​ „Die Covidkrise wirkt komplexer als Tschernobyl“ ​

Wie reagieren Kinder und Jugendliche auf Corona? Im Interview spricht eine Expertin über typische Symptome – zum Beispiel Zwänge. ​

Die Illustration zeigt ein trauriges Kind mit Atemschutzmaske und Desinfektionsmittel in den Händen und auf Abstand zu den anderen Kindern im Zimmer inmitten von Spielzeug
Welche Folgen haben die Auswüchse der Coronakrise im Kinderzimmer? © Ramona Ring

Rund 70 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen gaben an, dass sie sich durch die Coronakrise seelisch belastet fühlen. Ihr Risiko für eine psychische Auffälligkeit stieg hierbei von 18 auf 31 Prozent. Das besagt eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Hamburg. Wie kann man diese hohen Zahlen erklären? Reagieren Kinder auf die Coronapandemie ganz anders als Erwachsene?

Grundsätzlich können Kinder ähnlich wie Erwachsene mit unspezifischen psychischen Symptomen auf diese Krise reagieren. Das haben wir auch gesehen: Einige entwickelten Ängste, Schlafstörungen und Albträume. Zudem beobachteten wir Depressivität. Kinder verarbeiteten ihre Sorgen auch in Zeichnungen, das heißt, sehr viele haben dieses Virus hier in den Therapien gemalt. Und wir sahen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Das sind Reaktionen, die nach innen gerichtet sind.

Aber es gibt auch Symptome, die sich nach außen wenden: Wir haben einen vermehrten Konsum von Drogen bemerkt, mehr Impulsivität und Wut. Schulkinder hatten teils Mühe, sich zu konzentrieren, und waren unaufmerksamer. Eine typische Reaktionsweise gibt es allerdings nicht. Wie die Kinder reagieren, hängt stark vom Individuum, vom Alter und von der sozialen Situation ab. Und ob sie stärker betroffen sind als Erwachsene, dazu fehlen uns momentan noch genaue Daten.

Sie erwähnten Zwangshandlungen. Welche haben Sie wahrgenommen?

Zwangshandlungen sehen wir immer dann, wenn seelische Unruhe und Ängste aufkommen. Die Handlungen verschaffen dann vermeintlich Sicherheit und stabilisieren die emotionale Verfassung.

Es gab Kinder, die verstärkt die Wohnungs- und Kinderzimmertür kontrolliert und abgeschlossen haben und auch die Fenster verriegelten. Einige wuschen sich krampfhaft und übermäßig oft die Hände. Es sind also vor allem Sauberkeits- und Sicherheitszwänge, die im Kontext der Coronakrise aufgefallen sind.

Für Kinder sind harmlose Ereignisse oft viel bedrohlicher als für die Erwachsenen. Zum Beispiel fürchten sie sich vor Gewittern. Spielt dieses kindheitsspezifische Bedrohungserleben in der Coronapandemie eine Rolle?

Ich glaube, es sind schon auch bei Kindern – wie bei den Erwachsenen – Angst und Stress sowie ein generelles Bedrohungserleben, die im Vordergrund stehen. Diese Emotionen übertragen sich manchmal von den Bezugspersonen auf die Kinder. Ein Kindergartenkind hat sich zum Beispiel sehr gesorgt, dass die Familie nicht mehr genug Klopapier hat. Es hatte diesen Gedanken in der Kita aufgeschnappt.

Anders als bei einem Gewitter gibt es zu Corona ja keine eigene sinnliche Vorerfahrung des Kindes – lautes Donnergrollen und grelle Blitze etwa –, so dass eigene Empfindungen weniger bedeutsam sind. Wie Erwachsene auf die Krise reagieren, ist sehr wichtig für Kinder, denn die Erwachsenen sind Vorbild und stellen eine Orientierungshilfe für das Kind dar. Das Bedrohungserleben in der Coronazeit ist allerdings deutlich abhängig vom Alter und Entwicklungsniveau.

Wie unterscheiden sich die Reaktionen von Kindergartenkindern und Schülern?

Ein kleineres Kind reagiert eher mit Bauchschmerzen, mit Unwohlsein. Vielleicht verhält es sich auch anhänglicher. Es zeigt weniger die depressiven Symptome, wie wir sie im Erwachsenenalter sehen, zum Beispiel das Grübeln und Wandern in negativen Gedanken. Kinder zeigen vielmehr vor allem körperliche Reaktionen, einige allerdings reagieren mit Rückzug. Sie suchen Nähe und Sicherheit, auch Normalität.

Ältere Kinder sind nicht mehr so bezogen auf ihre Eltern und werden mehr von Gleichaltrigen beeinflusst. Ein Grundschulkind könnte mit verstärkter Traurigkeit und Lustlosigkeit reagieren. Es hat mehr Probleme, sich zu konzentrieren – vielleicht hat es auch mehr Fragen zu Corona. Unruhe und schlechter Schlaf sind andere denkbare Symptome.

