat an Verhaltensweisen ausgestattet haben, die er nun zu seinem Schutz ausspielen kann.

Unter anderen Umständen, jenen präpandemischen, hätte er mir, wie ich vermute, die Hand gedrückt, fest und mit Nachdruck, und hätte sich darin wie generell in seinem Tun des jahrmillionenalten Mechanismus der Mimikry bedient, dieser Herstellung eines Schutzes durch Anpassung. Auch jetzt passt er sich an, wartet mit betonter Gelassenheit auf den ausbleibenden Pass und schützt sich so.

Die Kettenreaktion des Außenseitertums

Der Student nickt mir zu, während er das Kabel der Brille hält, damit der Junge, sollte er einen Schritt nach links oder nach rechts machen, nicht darüber stolpert. Ich bemerke das Pflaster am Ellenbogen, eines jener Motive, das man nur bei Kindern sieht, dazu das leuchtgrüne Shirt, die daumendicke Schramme am Knie, die hochgezogenen Tennissocken, die seitwärts abgetretenen Sneaker, die schlampig geschnürten Senkel – einer von ihnen ergreift die Flucht; alles Attribute des Kindlichen, und das ist er natürlich, ein Kind, das geborgte Rollen lebt und sich der seinigen erst bemächtigen muss.

Es wird ihm, denke ich, während ich die Zeit prüfe (sechs Minuten jetzt), schwerer fallen als anderen. Adipös schon vor den Lockdowns, hat er vermittels dieser noch an Gewicht zugelegt. Er schnauft, wenn er vom Sitzen ins Stehen kommt, schwitzt bei geringfügiger Bewegung, hat Schmerzen und immer öfter keine Luft.

Jetzt zerfällt er ohne Ankündigung in viele kleine Handlungen. Wir kennen sie, so geht Außenseitertum: In den gelagerten Tiefen des Zwischenhirns stößt ein Impuls eine Kette kleinteiliger Ereignisse an, die Mitteilung über den soeben erlebten Ausschluss (Der Ball wird mir nicht mehr zugespielt!) schießt das Rückenmark entlang, peitscht Blut durch die Adern und in die Muskeln, öffnet Pupillen und Bronchien, während zugleich, wenn auch weitaus behäbiger, fettartige Stoffe zu jenem Substrat vermengt werden, das sich später, dem Speichel entnommen, als Mikrogramm pro Liter in unserer Dokumentation niederschlagen wird: das Stresshormon Kortisol.

Jetzt hebt der Junge die Controller, die seine Finger-, Hand- und Armbewegungen in die virtuelle Welt übertragen, hebt sie über den Kopf, wie man Hände zum Winken hebt, und wackelt dort mit ihnen, vergisst dabei wie alle, beziehungsweise vergisst es nicht, sondern weiß es in diesem Moment tatsächlich nicht, dass er keinem Menschen winkt, sondern einem Avatar, aber das macht nichts. Hier bin ich, sagt die Geste, und Hallo, ich bin auch noch da.

Unsichtbar für andere

Es ist die bekannte Reaktion auf den sozialen Ausschluss, eines der schmerzlichsten Erlebnisse für uns Menschen, die wir in sozialen Gemeinschaften leben. Dabei ist es einerlei, ob uns echte oder virtuelle andere ausgrenzen, es gibt keine Gewöhnung. Sein bedeutet wahrgenommen werden, schrieb der Philosoph George Berkeley. Dieses esse est percipi wird hier, in diesem unserem Experiment, in eine plakative Form übergeführt: Indem einem Menschen die Wahrnehmung der anderen entzogen wird, indem er ignoriert, missachtet, geächtet wird, wird nichts Geringeres als die Existenz dieses Menschen infrage gestellt, ja er selbst beginnt sie infrage zu stellen. Mit unter Umständen dramatischen Folgen.

Es ist ein kritischer Moment im Versuchsablauf. Zwei Augenpaare taxieren den Jungen. Wir sind, sollte es nötig sein, bereit einzuschreiten.

„Das Programm hat was“, sagt er. Eine dünne Stimme, auffallend nasal. Letzteres, sage ich mir, wird wohl an der Brille liegen.

Sieben Minuten. Ich beobachte.

Derselbe Gedanke, dasselbe Gefühl. Sie sind, wie ich einigermaßen bestürzt feststelle, einem Früher entnommen. Schon einmal bin ich so dagestanden, eine Zuschauerin, Zeugin, wenn auch ein Kind noch. Es muss im zweiten oder dritten Schuljahr gewesen sein, kurz vor den großen Ferien, zu einem Zeitpunkt, da wir als Acht- oder Neunjährige schon recht hinlänglich imstande waren zu entscheiden, auf welcher Seite das Recht lag und auf welcher das Unrecht.

Ich war, wie man später nicht müde wurde, mir mitzuteilen, ein anstrengendes Kind, altklug und launisch, voller sonderbarer Eingebungen, von deren Verwirklichung mich nichts abhalten konnte, selbst der eindringlich vorgebrachte Rat nicht, dass das Referieren einer selbst geschriebenen Geschichte vor der Klasse meine Beliebtheitswerte in dieser nicht gerade anheben würde, ebenso wenig wie die Schrulle, mich einige beharrliche Monate lang wie Astrid Lindgrens Madita zu kleiden und zu verhalten.

Ulla, der Prellbock

Was mich trotz alledem vor Spott und Häme bewahrte, saß in der ersten Klasse neben mir und mit mir hinter dem Overheadprojektor und später, in den darauffolgenden Schuljahren, einmal fensterseitig, einmal türseitig, aber immer in der letzten Reihe und stets allein. Ulla (nennen wir sie Ulla) war, ohne es zu wissen, jahrelang mein Prellbock, mein Schutz, mein Segen. Solange es Ulla gab, war ich sicher.

Ulla bot, wohl ohne Absicht, alles feil, was es brauchte, um ein optimales Opfer zu sein. Sie war (und wusste es) ein prototypischer Paria. Äußerlich einigermaßen nichtssagend mit den damals obligatorischen Stirnfransen, besaß sie ein grobschlächtiges Gesicht mit einer klobigen, immer geröteten, winters wie sommers fleckig überzogenen Nase.

Außerdem hatte sie, ohne es darauf anzulegen, eine ausnehmend nervtötende Art zu lachen und dieses Lachen immer dann ertönen zu lassen, wenn sich dazu kein ersichtlicher Anlass bot. Mitten ins Pausengespräch prustete sie los oder im Hort über die Teller drüber oder während des Unterrichts von hinten aus der letzten Reihe zwischen unsere Köpfe hindurch. Ein Speichelschauer, der sich allerorts Bahn brach und erbarmungslos auf uns niederrieselte.

Überhaupt ging ihr jegliches Gefühl für Zusammenhänge ab. Und so lachte sie nicht nur, wenn Lachen unangebracht war, sondern antwortete ständig an Fragen vorbei; auch die Lehrerin hatte, was wir damals nicht wussten, ihre Mühe mit dem Mädchen. Dazu kam, und hier war unser Sensorium unschlagbar, dass sie keine von uns war. Wir witterten einen anderen Geruch an ihr.

Zugleich lag es nicht daran oder nicht nur, dass sie in einem sozialen Wohnbau wohnte (das taten viele von uns), dass sie statt der Markenkleidung jene nachgeahmte chinesische trug (das tat ich auch), dass sie in der Pause trockenes Toastbrot aß und manchmal nicht einmal das, dass sie gebrauchte Schulbücher hatte und einen schmutzigen Nacken, dass ihr Mund von Karies befallen war und zeitweise auch von einem üblen Geruch oder dass sie Dinge sagte, die uns Angst machten, und Wörter kannte, von denen eine Gefahr ausging, die wir nicht recht benennen konnten.

All das gab nicht den Ausschlag, da war mehr. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie sich vor dem Turnunterricht, unseren Blicken entzogen, im Lehrerkammerl umzog, oder damit, dass sie vom Schwimmen als Einzige gänzlich freigestellt war. So oder so, sie zog einen unbestimmten Verdacht auf sich, und mit einem solchen Material, das wussten wir, ließen sich keine Freundschaftsbänder knüpfen.