Nicht alle Kinder hat diese Krise hart getroffen, aber doch einige. Welche Besonderheiten kommen auf individueller Ebene zum Tragen?

Auf der einen Seite haben wir auch bei Kindern die reale Angst, die Sorge, dass man sich anstecken kann. Nun weiß man ja, dass Kinder nicht so oft betroffen sind und eher harmlos erkranken. Das schränkt diese reale Angst ein. Aber sie können Überträger sein, vielleicht den herzkranken Vater oder die Großmutter anstecken. Das löst bei ihnen indirekt Angst und Stress aus.

Und schließlich ist in der Coronazeit das familiäre System sehr durcheinandergeraten: Bei manchen Eltern gab es mehr Arbeit, weil sie in systemrelevanten Berufen arbeiten. Andere waren wiederum mehr zu Hause, waren von Kurzarbeit oder sogar Jobverlust betroffen. Wenn die Eltern selbst Sorgen haben, beispielsweise weil der Arbeitsplatz verlorenzugehen droht oder weil sie psychisch labil sind, kann das leicht zu Konflikten zwischen Kind und Eltern führen.

Was ist Ihnen in Ihrer Klinik sonst noch aufgefallen?

Unsere Klinik ist zuständig für Patienten zwischen null und achtzehn Jahren. Wir betreuen diese stationär und ambulant. Dabei haben wir erlebt, dass ambulante Termine aus Angst vor Infektionen nicht mehr wahrgenommen wurden. Wir haben versucht, diese digital zu ermöglichen.

Allerdings war das bei Familiengesprächen technisch schwierig, weil man im Video nicht alle Personen richtig sehen kann. Die Patienten, die sich in der Klinik befanden, fanden hier ein weitläufiges Gelände vor, viel größer als eine Zweizimmerwohnung. Dadurch ging es ihnen während der Zeit der Ausgangssperre vergleichsweise gut. Es schien mir, dass sie mehr noch als sonst zusammengehalten haben, wie gegen „einen Feind von außen“.

Und dann hatten wir die wichtige dritte Gruppe der Patienten, bei denen es zunehmend zu Hause zu Streit und Eskalationen kam und die deshalb bei uns Hilfe suchten. Einige kannten wir schon, einige kamen zum ersten Mal.

Was waren die Auslöser dieser Streitigkeiten?

Oft ging es um Medienkonsum. Einen Teil der Kinderbetreuung haben schlicht die Medien übernommen. Die Kinder haben mehr ferngeschaut, mehr Computer gespielt, mehr am Handy gedaddelt. Und wenn die Eltern dann Regeln aufstellten, gab es eben Streit. Die Kinder wollten das Handy oder die Spielekonsole nicht mehr abgeben.

Welche seelischen Folgen hatten die häufigeren Konflikte?

Wir haben insgesamt mehr Krisensituationen in den Familien gesehen, viel innerfamiliären Stress, auch häusliche Gewalt. Aufgefallen ist uns auch, dass Selbstverletzungen und Suizidgedanken bei Jugendlichen, die vorher schon psychisch belastet waren, zugenommen haben.

Und dann ist der Konsum von illegalen Substanzen – zum Beispiel Cannabis, Opiaten, Kokain und Ecstasy – merklich angestiegen. Den Jugendlichen war schlicht und einfach sehr langweilig, da die gesamte Tagesstruktur weggebrochen ist, so dass sie sich getroffen haben und gemeinsam in Wohnungen das, was zu finden war, wild und ohne Nachdenken konsumiert haben. In der Folge haben wir mehr Substanzintoxikationen erlebt, teils mit lebensbedrohlichen Überdosierungen.

Sind es Kinder aus ärmeren und prekären Familiensituationen, die besonders leiden?

Die Covidkrise wirkt wie ein Brennglas. Dort, wo es vorher schon schwierig war, ist das deutlich befeuert worden. Der im Gasthaus trinkende Vater hat während der Quarantänezeit nicht im Gasthaus, sondern zu Hause getrunken. Ich würde die Risiken ausweiten. Nicht nur finanzielle Probleme, sondern die psychische Vulnerabilität der Eltern vor der Krise oder gar manifeste psychische Erkrankungen sind ein eindeutiges Risiko für familiären Stress – und damit ist die Bewältigung für ihre Kinder schwieriger.

Es erscheint sehr vielfältig, welche Kinder schwer getroffen wurden…

Das ist absolut so; diese Heterogenität ist eine große Besonderheit der Covidkrise. Die Kinder hatten ganz unterschiedliche Ausgangspositionen und ein ganz unterschiedliches Bedrohungserleben. Es gibt auch jene Familien, die wirklich einen Coviderkrankten oder gar ein Covidopfer hatten. In Ausbruchsorten mit vielen Infizierten haben sich die Bewohner überdies sehr bloßgestellt gefühlt – hier in Ischgl und in Deutschland wahrscheinlich in Heinsberg.