Leere Seiten im Poesiealbum

So blieb sie über die Jahre für sich, war Letzte beim Völkerball und Erste beim Verlassen der Schule. Während wir unsere Poesiealben herumreichten, blieb ihres, obwohl sie es wiederholt anbot, leer, und irgendwann bot sie es nicht mehr an, ebenso wenig wie ihr Stickerbuch oder die Glasmurmelsammlung oder die Figurenkollektion, die sie wie wir auch aus den Überraschungseiern klaubte. Und gingen selbstgebastelte Einladungen zu Geburtstagsfesten herum, kriegten alle Händepaare welche, außer ihres.

Einmal, es muss in der dritten Klasse gewesen sein, lud sie uns ihrerseits ein, indem sie dieselben selbstgebastelten Karten austeilte. Wir nahmen die Einladung entgegen, dankend, lächelnd, hier und da errötete einer von uns, aber alle waren wir uns einig, dass es ungeheuerlich wäre, ein sozialer Tod, dieser Einladung auch nur in der Theorie Folge zu leisten.

Am darauffolgenden Montag fehlte Ulla. Wie auch die ganze Woche und jene danach. Und als sie wieder da war, waren die Zeiträume, in kindlichen Dimensionen gemessen, zu gewaltig, um an den Vorfall in einer vernünftigen Weise anzuknüpfen. Also ging es weiter, und natürlich hörten wir nie, wollten es nicht, was Ulla über all das dachte.

Und was tat ich? Selbst immerzu Gefahr laufend, ausgeschlossen, gemobbt, gehänselt zu werden, ein potenzielles Opfer mit dem denkbar günstigsten Eigenschaftsmix für diese Rolle – strebsam im Akademischen und unbeholfen im Sozialen –, selbst also eine Außenseiterin auf Raten, mit einer geborgten Schonung, ging ich mit dem Bewusstsein der ständigen Bedrohung umher. Nicht auffallen, nichts anstellen, das sie auf Ideen bringen könnte! Und wohl genau deswegen ging ich härter mit Ulla ins Gericht als andere.

Ich war es auch, die sie damals in jenem zweiten oder dritten Schuljahr, kurz vor den großen Ferien, zu unserem Spiel überredete.

Vom harmlosen Spiel zum Scherbengericht

Im Garten saßen wir, auf Steinplatten, mit bloßen Füßen und heißen Köpfen, einen einigermaßen repräsentativen Kreis bildend, in dessen Mittelpunkt eine leere Colaflasche eierte. Ich weiß nicht mehr, was mich dazu bewog, Ulla zu rufen, sie am Ärmel oder am Rock zu ziehen, vielleicht war es eine Ahnung, irgendein Zeichen, das mich alarmierte, jedenfalls nahm sie Platz, lachte, wurde jedoch rasch ernst und drehte, wie sie es unzählige Male beobachtet hatte, die Flasche mit einigem Geschick.

Zunächst war es nur das: Flaschendrehen. Ein Spiel wie jedes andere dieser Art. Offenbar langweilte nicht nur ich mich, denn flugs wurde die Flasche ins Gebüsch befördert und die Regeln wurden angepasst. Fortan sollte nicht die Flasche entscheiden. Die kleinformatigen Zettel waren im Handumdrehen organisiert, ebenso die Stifte, und schon kalligrafierte man in der wollweichen Gewissheit der Anonymität einen Namen aufs Papier. Ein Vorgang so alt wie die Menschheit.

Wer uns beobachtete, dem wäre der erwachsene Ernst nicht entgangen, ebenso wenig wie die Aufgeräumtheit unserer verdeckten Verhandlungen. Ein demokratisches Ereignis, gefasst, geordnet – und umso grausamer, wenn man bedenkt, worauf es abzielte.

Im Rückblick war es eine eindrückliche Demonstration. Eine Gruppe Kinder stellte, ohne je davon gehört zu haben, das jahrtausendealte Scherbengericht nach. Auf Scherben zerschlagener Tontöpfe, den Ostraka, wurden im antiken Griechenland die Namen unliebsamer Bürger eingraviert (nebst mancherlei Beleidigungen), die, sofern sie die Mehrheit der Stimmen sammelten, der mehrjährigen Verbannung zugeführt wurden.

Ich hatte keinen Zweifel, welchen Namen die anderen schrieben oder bereits geschrieben hatten, und in ebenjenem Bewusstsein malte ich die vier Buchstaben hin, drückte der Scherbe heimlich auf, was zu sagen mir der Mut fehlte, faltete den Zettel einmal, zweimal, bog ihn noch ein drittes Mal um und warf ihn wie die anderen in den Plastikkübel.

In der Zuschauerrolle

Was im weiteren mit Ulla geschah, was man mit ihr anstellte, ich weiß es nicht mehr oder will es nicht, ein Unwohlsein hatte von mir Besitz ergriffen, also stand ich in einem wohlweislichen Abstand abseits und sah zu, wie ich auch jetzt abseits stehe und zusehe. Eine lebenslängliche Schuld. Man wird innen stur und schwermütig, schreibt Herta Müller in ihrem Roman Atemschaukel, dies selbstverständlich bezogen auf eine weitaus größere Schuld (so man eine Schuld überhaupt in den gebräuchlichen Maßeinheiten fassen kann). Man wird innen stur und schwermütig, schreibt sie, und außen hündisch und feig.

Wie wohl auch die Menschen hinter den Fenstern innen stur und schwermütig und außen hündisch und feig waren in jener klaren New Yorker Märznacht 1964, als draußen die junge Kitty Genovese in aller Gemächlichkeit (der Vorfall erstreckte sich über eine lange halbe Stunde) getötet wurde; alle diese Menschen sahen es, wenn man den Überlieferungen Glauben schenken kann, sahen möglicherweise zu, aber handelten, als gäbe es nichts zu sehen.

Die Verantwortung ging durch sie durch, diffundierte, setzte sich nicht ab, verdichtete sich nicht, verklumpte nicht zu einer einschreitenden Tat. Ein wiederholt beobachtetes und repliziertes Phänomen, der sogenannte bystander effect, vielleicht war es das damals in unserem Sommer des Jahres 1992 oder 1993.

Wie wir auch jetzt in unserem Experiment in gewisser Weise Bystander sind.

Inzwischen sitzen wir. Der Junge hat die Brille abgenommen und beugt sich über den Fragebogen, ich stelle mir vor, wie er die Zunge im Mundwinkel hält. Er will es uns auch jetzt recht machen, gibt sich versöhnlich, wir kennen dieses Verhalten, er teilt es mit anderen. Es ist der Versuch, den sozialen Status nach erfolgter Verletzung durch Anpassung wiederherzustellen. Tend and befriend. Ein schlauer Zug. Er erfordert Disziplin und setzt Demut voraus, insbesondere das Herantasten an die Gruppe, das Signalisieren des Bedürfnisses nach Anschluss, nach Zugehörigkeit, nach einer Wiedereingliederung. Gelingt es, ist alles zurückgewonnen und man selbst rehabilitiert.

Ob dieses Kunststück auch Ulla damals gelungen ist?

Selbst die Freundinnen, als ich sie frage, wissen es nicht, trotz ihres zuverlässigeren und wohl auch unerbittlicheren Gedächtnisses. Immerhin bestätigen sie, was ich zu erinnern geglaubt habe: dass Ulla im darauffolgenden Herbst, 1992 oder 1993, nach den großen Ferien in das niedrige Gebäude zurückkehrte, ja dass sie, einige Zentimeter höher und breiter, den Gang entlangschritt, sich in ihre letzte Reihe setzte, ihr Lachen lachte und sich damit in der für uns gewohnten Weise fortsetzte, bis zu jenem Juni 1994, als sie wie wir alle Abschied nahm von der Schule, von den Pappeln, von der hellen, lauten Luft. Und vielleicht von ihrer Rolle. Vielleicht auf immer.

An ihren Familiennamen, immerhin, erinnern sich die Freundinnen.