Ein Fußballtrikot oder Cap mit der Aufschrift „Ischgl“ haben die Kinder nicht mehr getragen. Sie haben sich geschämt und sich wie Opfer von Mobbing gefühlt. Das ist eine sehr stigmatisierende Erfahrung, aber eben auch sehr individuell. Diese Heterogenität bedeutet auch, dass belastende Erfahrungen seltener mit anderen geteilt werden können, weil andere ganz anders betroffen sind. Man kann mit dem persönlichen Krisenerleben recht allein dastehen – was für die Bewältigung ungünstig ist.

Wie belastend ist die Coronasituation im Vergleich zu anderen krisenhaften Ereignissen, etwa dem Reaktorunglück von Tschernobyl? Wissen wir, wie die Kinder damals reagiert haben? Oder wie sie das langfristig verarbeitet haben?

Auf die Psyche wirkt die Covidkrise komplexer als die Katastrophe von Tschernobyl oder der Kalte Krieg. Denn auf einen Schlag hat sich in vielen Ländern das komplette Alltagsleben der Familien auf vielen Ebenen vollständig verändert. Das haben wir in diesem Ausmaß so noch nicht erlebt. Die Kriterien für ein traumatisches Ereignis sind, dass es plötzlich eintritt, nicht vorhersehbar und nicht allein bewältigbar ist. Das trifft alles auf Covid zu.

Diese Krise hat das Potenzial, dass sich Traumasymptome entwickeln können, und die sehen wir ja auch bei den Kindern: Angst, Stress, Zwang, Depressionen. Aber diese Krise ist noch umfassender. Sie gefährdet Arbeitsplätze von Zigtausenden. Sie hat diese familiären Ausnahmekonstellationen geschaffen – durch Quarantäne, durch Schulschließungen, durch Zusperren der Sportanlagen, die Nichterreichbarkeit des medizinischen Versorgungssystems für Routineuntersuchungen und keinen Zugang zu Psychotherapien.

Was würden Sie aus Erfahrung sagen: Wie werden sich die Kinder später an diese Zeit erinnern?

Das ist eine ganz entscheidende Frage. Zugleich finde ich sie momentan schwer zu beantworten. Denn es ist völlig unklar, ob die Pandemie in Europa im Herbst und im Winter so in Schach gehalten werden kann, dass wir keine zweite Welle und keine neuen Einschränkungen erleben. Wenn die Infektionszahlen nicht wieder stark ansteigen, ist diese Krise vielleicht auch etwas, was Kinder, die psychisch nicht stark betroffen waren, nur mit sehr ausgedehnten Ferien in Erinnerung behalten.

Es gibt ja auch Familien mit viel Platz und einem großen Garten, wo die Eltern – bei uneingeschränkter Lohnfortzahlung – einfach nur viele Wochen zu Hause waren. Und schon jetzt ist klar: Für manche Familien gab es durchaus positive Veränderungen: Es wurde mehr Kuchen gebacken. Die Mahlzeiten wurden liebevoller zubereitet. Es wurden mehr Spieleabende gemacht. Es wurde mehr mit den Großeltern, Onkeln oder Tanten geskypt. Es gab also kreative, innovative und schöne Ereignisse, auch für die Kinder.

Also liegt in der Coronakrise auch eine Chance?

Sie hatte doch bisher schon bei weitem viel mehr negative Auswirkungen. Aber sie hat auch einen massiven Anstoß zum Nachdenken bei Kindern und Jugendlichen gegeben: Was ist mir wichtig? Wie lebe ich? Wie kann ich auf Ressourcen achten? Das brachte einige zum Nachdenken darüber, wie wichtig es ist, nicht so viel zu fliegen – aus ökologischen Gründen und zum Schutz der globalen Gesundheit – und eben auch so profane Regeln zu berücksichtigen wie das tägliche Händewaschen.

Was würden Sie raten, wie Eltern mit ihren Kindern über die Coronakrise sprechen können?

Ich würde unterteilen. Hygienemaßnahmen und das Tragen eines Mundschutzes kann man ganz ruhig erklären und auch vormachen, genauso wie man den Kindern das Zähneputzen beibringt. In Gesprächen über die Coronapandemie sollte die Eltern es aber vermeiden, starke Sorgen und Ängste an die Kinder weiterzugeben.

Gerade Sachverhalte, die ungewiss sind, etwa eine drohende Kündigung, sollte man nicht ungefiltert erzählen. Familiengeheimnisse sind dagegen für die Entwicklung der Kinder ungünstig. Wenn also der Opa plötzlich das Coronavirus hat, muss man das allen Kindern sagen: „Ja, der Opa hat sich angesteckt, aber wir hoffen alle ganz fest, dass es ihm bald wieder gutgeht.“

Kathrin Sevecke ist Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und erforscht die Aus­wirkungen der Pandemie auf die Psyche von Kindern. In Hall und Innsbruck leitet sie die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2020: ​Toxische Beziehung
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