Katz-und-Maus-Spiel

Ich ertappe mich dabei, wie ich sie googele, halb in dem Bewusstsein, damit einer Frage nachzuspüren, halb aus einer unbestimmten Lust an Mustern, an Zusammenhängen, an Fortsetzungen. Ich gebe ihren Namen ein, mit Anführungszeichen, ohne Anführungszeichen, aber es ändert nichts, ich werde enttäuscht.

Einige Menschen bringen es, wie ich feststellen muss, tatsächlich zustande, den Tentakeln der digitalen Mnemosyne auf wundersame Weise zu entkommen. Dabei geht es bei meiner Suche schon nicht mehr um sie, sondern darum, wie ich im Verhältnis zu ihr, durch sie, vermittels meiner Beziehung zu ihr… Ja, es geht nicht darum, wie es mit ihr weitergegangen ist. Sondern darum, wie es mit mir weitergegangen ist – ohne sie.

Später, als die Erlebnisse von damals hinter dichtgepackte Jahre zurückgefallen waren, fand ich das Verhältnis zwischen Ulla und mir bei Günter Grass in der Novelle Katz und Maus beschrieben (oder glaubte, es beschrieben zu finden), in den Figuren des Pilenz und des Mahlke. Beide sind, mir und Ulla ähnlich, schon früh und ohne Willen oder Nachdruck in ein Verhältnis zueinander geraten, welches durch die ständigen Verschiebungen der Verantwortlichkeiten, das hechelnde Hin und Her, das flügelschnelle Umschlagen der Konstellation seine Entsprechung im titelgebenden Katz-und-Maus-Spiel findet.

Und auch hier: Mahlke (Ulla), der von Pilenz (mir) zur Maus gemacht wurde, brauchte Pilenz, die Katze (mich) nicht, suchte ihn nicht, blieb so für sich, war auch ohne ihn ganz und löste sich gar an einem Punkt in seinem Leben vollends von ihm.

Es bleibt die Frage: Was ist eine Katze ohne Maus?

Eine Überlegung, die vielleicht gerade jetzt in dieser Zeit der digitalen Denunziation, in dieser Epoche der schier grenzenlosen Öffentlichkeit, erst recht in den vergangenen Pandemiejahren einen frischen Anstrich erhalten hat. Viele machen nun eine Erfahrung, die zuvor Einzelnen – den Ullas und Mahlkes unter uns – vorbehalten war. Ihre Namen werden Scherben aufgedrückt, werden eingraviert, im Geheimen oder – dies als Bruch mit dem antiken Scherbengericht! – in aller Öffentlichkeit.

Und je größer die Angst der Graveure, selbst zur Maus zu werden, desto bestimmter drücken sie den Scherben die Namen der anderen auf. Eine vertrackte Lage ist es, in die wir da geraten sind. Eine, die nicht zwingend von Bestand sein muss, ebenso wie auch der antike Ostrazismus, dieser per Abstimmung verordnete Ausschluss, nicht von Bestand war. Im fünften Jahrhundert vor Christus fand er sein jähes Ende, dabei ist unklar, ob mit Absicht oder ohne. Keine Richtschnur also, die sich daraus zusammenspinnen ließe für das Heute.

Zum Schluss macht der Junge etwas Bemerkenswertes.

Bewusst in der Rolle als Außenseiter

Wir sitzen in unserer Dreierkonstellation um den Tisch, der Student links, ich rechts und zwischen uns der Junge. Die Fragebögen sind ausgefüllt, die Brille abgenommen, und der Proband, der nun keiner mehr ist, wartet auf das Zeichen. Noch ist es nicht so weit, wir klären ihn auf, wie wir alle Kinder aufklären, dass das ein wissenschaftliches Experiment ist und der Ausschluss kein echter, kein ernst gemeinter, keiner, der auf ihn im Speziellen abzielt – aber er unterbricht uns, grinst.

Er habe, sagt er, das natürlich von Anfang an gewusst. Uns zuliebe, sagt der kleine Fuchs, habe er sich foppen lassen, habe sich vorführen lassen, habe sich unserer Scharade unterwerfen lassen, denn, so sagt er und zwinkert uns zu, die Studie sei ja dazu da, wir hätten es ihm erklärt, irgendwann anderen, ihm Ähnlichen zu helfen.

Ob er jetzt gehen dürfe, fragt er.

Schon ist er auf den Beinen, behänder als zuvor und auf eine tröstliche Weise gelöst. Und dann geschieht es. Er reicht mir die Hand. Drückt sie. Drückt sie so, wie ein Erwachsener sie drücken würde. Mit Nachdruck und im vollen Bewusstsein seiner Rolle und ihrer Bedeutung. Und führt uns damit vor, dass auch dieser Ausgang denkbar ist – einer entscheidet sich für das Außenseitertum. Wie Franz Kafka, denke ich, oder Robert Walser oder vielleicht auch Witold Gombrowicz oder Marina Zwetajewa oder Sylvia Plath, ja am Ende sogar Christine Lavant – eine schier endlos fortzuführende Reihe an Dichterinnen und Dichtern.

Man möchte diese Trennung des Menschen vom Menschen als Voraussetzung für die Dichtung sehen. Und sind ihr ganzes Leben so allein, schreibt Rilke, er war es auch, musste es, denn aus der Mitte heraus lässt sich schwerlich ein rundes Ganzes entwickeln. Es braucht die Entfernung.

Nach eineinhalb gemeinsam verbrachten Stunden verabschiedet sich also dieser Junge von uns, wie sie sich alle von uns verabschiedet haben. Ein Außenseiter, wenn auch, so mag es für einen heilsamen Augenblick scheinen, kein bleibender. Aber dann läuft er doch der Richtung nach, in die er geworfen wurde.

Anna Felnhofer arbeitet als Wissenschaftlerin und klinische Psychologin an der Medizinischen Universität Wien, wo sie ein Labor für pädiatrische virtuelle Realität leitet (PedVR-Lab). Sie ist Gründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Digital Psychology sowie Mitautorin von Fachbüchern wie Therapie-Tools: Selbstwert bei Kindern und Jugendlichen.

Außerdem schreibt sie Kurzgeschichten und Romane wie Schnittbild (siehe Kasten unten), das Buch wurde mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Mehr: annafelnhofer.at

Im Live-Talk „Psychologie heute live!“ sprach Anna Felnhofer mit Chefredakteurin Dorothea Siegle über die zunehmende psychische Belastung junger Menschen und den Einfluss des Medienkonsums. Zudem beantwortete sie die drängendsten Fragen der Teilnehmenden zu dem Thema.

Schnittbild

Das Buch besteht aus vier Erzählungen, in deren Mittelpunkt jeweils eine Psychotherapie steht. Doch es sind keine Therapiegeschichten nach dem Schema Erstkontakt – Anamnese – Therapieplan – Lösung. Anna Felnhofer taucht in das Innenleben ihrer Figuren ein, folgt dem Strom ihrer Gedanken, Sinnesempfindungen, Erinnerungen. Es sind scharfsichtige, rührende, zutiefst erschreckende Dinge, die diesen schwer traumatisierten Menschen durch den Kopf gehen.

All die Schnittbilder formen viermal ein lückenhaftes Ganzes, viermal wird davon erzählt, wie ein Mensch gegen seine Dämonen ankämpft. Das geheimnisvollste Bild aber bringen die vier Erzählungen als Ensemble hervor, denn wie sich bald herausstellt, begegnen wir in allen vier miteinander verwobenen Geschichten stets derselben Therapeutin an verschiedenen Stellen ihres Werdegangs.

Sie ist lange nur durch den Blick ihrer Patientinnen und Patienten erkennbar, die sie anhimmeln, sich in sie verlieben. Mal wirkt sie mitfühlend, mal unnahbar. Sie hilft, rettet vielleicht sogar Leben. Doch gleichzeitig gefährdet sie. Wir beobachten sie bei Grenzübertritten. Was stimmt mit dieser Frau nicht? Die letzte, verstörendste der vier Geschichten handelt von ihr.

Thomas Saum-Aldehoff

Anna Felnhofer: Schnittbild. Luftschacht, Wien 2021

DER ESSAY

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2023: Du manipulierst mich nicht